# taz.de -- Musikalisches Erbe von Florian Schneider: Weißkittel im Kling-Klan… | |
> Das Echo auf den Tod von Kraftwerk-Superhirn Florian Schneider war | |
> immens. Er verkörperte gleichsam den reinen Experimentiergeist der Band. | |
Bild: Sie sind die Roboter: Florian Schneider und Ralf Hütter in den frühen 1… | |
Selbst das Ende wird noch zum Teil der Kraftwerk’schen Mythenmaschine: Erst | |
nach tagelanger Gerüchteküche wurde vergangenen Mittwoch der [1][Tod von | |
Florian Schneide]r bestätigt. Das internationale Echo auf sein Ableben war | |
immens: Von Hamburg und Berlin bis München, von New York und Detroit bis | |
London und Manchester huldigte man dem Mitbegründer der „industriellen | |
Volksmusik“, wie Kraftwerk ihre elektrifizierte Krautrockabspaltung | |
nannten. | |
Für die britische Tageszeitung Guardian war die Nachricht front-page news, | |
auf der Website des Londoner Labels Mute erinnert sich Label-Gründer Daniel | |
Miller seines Freundes, und in den sozialen Medien verbeugte sich Mike | |
Banks im Namen von Underground Resistance samt der [2][Detroiter | |
Techno-Gemeinde]. Konsens über die bahnbrechende Bedeutung von Schneiders | |
Lebenswerk herrschte allenthalben selbst in den deutschen Feuilletons, die | |
seinen Nachrufen weit mehr Platz einräumten als den Aktivitäten von | |
Kraftwerk während der letzten zehn Jahre. | |
Zu den Mythen, die sich um die Gruppe aus Düsseldorf ranken, gehört die | |
Überzeugung, dass Florian Schneider eigentlich die wahre Verkörperung von | |
Kraftwerk sei, während Ralf Hütter als Nachlassverwalter einer längst | |
überflüssigen Nostalgieshow gilt. Das stimmt so zwar nur bedingt, erklärt | |
aber sicherlich die Reverenz, mit der man Schneider in den Nachrufen | |
begegnete. Er verkörperte gleichsam den reinen Experimentiergeist von | |
Kraftwerk, die in der zweiten Hälfte der 1970er der gesamten Popmusik eine | |
neue, nämlich elektronische Richtung vorgaben. | |
## Tüftler, Bastler, Techniker | |
Schneiders Part war der des Tüftlers, Bastlers, Technikers – quasi der Mann | |
im weißen Kittel im Kling-Klang-Labor von Kraftwerk. Verantwortlich war er | |
vor allem für die Sprachsynthese, die heute zum Allgemeingut des Pop | |
geworden ist, jedoch damals nichts Geringeres als eine Revolution war. Das | |
ambitionierteste Album Kraftwerks, „Radio-Aktivität“ (1975), trägt den | |
Soundstempel von Schneider am deutlichsten: ein Avantgarde-Hörstück, das | |
die elektronischen Sprachforschungen eines Werner Meyer-Eppler sowie | |
Stockhausens Klangexperimente im Umfeld des legendären WDR-Studios für | |
elektronische Musik auf eine populärkulturelle Ebene transferierte. | |
Erkennbar geprägt hat Schneider auch das Album „Computerwelt“ (1981) durch | |
seine Faszination für die Gadgets der späten 1970er und 1980er Jahre, | |
welche in der Tat auf spielerische Weise den Anbruch einer neuen Ära | |
ankündigten. Der gnadenlos hämmernde Track „Nummern“ als Vorwegnahme von | |
Techno ergab sich durch ein Experiment mit einem Frequenzshifter, die | |
Anschaltmelodie seines Texas Instruments „Speak & Spell“-Geräts bauten | |
Kraftwerk kurzerhand in „Computerwelt“ ein. Eine | |
Alltagstechnologie-Apotheose wie „Taschenrechner“ ist reiner Schneider. Und | |
veritable Prophetie: Portable Rechner mit Digitalkamera und Telefonfunktion | |
haben heutzutage alle in ihrer Tasche stecken. | |
## Prophetische Warnung | |
„Computerwelt“ war zugleich eine prophetische Warnung vor staatlicher | |
Überwachung, der gegenwärtig alle ausgesetzt sind. Hütter erklärte das Ziel | |
von [3][„Computerwelt“] einmal so: „Wir wollen Strukturen transparent | |
machen, es ist eine Provokationstechnik. Man muss nämlich seinen Standpunkt | |
klarmachen, um Dinge ändern zu können. Indem wir Entwicklungen transparent | |
machen, können reaktionäre Strukturen zusammenbrechen.“ | |
Die Textzeile „Am Heimcomputer sitz ich hier / Programmier die Zukunft mir“ | |
konnte Florian Schneider schreiben, da er einen solches Gerät bereits | |
besaß, als es für Normalsterbliche noch unerschwinglich war. Mehr noch als | |
Ralf Hütter entstammte er einem betuchten Haushalt. Seine Mutter Evamaria | |
war, in der Diktion des Unmenschen, eine „Halbjüdin“, die Lyrik schrieb. | |
Sie heiratete 1946 den Architekten Paul Maximilian Heinrich Schneider von | |
Esleben, der solch ikonische Bauten des Wirtschaftswunders erschuf wie den | |
Flughafen Köln-Bonn (der Brian Eno bekanntlich zu seinem Ambientalbum | |
