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# taz.de -- Musikszene in Düsseldorf: Glasgow am Rhein ist modern
> Düsseldorfs neue Musikszene ist international konkurrenzfähig. Bands wie
> Stabil Elite berufen sich auch auf Krautrock-Traditionen.
Bild: Viktoria Wehrmeister ist Decha
Hierzulande können der Popstadt Düsseldorf nur sehr wenige das Wasser
reichen. Ihre Erfolgsgeschichte, deren Wurzeln Jahrzehnte zurückreichen,
lässt sich nicht nur an Aushängeschildern wie Kraftwerk und Fehlfarben
schreiben. In deren Windschatten entstand immer spannende, widerständige
Musik.
Dies behält die NRW-Landeshauptstadt bis heute bei: So wirken rund um die
ansässige Kunstakademie und den Künstler*innentreff und Club Salon des
Amateurs immer noch eine erstaunliche Anzahl an Projekten und
Musiker*innen.
Das Label Themes For Great Cities gehört genauso dazu wie der
Dubstep-Produzent Orson und der Percussion-New-Age-House-Musiker Bufiman.
[1][Dem Düsseldorfer Label OFFEN haben wir uns an dieser Stelle bereits
gewidmet].
Bei allem berechtigten Applaus für das kreative Schaffen am Rhein, nach
nichtmännlichen Musikschaffenden muss man sich dort länger umschauen. Als
Galionsfigur gilt in Düsseldorf die Musikerin Viktoria Wehrmeister – die
derweil jegliche Vereinnahmung als Quotenfrau ablehnt. So was hat
Wehrmeister, die unter dem Pseudonym Decha beim Berliner Label Malka Tuti
veröffentlicht, auch gar nicht nötig.
## Superbilk all over the World
Die Mittfünfzigerin ist wichtig für die lokale Szene. Schon in den
Neunzigern veröffentlichte Wehrmeister mit der Band Superbilk zwei tolle
Alben, die auch außerhalb von Düsseldorf wahrgenommen wurden. Selbst
[2][NEU!-Drummer Klaus Dinger] wurde seinerzeit auf Wehrmeister aufmerksam
und engagierte sie für sein Projekt „la! NEU?“. Später spielte sie mit
Dingers Bruder Thomas bei 1-A Düsseldorf.
Dann wurde es leiser um die ebenso als Bildende Künstlerin tätige
Wehrmeister. Sie zog Kinder groß und arbeitete in der Kunstpädagogik. Bis
es, wie sie heute sagt, nicht mehr weiterging: „Die Kinder waren schon
größer, und ich merkte, ich musste raus aus der Situation. Ich hatte so
viel zu sagen und auszudrücken. Ich war wütend und brauchte dafür ein
Organ.“
Kurzentschlossen tat sich Wehrmeister mit Detlef Weinrich zusammen, den sie
noch aus den 1990ern von der Band Kreidler kannte – man hatte im selben
Gebäude Proberäume und sogar eine gemeinsame Single aufgenommen. So
entstand das Trio Toresch, neben Weinrich und Wehrmeister gehört auch der
Bildende Künstler Jan Wagner (der Wehrmeisters Ehemann ist) zum Projekt.
## Mach ma' alleine
Eine Liveversion mit dubbigen Synth- und Sample-Lines, fesselnden
Songtexten sowie eigens gefertigten Kostümen und Bühnenbildern entstand –
außerdem erschienen Werke beim Label OFFEN. Doch Weinrich, der für die
Instrumentals verantwortlich war, konnte auf Grund eigener Verpflichtungen
als Produzent, Musiker und DJ mit dem Tatendrang Wehrmeisters nicht
mithalten: „Detlef riet mir: Mach doch etwas alleine!“ Mit einem Tape-Gerät
und tausend Ideen komponierte Wehrmeister fortan eigene Songs und nahm sie
mit der Software Garageband auf.
Ein Alleinstellungsmerkmal: Sie singt spanisch. Wehrmeister wurde in
Mexiko-Stadt geboren und textet sich als Decha inzwischen durch mystische
Welten. [3][„La Vida Te Busca“ (2021)] und „Hielo Boca“ (2019) sind tol…
Lo-Fi-Alben, die kompromisslos und vielschichtig, geradezu alchemistisch
die spröden Sounds zusammenführen. Dechas sinistre Hermetik ist, wenn man
sich auf sie einlässt, das Markenzeichen ihres Undergroundprojekts.
Wehrmeister selbst wirkt dagegen lebensfroh und tatendurstig.
Angesprochen auf die Düsseldorfer Musikszene, resümiert sie, dass daran die
in der Innenstadt beheimatete Kunstakademie einen großen Anteil habe. Dort
kämen kreative, junge Leute zusammen, die stets etwas auf die Beine
stellen. „Ich habe das Gefühl, dass Musik als künstlerischer Ausdruck für
viele Kunststudent*innen an Bedeutung gewinnt. Früher gab es weniger
Studierende, die wie ich, auch Musik gemacht haben. Da hieß es noch: ‚Frau
Wehrmeister, so geht das nicht!‘ “
## Klingende Kunstakademie
Heute sei man in Düsseldorf stolz auf seine „klingende Akademie“:
Regelmäßig finden dort oder im benachbarten Salon Konzerte und
Veranstaltungen statt. Düsseldorf hat in Deutschland eine ähnliche Rolle
wie Glasgow in Großbritannien – bekannt durch seine Artschool-Szene.
