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# taz.de -- Dance-Duo Kinzua: Pfeifen im Ohr nach der Clubnacht
> Musikalisch schwer zu kategorisieren und doch auf dem Dancefloor zuhause:
> Das Berlin-Leipziger Duo Kinzua und sein Album „None of the Above“.
Bild: Klingt wie nichts dergleichen: Lucas Brell und Marvin Uhde sind Kinzua
Ein halbes Jahrhundert ist es her, dass Patti Smith aus der „Pissfactory“
grüßte, einer Fabrik für Kinderspielzeug, in der die US-Künstlerin jobbte,
bevor sie [1][zur „Godmother of Punk“] wurde. Wortgewandt und poetisch
changierte sie in dem Song, der zunächst ein Gedicht war und dann 1974 zur
B-Seite ihrer Debütsingle wurde, zwischen marxistischen Theorien und dem
fehlenden Enthusiasmus der Arbeiter*innen beim Begreifen von Haupt- und
Nebenwidersprüchen.
Ganz so programmatisch geht es beim Debütalbum des Duos Kinzua im Jahr 2023
nicht zu. „None of the Above“, [2][veröffentlicht beim Düsseldorfer Label
Offen Music,] kommt – abgesehen von Album- und Songtitel – sogar gänzlich
ohne Texte aus. Dennoch grüßen Lucas Brell und Marvin Uhde auf gewisse Art
und Weise aus einer anderen Pissfabrik, einem umgenutzten ehemaligen
Pissoir. In Berlin nannte man solche öffentlichen Toiletten viele
Jahrzehnte „Klappe“.
Im Laufe der Zeit wurden diese Klappen primär Zufluchtsort für Homosexuelle
Menschen (vornehmlich Männer), die, verfolgt von Staat und Gesetz, an
solchen Orten eine Möglichkeit zum anonymen, schnellen Sex fanden. Manch
einer traf dort auch die große Liebe; das ist aber ein anderes Thema.
## „Zur Klappe“ auf dem Mittelstreifen
Eine solche Klappe liegt auf dem Mittelstreifen der großen Yorckstraße im
Berliner Stadtbezirk Kreuzberg und dient inzwischen als ungewöhnlicher
Techno-Club: Mickrig, heiß, laut, ungezügelt. Programmmacher ist Lucas
Brell, die eine Hälfte von Kinzua. Die andere ist Marvin Uhde,
Wahl-Leipziger, als DJ unter dem Pseudonym Qnete bekannt, und im Nebenberuf
Besticker von Sweatshirts und Kappen. Accessoires, denen in der Clubszene
besondere Beliebtheit zuteilwird.
„None of the Above“, auf Deutsch: „Nichts dergleichen“ ist als Titel
zutreffend. Der Unwillen, kategorisiert zu werden, ist der Musik von Kinzua
bereits von Beginn an eingeschrieben. Entsprechend ist es nur bedingt
richtig, dass der Club „Zur Klappe“ direkten Einfluss auf die Musik nimmt �…
sehr wohl stimmt aber, dass sich die sanft hinausschwappenden Wellen des
Nachtlebens im Sound von Kinzua widerspiegeln und nachwirken.
Wenn bei „Once“ der Bass-Synth grummelig das Solo spielt, nur um den
(Post-)Industrial-Samples, die bisweilen an Bands wie [3][Psychic TV] und O
Yuki Conjugate erinnern, ein Bett zu sein, dann meint man im Hintergrund
den spätmorgendlichen Tinnitus zu erhaschen.
Gleichsam hat man nicht mehr als anderthalb Minuten Zeit, um überhaupt
einzutauchen: So plötzlich, wie der Track gestartet ist, verstummt seine
Miniatur wieder. 17 Stücke bieten Kinzua – die meisten machen sich zwischen
zweieinhalb und fünfeinhalb Minuten breit und bleiben nachhaltig im
Gedächtnis haften.
Neben „Once“ gibt es auch eine Skizze namens „Drop“: ein wildes Brimbor…
aus kratziger Percussion und einem launigen Arpeggiator. So unterschiedlich
gerade die beiden Kurzformate klingen, so sehr rahmen sie den Sound dieses
Albums, der gewollt schwer zu fassen ist. Für Postpunk klingt Kinzuamusik
zu weit weg vom Songformat, für (Post-)Industrial hingegen zu wenig
konfrontativ; Techno will die Musik der beiden Produzenten auch nicht sein,
verweigert sie sich doch den klassischen Drumsettings aus den Maschinen.
Für elektronische Avantgarde fehlt ihr hingegen der Wille zum …
Avantgardismus. Diese Chimärenhaftigkeit steht der Musik umso besser:
unklar, schleierhaft und bisweilen das Echo einer greifbaren Idee –
flirrend, schimmernd, frei flottierend in der Pissfabrik.
5 May 2023
## LINKS
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[3] /Nachruf-auf-Genesis-P-Orridge/!5671745
## AUTOREN
Lars Fleischmann
## TAGS
Dancefloor
Berlin-Kreuzberg
Leipzig
R&B
Leipzig
Techno
Musik
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