| # taz.de -- OFFEN Music-Chef Vladimir Ivkovic: Zukunftsmusik für 300 Jahre | |
| > Vladimir Ivkovic wurde in Belgrad geboren und floh vor den | |
| > Jugoslawienkriegen. Heute ist er DJ und Gründer der Labelplattform OFFEN | |
| > Music. | |
| Bild: Vladimir Ivkovic in seinem natürlichen Habitat | |
| Wo genau der Anfang von OFFEN Music liegt, das lässt sich nicht so leicht | |
| abstecken. Obwohl es heute als Düsseldorfer Label gilt, muss man viel | |
| weiter ausholen und zeitlich zurückgehen. Um zu verdeutlichen, dass die | |
| Geschichte des Labels hätte jäh enden können, bevor sie überhaupt begonnen | |
| hat. | |
| Im Jahr 1991 stand für den Labelchef Vladimir Ivkovic zwar noch lange nicht | |
| zur Debatte, überhaupt je Musik zu veröffentlichen, aber die Kriege auf dem | |
| Balkan begannen – und Ivkovic hätte als Soldat mittendrin sein sollen. „Es | |
| war eine seltsame Situation. Noch im Jahr davor war ich in Ljubljana bei | |
| Konzerten von US-Bands wie Jane’s Addiction und Babes in Toyland. | |
| „Dorthin fuhr ich aus Belgrad mit dem Zug und kam stets durch Zagreb“, | |
| erinnert sich Ivkovic. Seinen Eltern erzählte er gleichwohl, er sei bei | |
| Freunden zum Lernen. „Und plötzlich brach dieser ‚Bürgerkrieg‘ aus.“ | |
| Für Ivkovic, der 1973 in Belgrad, in der Hauptstadt Jugoslawiens, geboren | |
| wurde, eine Situation, die lebensbedrohlich war. „Ich hatte gerade meinen | |
| Schulabschluss gemacht und die Aufnahmeprüfung für die Uni bestanden. Und | |
| dann wurde meine Alterskohorte eingezogen.“ Als er von einem Schulkameraden | |
| erfuhr, dass auch seine Oberstufe mobilisiert werde – in eine Kaserne in | |
| der Nähe von Zagreb – war für Ivkovic klar, dass er nicht mitmachen werde: | |
| „Ich hatte schon bei Erich Fromm von ‚Ungehorsam‘‚ gelesen.“ | |
| ## Nein zum Krieg | |
| „Und daraus habe ich abgeleitet, eben nicht ‚Ja‘, sondern ‚Nein‘ zu s… | |
| So ging es am nächsten Tag statt in den Krieg – „um Menschen zu töten, mit | |
| denen ich vorher noch gemeinsam auf Konzerten war, bloß, weil ich in dem | |
| einen Teil des Landes und sie in einem anderen geboren wurden“ – zum | |
| Flughafen. | |
| Die längsten Minuten seines Lebens bei der Passkontrolle folgten; ihn | |
| rettete wohl die Tatsache, dass er jünger war als viele Klassenkameraden. | |
| Er wurde durchgewinkt und flog zunächst nach London aus und über Umwege | |
| nach Deutschland: In Bochum begann Ivkovic, Philosophie zu studieren. | |
| Das Label OFFEN Music gründete er dennoch nicht sofort im Herbst 1991, | |
| sondern erst viele Jahre später in Düsseldorf. In dieser Zeitspanne hörte | |
| er bei Musik genau hin, bildete seinen Geschmack weiter, begann zu | |
| deejayen. Im Jahr 2004 eröffneten drei Künstler, unter anderem [1][der | |
| Musiker Detlef Weinrich alias Tolouse Low Trax], in der | |
| NRW-Landeshauptstadt einen Club, der heute Legendenstatus hat: „Salon Des | |
| Amateurs“. Bald fing auch Ivkovic an, in dem Laden aufzulegen. | |
| Ob genau dann oder noch etwas später die Entscheidung zum eigenen Label | |
| fiel, lässt sich nicht genau datieren – auch nicht für Ivkovic selbst. Der | |
| besonnene DJ, der auf Partys und Festivals durch sein druidenhaftes | |
| Aussehen auffällt und schon mehrfach auf Jahresbestenlisten – etwa beim | |