Musiksozialisation im Kunstumfeld, die kennt auch der 36-jährige Nikolai
Szymanski – obwohl er 30 Kilometer rheinaufwärts an der Kölner
Kunsthochschule für Medien studierte. Das verzeiht man ihm in Düsseldorf
gern, ist er doch eine der prägenden Figuren der letzten 15 Jahre. Gerade
mit seiner Band Stabil Elite hinterließ Szymanski als singender Gitarrist
Spuren.
Die Neo-Krautband reüssierte Anfang der 2010er Jahre mit einer
vielbeachteten EP („Gold“, 2011) und einem gefeierten Album („Douze Pouze…
2012). Stabil Elite neben Szymanski aus Lucas Croon, Timo Hein und Martin
Sonnensberger bestehend, galt der Musikpresse seinerzeit als Aushängeschild
einer schicken, jungen Popszene. Nach dem zweiten Album „Spumante“ (2016),
dessen Rezeption für die Band enttäuschend schwach war („Wir mussten wieder
bei null anfangen, und der Aufwand war dafür zu groß geworden“), ging
Stabil Elite auf Tauchstation.
## Synthie-Inspiration aus Fernost
Szymanski nahm die bis heute andauernde Auszeit zum Anlass, das Soloalias
[4][AIRCHINA] zu lancieren. Auch wenn seine Musik inzwischen – wie etwa im
Auftaktsong „Drifting“ – durchaus an die polternde Eisenbahnfahrt des
Kraftwerk’schen „Trans Europa Express“ erinnert, orientierte sich
Szymanski vor allem an Musik aus Fernost: Er bezog seine Inspiration von
japanischen Synthie-Kompositionen – etwa jenen Ryuichi Sakamotos.
Das Debütalbum „LP1“ (2018) glänzt mit einem Spiel aus Klischees und
Verweisen von Vorbildern. Im Mittelpunkt des Musikmachens in
Alleinverantwortung stehen bei AIRCHINA der Einsatz einfacher
Digitalsynthesizer, zurückhaltende Spielhaltung, bewusste Repetition und
ein Verzicht auf Beats.
Eine neue Erfahrung im Vergleich zu Szymanskis früherer Karriere als
Mitglied einer Band. Vor Kurzem folgte mit dem Album „LP3“ der Übergang in
eine reifere Phase. Während AIRCHINA als Soloprojekt startete – in
Abgrenzung zum einvernehmlichen Arbeiten im Bandgefüge –, sehnt sich
Szymanski zusehends wieder nach den Möglichkeiten des gemeinsamen
Produzierens. Anteil daran hat nicht nur – wie er betont – die
Konzentration fantastischer Musiker:Innen in Düsseldorf, sondern auch
sein Studionachbar Aki Vierboom; selbst eine der wichtigsten jungen Stimmen
der Stadt.
## Ein Kollektiv namens Candomblé
Vierboom ist dem kommunikativen Arbeiten zugetan. Er spielt in mehreren
Gruppen und ist Teil eines Kollektivs, das mittlerweile seine Spuren
hinterlassen hat: Candomblé. Ursprünglich sollte es ein Modelabel werden –
ins Leben gerufen von Arisona Kaschiel Hampl und Philipp Tegtmeier-Lopes.
Nach und nach kamen neben Gregor Darman und Vierboom (die sich als Duo
Phaserboys nennen) auch Timo Speaker alias DJ Ungel und Jannes Becherer aka
Jay Hoenes dazu.
Statt Kleidung zu entwerfen, organisierte das Kollektiv zunächst Partys und
veröffentlicht inzwischen Schallplatten. Was mit EPs und tanzbarem
Undergroundsound, geprägt von Breakbeat und Electro begann, klingt mit
tribalistischen Anflügen inzwischen verteufelt wild. [5][Mittlerweile
werden auch Alben veröffentlich]t. Diese schielen indes weniger Richtung
Dancefloor, sondern zeichnen sich durch eine wunderbar flockige Poppigkeit
und Crazyness aus. Neben der Berliner Combo Das Wettbüro gilt vor allen
Dingen das Düsseldorfer Quartett LSW (Life Style West) als Aushängeschild
von Candomblé.
Die Band – neben den Labelbetreibern Vierboom und Darman, gehören Sebastian
Welicki und Leonard Horres zur Besetzung – klingt nach
Post-Krautrock-German-Boogie-Ballonseiden-Pop längst vergangener Epochen.
Verwandtschaft besteht etwa zum Sound von Der Plan.
## Ungeschliffen, elegant, wirr und luzide
Doch Life Style West haben sich nicht der Nostalgie verschrieben, sie sind
modern, cool und gewagt. In den elf Songs von [6][„Mir tut alles weh“], dem
neuen Album, wirken Komplexität und sphärischer Hintergrund, ungeschliffene
Rohheit und nächtliche Eleganz, wirre und zugleich luzide Texte zusammen –
und erzeugen einen Sog.
Sie singen meist auf Deutsch, trotzdem klingt alles sehr international und
über den Tellerrand hinaus. Das Besondere an Düsseldorf: Mit der
Kunsthochschule haben die Jungs von Candomblé nur am Rande zu tun – auch
das ist möglich in der Großstadt am Rhein.
12 Jan 2023
## LINKS
[1] /OFFEN-Music-Chef-Vladimir-Ivkovic/!5784376
[2] /Zum-Tod-des-Musikers-Klaus-Dinger/!5183206
[3] https://malkatuti.bandcamp.com/album/la-vida-te-busca
[4] https://airchina.bandcamp.com/
[5] http://candomble.zone/
[6] https://candomble.bandcamp.com/album/mir-tut-alles-weh
## AUTOREN
Lars Fleischmann
## TAGS
Pop
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Album
Düsseldorf
Buch
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Underground
Düsseldorf
Musik
Kraftwerk
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