„Music for Airports“ inspirierte). | |
Schneider wuchs mit einem großbürgerlichen Lebensstil auf, zu dem Yacht und | |
Ferienhaus in Südfrankreich gehörten. Bei den Künstler-Soirees in der Villa | |
von Schneider-Esleben waren Beuys und andere Lichtgestalten der | |
Düsseldorfer Kunstakademie zu Gast. Zweifellos ein Privileg, womöglich aber | |
auch ein Fluch. | |
Vermutlich wird es im Großbürgerhaushalt auch Dienstkräfte gegeben haben; | |
als solche jedenfalls behandelten Schneider wie Hütter ihre | |
Kraftwerk-Mitstreiter Karl Bartos und Wolfgang Flür, die Wesentliches zu | |
den Platten der „klassischen Phase“ von 1974 bis 1981 beitrugen und später | |
aus der Geschichte der Gruppe weitgehend ausradiert wurden. Auch im Fall | |
des ersten Produzenten Conny Plank wie bei Emil Schult, der das | |
Gründungsgespann als inoffizielles Bandmitglied langjährig künstlerisch | |
beriet, verfuhren Hütter und Schneider autokratisch. | |
## Das Kernduo als Gilbert & George | |
Das Kernduo war ein Gespann wie Jagger/Richards, Lennon/McCartney oder | |
Gilbert & George – Herr Kling & Herr Klang, Hütter und Schneider brauchten | |
sich gegenseitig, Kraftwerk war ihr Gemeinschaftswerk. Für ungefähr sechs | |
Monate im Jahr 1971 war Florian Schneider sogar alleiniger Chef von | |
Kraftwerk; Hütter hatte die Band vorübergehend verlassen, um sein | |
Architekturstudium zu beenden. Dass Schneider seinem Kollegen mit der Zeit | |
die Rolle des Sängers und Bandsprechers überließ, war wohl nicht dem | |
Dominanzstreben Hütters geschuldet, sondern eher der erkennbaren | |
Menschenscheu von Schneider. | |
Florian Schneider entsprach dem Typus des Nerds, der sich obsessiv auf | |
bestimmte Sondergebiete kaprizierte. So wie die Sprachsynthese, in der er | |
eine derartige Expertise entwickelte, dass führende Forscher seinen Rat | |
suchten. Oder das Rennradfahren: Nachdem er die „Radsportgruppe Schneider“ | |
gegründet hatte, investierten er und Hütter ab den 1980er Jahren mehr Zeit | |
und Energie ins Fahrradfahren als ins Musikmachen. | |
Schneiders Abneigung gegen das Touren und seine Bühnenscheu brachte die | |
Band allerdings immer wieder in die Bredouille. Bei einem Auftritt in | |
Melbourne während der Welttournee zu „Computerwelt“ setze er sich einfach | |
in die erste Reihe und musste erst durch Zureden bewegt werden, das Konzert | |
zu spielen. Vermutlich kein Zufall ist der Umstand, dass Kraftwerk, kaum | |
dass er die Band um 2008 offiziell verlassen hatte, unter Hütters Ägide auf | |
eine gleichsam [4][never ending tour] gingen. Sei es, weil nun endlich die | |
Bahn frei war, sei es, um das Geld für Schneiders Abfindung wieder | |
hereinzuholen. | |
## Angebliches neues Album | |
Nur spekulieren kann man darüber, ob Schneider einfach das Interesse verlor | |
daran, Mitglied einer Band zu sein, die keine neue Musik mehr machte. | |
Anderseits veröffentlichte er – bis auf den musikalisch wenig berauschenden | |
Track „Stop Plastic Pollution“ (2015) – keine neue Musik mehr. Angeblich | |
soll er ein ganzes Album aufgenommen haben, veröffentlichte es aber aus | |
Angst vor negativer Kritik nicht. Seine letzte Tat für Kraftwerk waren die | |
synthetischen Vocals für „Expo 2000“ von 1999. Am 2003er Studioalbum „To… | |
de France“ scheint er kaum noch mitgearbeitet zu haben. | |
Was bleibt von Florian Schneiders Werk? Die in bester britischer Naivität | |
vergiftete Hommage von David Bowie, der ein Instrumental seines Albums | |
„Heroes“ mit „V2 Schneider“ betitelte? Die von Iggy Pop erzählte Anekd… | |
vom gemeinsamen Spargelshopping in Düsseldorf? Nein, was bleibt, ist das | |
von Ralf Hütter bis heute fortgeführte popmusikalische Gesamtkunstwerk | |
Kraftwerk, die musikalische Mensch-Maschine aus Düsseldorf, die sich als | |
der bedeutendste deutsche Beitrag zur transnationalen Sprache des Pop | |
erwiesen hat. | |
Wer also Florian Schneider die Ehre erweisen möchte, sollte das | |
atemberaubende audiovisuelle Spektakel eines Kraftwerk-Konzerts besuchen, | |
solange Ralf Hütter noch am Leben ist, und darüber staunen, was es da zu | |
hören und zu sehen gibt. | |
12 May 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Nachruf-auf-Florian-Schneider-Esleben/!5683501/ | |
[2] https://www.youtube.com/watch?v=jdjEqP6mhV4 | |
[3] https://www.youtube.com/watch?v=QE5KIsgcj8k | |
[4] /Elektronische-Tanzmusik-im-Museum/!5024546/ | |
## AUTOREN | |
Uwe Schütte | |
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