| US-Online-Portal Resident Advisor – auftauchte, geht stur antistrategisch | |
| vor und lehnt Masterpläne explizit ab: „Es gibt keine vorgekauten | |
| (Presse-)Texte über OFFEN. Ich habe keine offizielle Vita. Niemand, nicht | |
| mal ich selbst, weiß genau, was das Label darstellen soll. Es gibt eine | |
| lose Idee davon, aber nichts Konkretes.“ | |
| ## „Jagd auf den Hirsch“ von Der Räuber und der Prinz | |
| Das ist keine Frage der Negation und der Verweigerung: „Sobald ich mein | |
| Konzept, meine Ideen niederschreibe, wird es unpassend. Jeder Satz ist dann | |
| einer über Gebühr.“ Grundlage der OFFEN-Klangästhetik bildete jedenfalls | |
| eine Veröffentlichung, die schlussendlich gar nicht auf dem Label landete: | |
| „Jagd auf den Hirsch“ von Der Räuber und der Prinz. Die Gruppe, die | |
| inzwischen in dem Berliner Projekt Die Wilde Jagd aufgegangen ist, hatte | |
| für Ivkovic einen besonderen Sound. | |
| „Rock für den Club“ nennt er ihren Stil, eher unfreiwillig. Das Konzept | |
| dazu gab es schon vorher, aber: „Diese Platte stammte aus meinem | |
| unmittelbaren Umfeld. Das war nichts Altes, was jemand ausgegraben hatte. | |
| Die Musik klang neu und lebendig.“ | |
| Da Ivkovic aber damals wie auch heute gleichzeitig Manager des | |
| Tech-House-Labels Desolat ist – und dem umtriebigen Labelchef Loco Dice die | |
| Musik von Der Räuber und Der Prinz mindestens genauso gut gefiel –, landete | |
| die Veröffentlichung unerwarteterweise dort, zwischen solchen von | |
| Houseproduzenten wie Jay Haze und DJ Sneak. Für Ivkovic kein Problem. | |
| Im Gegenteil: Es war der willkommene Anlass, um sich mit seiner eigenen | |
| musikalischen Vergangenheit auseinanderzusetzen: „Mitar Subotić war ein | |
| serbischer Underground-Musiker, der zum Bekanntenkreis meiner Eltern | |
| gehört. Seine Stücke waren immer präsent in meiner Jugend“, erzählt er. | |
| ## Platten für die Zukunft | |
| So wurde „In The Moon Cage“, das unter dem Pseudonym Rex Ilusivii erschien, | |
| die Katalognummer 001 von OFFEN. Noch zwei weitere Alben Subotićs sind | |
| mittlerweile erschienen. Auch Subotić kehrte dem verfehdeten und zerbombten | |
| Ex-Jugoslawien den Rücken. Für ihn ging es nicht nach Westeuropa, sondern | |
| nach Brasilien, wo er zum Star wurde. | |
| Simultan zur Musik aus der eigenen Biografie versucht Ivkovic, auch | |
| einzufangen, was in seinem Umfeld geschieht. Das spiegelt sich in den | |
| Veröffentlichungen [2][des Düsseldorfer Duos Toresch] wider und auch beim | |
| Synthesizer-Ambient-Jam „Metaclaw“ des Trios Reyenga, Nash und Beck. „Das | |
| gründete sich nach einem DJ-Abend von Tako Reyenga (Betreiber des | |
| Amsterdamer Labels Music From Memory; Anm.) im Salon des Amateurs.“ | |
| Bisweilen mäandernd, dann wiederum konkret und emotional, ist diese | |
| Veröffentlichung die Quintessenz eines Sounds, den Ivkovic selbst in den | |
| letzten Jahren populär gemacht hat: Mit den Texturen von Noise, Avantgarde | |
| und dem Industrial-Sound spielen und arbeiten, um Musik für den Dancefloor | |
| zu erschaffen. Inzwischen im Underground allgegenwärtig, schauten früher | |
| Menschen noch schief, wenn Ivkovic Musik der britischen | |
| Post-Industrial-Band Coil auflegte. | |
| Das eigene Label OFFEN ermöglicht es nun, Ivkovics Vorlieben und Vorbildern | |
| eine Bühne zu bieten: „Geins’t Naït sind meine Noise-Avantgarde-Helden. V… | |
