| # taz.de -- Ambientkrautmusik von Philipp Otterbach: Schaum der Tage | |
| > „The Dahlem Diaries“ heißt das Album Philipp Otterbachs, ex Düsseldorf, | |
| > nun Berlin. Dort ergänzt er elektronische Musik entspannt verschroben. | |
| Bild: Liebes Tagebuch, Ladies and Gentlemen: Philipp Otterbach | |
| Der deutsche Buchpreisträger Frank Witzel tut es, Astrid Lindgren tat es | |
| genauso wie Kurt Cobain: Tagebuch führen scheint in Zeiten von Instagram | |
| ein Atavismus. Heute zeigt man gleich der ganzen Welt, was man so denkt und | |
| erlebt hat; früher musste man sich dafür hinsetzen und sogar nachdenken. | |
| Der Wahlberliner Philipp Otterbach (*1979) setzt sich zwar auch hin, aber | |
| weder vor das Smartphone noch vor die ledergebundene Kladde. Sein Tagebuch | |
| wird am PC „verfasst“, mit einer Digital Audio Workstation, auf der er | |
| Samples, Synthesizerklänge und Gitarrensounds hin- und herschiebt. | |
| Das Ergebnis dieser Arbeit wurde kürzlich bei dem Amsterdamer Label Music | |
| From Memory veröffentlicht und auf den Namen „The Dahlem Diaries“ getauft. | |
| Die zwölf Stücke des Albums versperren sich dennoch einer allzu direkten | |
| Deutung. | |
| ## Choräle aus der Maschine | |
| Wenn sich im Stück „Small Town Nights“ unheimliche Atmosphären, | |
| Synthesizerschnipsel, Choräle aus der Maschine und gitarrengetragene | |
| Melodien auf einer Spielzeit von sechs Minuten paaren, dann ist das zwar | |
| alles an einem Tag so in Form gegossen worden, aber gleichzeitig Ergebnis | |
| eines Monate und Jahre andauernden Schleifprozesses. | |
| Teilweise, so erklärt Otterbach auf Nachfrage, habe er die Stücke bereits | |
| vor acht Jahren begonnen. Danach habe er immer wieder an ihnen geschraubt, | |
| neue Facetten hinzugefügt und andere verworfen. Betrachtet man dieses | |
| Finetuning, dann stellt sich schon die Frage, was denn nun der | |
| Tagebuchanteil dieser „Tagebücher aus Dahlem“ sei. Wo konstant an Tracks | |
| gearbeitet wird, da kann doch gar kein Alltagsrest abgebildet werden, oder? | |
| Man muss es ernst nehmen, wenn Otterbach schreibt: „Einen Tag später würden | |
| die Stücke wieder anders klingen.“ So sind die sich langsam aufbäumenden | |
| kristallinen Klänge des Synthesizers, die „Glottischlag“ eröffnen und | |
| gleich mehrfach darin wiederkehren, zwar Ergebnis eines langen | |
| Entstehungsprozesses, aber in ihrer finalen Form doch Abdruck des einen | |
| Tages. | |
| ## Erlebnisse vom Vortag | |
| Wie Träume, die sich aus den Erlebnissen vom Vortag speisen, mäandert das | |
| Dutzend Tracks über die Spielzeit von ziemlich genau einer Stunde durch | |
| unbewusste Tiefen. Bei „Solid Maybe“, das sich auf Spurensuche bei | |
| Krautrock, Tangerine Dream, Gary Numans Plattensammlung und Neil Youngs | |
| Soundtrackarbeiten bis zum Neo-Kraut der Kölner Von Spar begibt, ist ein | |
| hoffnungsvoller Enthusiasmus greifbar. | |
| Die Vierminutennummer „Half Brain Naked“ wirkt da schon deutlich schlechter | |
| gelaunt. Statt [1][Krautrock] wird hier Alternative Rock der Neunziger | |
| hinter Hallwänden versteckt, was wiederum dann doch Assoziationen an | |
| [2][Mazzy Star] und [3][PJ Harvey] weckt. | |
| Trotz Formenvielfalt klingt der Sound von „The Dahlem Diaries“ sogar sehr | |
| rund, trotz seiner Ecken und Kanten wie ein psychedelisches | |
| Experimentalwerk mit genügend Pop-Appeal für die kultivierte | |
| Cocktailbarbeschallung. | |
| Was vor allen Dingen jene überrascht, die Otterbachs Debütalbum auf dem | |
| Berliner Label R.i.O. ihr Eigen nennen: Damals verstörte [4][der ehemalige | |
| Resident-DJ des Düsseldorfer Salon des Amateurs] mit krachigen | |
| Post-Dancetracks, die durchaus das Schockpotenzial von Black Metal für sich | |
| in Anspruch nehmen durften. | |
| Vielleicht war es der Tapetenwechsel vom Rhein an die Spree, der zur neuen | |
| Stimmung beitrug. Wie der Titel bereits verrät, sind „ein paar … Aufnahmen… | |
| im verschlafenen Westberliner Dahlem entstanden. Das scheint sich nun im | |
| Nachhinein als vortreffliches Antidepressivum herauszustellen: „The Dahlem | |
| Diaries“ ist ein ergreifendes Avantgardealbum voller leuchtender Melodien | |
| und Momente. | |
| 26 Sep 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Zum-Tod-des-Musikers-Klaus-Dinger/!5183206 | |
| [2] /Dream-Pop-von-Hope-Sandoval/!5025455 | |
| [3] /Neues-Musik-Album-von-PJ-Harvey/!5946943 | |
| [4] /Musikszene-in-Duesseldorf/!5908190 | |
| ## AUTOREN | |
| Lars Fleischmann | |
| ## TAGS | |
| Düsseldorf | |
| Neues Album | |
| Elektronik | |
| Berlin-Wedding | |
| Buch | |
| Kolumne Großraumdisco | |
| Pop | |
| Musik | |
| Generalstreik | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Buch über Kölner Avantgarde: Jammern auf hohem Niveau | |
| Das Buch „Wir waren hochgemute Nichtskönner“ will über Kölner Subkulturen | |
| der 1980er und 90er Jahre erzählen. Geht das Konzept auf? | |
| Konzert von Wolvennest und E-L-R: Selbst die Blumen sind tot | |
| Im Berliner Privatclub beweisen Wolvennest und E-L-R, wie Teufelszeug, | |
| Hokuspokus und Brachialmusik heutzutage für Ruhe sorgen können. | |
| Musikszene in Düsseldorf: Glasgow am Rhein ist modern | |
| Düsseldorfs neue Musikszene ist international konkurrenzfähig. Bands wie | |
| Stabil Elite berufen sich auch auf Krautrock-Traditionen. | |
| OFFEN Music-Chef Vladimir Ivkovic: Zukunftsmusik für 300 Jahre | |
| Vladimir Ivkovic wurde in Belgrad geboren und floh vor den | |
| Jugoslawienkriegen. Heute ist er DJ und Gründer der Labelplattform OFFEN | |
| Music. | |
| Französisch-Deutsche Experimentalmusik: Weiter an der Seele feilen | |
| „Jours de Grève“ heißt das Album des Produzenten Detlef Weinrich und der | |
| Folkkünstlerin Emmanuelle Parrenin. Es besticht durch Willen zum | |
| Experiment. |