| ihnen Werke zu realisieren bedeutet mir viel.“ Der neueste Streich, „Seven | |
| Diamond Lines“ von Tadi featuring DJKR, fördert noch eine weitere | |
| musikalische Facette des Labels zu Tage. Hinter dem Remix verbirgt sich ein | |
| 1800 Jahre altes Mantra. Diese Idee, dass man ein Artefakt schafft, welches | |
| die Jahrtausende übersteht, fasziniert Ivkovic. | |
| „Letztlich bringe ich Musik auf Platten raus, damit die in 300 Jahren | |
| Menschen oder andere Lebewesen, entdecken können. Festplatten und ähnliches | |
| werden dann schon lange futsch sein. Die Technik der Platte übersteht | |
| dagegen die Zeit.“ Es ist also schließlich egal, wann genau das Label | |
| seinen wahren Startschuss erleben durfte. Fakt ist: OFFEN Music ist eines | |
| der aufregendsten und eigentümlichsten Labels dieser unserer Tage. | |
| 19 Jul 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Franzoesisch-Deutsche-Experimentalmusik/!5752017 | |
| [2] /Compilation-zu-Postpunk/!5761854 | |
| ## AUTOREN | |
| Lars Fleischmann | |
| ## TAGS | |
| Musik | |
| Ex-Jugoslawien | |
| Techno | |
| elektronische Musik | |
| Düsseldorf | |
| Dancefloor | |
| Düsseldorf | |
| Pop | |
| Ethnologie | |
| Musik | |
| Abidjan | |
| Krautrock | |
| Musik | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Ambientkrautmusik von Philipp Otterbach: Schaum der Tage | |
| „The Dahlem Diaries“ heißt das Album Philipp Otterbachs, ex Düsseldorf, n… | |
| Berlin. Dort ergänzt er elektronische Musik entspannt verschroben. | |
| Dance-Duo Kinzua: Pfeifen im Ohr nach der Clubnacht | |
| Musikalisch schwer zu kategorisieren und doch auf dem Dancefloor zuhause: | |
| Das Berlin-Leipziger Duo Kinzua und sein Album „None of the Above“. | |
| Neues Album von Tolouse Low Trax: Langsamer fließen an der Seine | |
| Tolouse Low Trax ist von Düsseldorf nach Paris umgezogen. Der Musik auf dem | |
| neuen Album „Leave me Alone“ ist sein Ortswechsel sehr gut bekommen. | |
| Musikszene in Düsseldorf: Glasgow am Rhein ist modern | |
| Düsseldorfs neue Musikszene ist international konkurrenzfähig. Bands wie | |
| Stabil Elite berufen sich auch auf Krautrock-Traditionen. | |
| Musikethnologisches Projekt FLEE: Die nach den Tönen forschen | |
| Das Projekt FLEE mit Sitz in Paris verfolgt beim Urbarmachen von alten | |
| Klangarchiven und Feldaufnahmen aus aller Welt neue Ansätze. Ein | |
| Porträt. | |
| Neues Album von Vince Staples: Lass dich nicht ermorden | |
| Mit seinem gleichnamigen neuen Album hat Vince Staples sein bislang | |
| persönlichstes veröffentlicht. HipHop-Klischees geht er mit Humor aus dem | |
| Weg. | |
| Sounds für den Sommer: Von Aarhus bis Abidjan | |
| Vier Alben, vier Sounds: Neue Musik aus der großen weiten Welt von Ipek | |
| Yolu, dem Dagar-Gyil-Ensemble, Dobet Gnahoré und Samba Touré. | |
| Buch über Krautrock: Elektrifizierte Entnazifizierung | |
| Krautrock is coming home: „Spiegel“-Autor Christoph Dallach versammelt im | |
| Buch „Future Sounds“ Stimmen zur Oral History der deutschen | |
| Hippierockszene. | |
| Album „Jumping Dead Leafs“ von Tolouse Low Trax: Tradition trifft auf Exper… | |
| Mit „Jumping Dead Leafs“ veröffentlicht Detlef Weinrich sein viertes | |
| Soloalbum. Rausgebracht hat es das Kreidler-Mitglied in seiner Wahlheimat | |
| Paris. |