Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Technoalbum von Berliner Produzent Shed: Trockenlegung der Feuchtge…
> Treffen im Oderbruch: Wie Technoproduzent Shed auf seinem neuen Album
> „Towards East“ ostdeutsche Wurzeln in unnachahmlichen Klang überführt.
Bild: Gefühl und Härte: der Berliner Technoproduzent Shed
Techno ist nicht systemrelevant. Genauso wenig wie atmungsaktive Socken
oder bauchfreie T-Shirts. Elektronische Tanzmusik ist ein zeitvertreibendes
Schmiermittel, um den Transit von der Nacht bis zum nächsten Tag flüssiger
zu gestalten. Vielleicht auch basslastiger oder breakbeatiger. Dass Musik
für eine durchtanzte Nacht schnelllebig sein kann – geschenkt.
Nächtliche Klangatmosphäre vibriert eh nur nach, wenn nicht ständig – Dr.
Motte, bitte zum OP – ein Quacksalber Arztromane dazu dichtet. Oder – noch
schlimmer – er jammervolle Rave-Paraden veranstaltet, auf denen Corona und
Nationalsozialismus verharmlost werden – Dr. Motte, bitte sofort zum OP.
Von den größenwahnsinnigen Auswüchsen des Berliner Nachtlebens ist Shed
Lichtjahre entfernt. Und beim Gedanken an dessen durchkommerzialisierte und
totmedialisierte Oberflächlichkeit schlägt er nur die Hände über dem Kopf
zusammen.
## Keine Herzchen zeigen
„DJs sind Nerds. Eigentlich bleiben Nerds unter sich, kümmern sich nur um
ihre Musik. Möglicherweise interessiert sich die Außenwelt für sie, Leute
tanzen zu ihrer Musik. So wird’s gegensätzlich und interessant. Bei mir ist
der Knackpunkt: Kucken die Leute beim Deejayen zu? Tun sie’s, ist das für
mich nicht nachvollziehbar. Ich interagiere nicht mit denen und zeige keine
Herzchen. Man ist DJ und spielt Musik, dann wahrscheinlich noch nicht mal
die eigene, was soll dann dieses Rumgefaxe? Früher haben wir sogar einen
Vorhang zugezogen, damit den DJ bloß niemand sieht. Dann hat er gebrezelt
und gut war’s gewesen.“
Shed heißt eigentlich René Pawlowitz, ist 1975 in Frankfurt (Oder) geboren
und in Schwedt an der Oder aufgewachsen. Er gehört zur zweiten Berliner
Technogeneration. Kurz nach der Wende kam er in die Stadt und entdeckte den
legendären Kreuzberger Techno-Plattenladen Hardwax, in dem er später auch
selbst arbeitete, als er längst in Berlin lebte.
Heute wird sein eigener Sound im Hardwax wie ein Subgenre als „Sheddism“
bezeichnet, eine seltene Ehre für ein Eigengewächs. „Techno hat mich aus
dem Kleinstadtmief geholt. Ich bin mit dem Zug nach Berlin gefahren, musste
vom Kottbusser Tor bis fast ans Ende der Reichenberger Straße laufen, wo
sich der Laden damals befand. Um 1990 durch Kreuzberg 36 zu laufen, war für
mich ein echtes Abenteuer. Selbst wenn es im Westen in einer Kleinstadt als
ähnlich empfunden werden mag, das Provinzielle im Osten war noch mal
lähmender. Da gibt es nichts weiter. Da musste ich raus. Ich bin immer noch
am Kämpfen mit meiner Vergangenheit und gerade auch mit den Menschen, die
ich selber kenne.“
## Hermetische Geschäftsphilosophie
Aus dem [1][Hardwax] mitgenommen hat er neben den stilbildenden Platten,
etwa vom Chicagoer Produzenten Robert Armani, auch die hermetische
Geschäftsphilosophie: „Nicht jeden Zug mitzunehmen, den man kriegen kann.
Und auch nicht auf Teufel komm raus der Erfolgreichste zu sein, den es
gibt.“
Bewusste Anonymität und Informationsverweigerung laufen geradewegs in die
Formstrenge des Sounds. „Wenn man dort arbeitet, macht man vielleicht
automatisch Musik, die auf diesem Modell basiert.“
Trotzdem hat sich Shed inzwischen auch wieder ein Stück vom Hardwax
emanzipiert, auch wenn er eng verbunden bleibt, unter diversen Pseudonymen
immer wieder gigantische, entsprechend dem [2][Hardwax-Ideal] genormte
„DJ-Tools“ veröffentlicht, beschäftigt er sich in letzter Zeit wieder öf…
mit seinen ostdeutschen Wurzeln. Auch in seiner Musik tauchen sie auf,
spielerisch und unnachahmlich lakonisch, wie sie klingt.
## Weitgehende Stille
Wir befinden uns im Garten einer Gaststätte, nahe Golzow im Oderbruch, etwa
70 Kilometer östlich von Berlin an der Grenze zu Polen. Ab und an fährt ein
Trecker vorbei, sonst ist es weitgehend still. In der Gegend bewohnt Shed
zeitweilig ein altes Häuschen, in dem inzwischen auch sein Studio
untergebracht ist. Nach wie vor braucht er zwar Berlin als kreativen Input
und Großstadtlabor, wo er am Strausberger Platz wohnt.
Wenn man von dort aus die Karl-Marx-Allee einfach weiter in östlicher
Richtung fährt, landet man direkt im Oderbruch. Hier, in der steppenartigen
Weite, in der die Landschaft superflach ist und die Oder extrem breit,
kommt Shed zur Ruhe. Manchmal zumindest. „Die Eintönigkeit kann auch
stören. Anfänglich habe ich immer das Radio angemacht, weil’s mir zu ruhig
war. Mittlerweile habe ich das Gefühl, ich darf das Radio nicht mehr
aufdrehen, weil ich sonst was kaputtmache. Ich störe die Natur jetzt, indem
ich hier bin. Dann setze ich mich hin, genieße die Landschaft und den Wind.
Wenn die Vögel durch sind, im Frühjahr, gibt es so einen Moment, wo die
aufhören zu singen. Das ist gruselig, auf einmal ist es totenstill. Hat was
Cooles.“
Sheds neues Album heißt „Towards East“ und schließt musikalisch da an, wo
das fürs Berghain-Label Ostgut Ton entstandene Vorgängerwerk „Oderbruch“
(2019) aufgehört hat. Akustische Landschaftsbeschreibungen ohne jede
Romantisierung. „Menschen und Mauern“ hieß einer dieser Tracks von 2019,
der entschlossen und sanft zugleich bebte.
## Bebende Härte
Die bebende Härte ist auf dem neuen Album geblieben, aber sie ist nun noch
stärker mit impressionistischen Einsprengseln und kühlen,
zurückgenommen-melodischen Hooks versehen. Wie in dem eleganten
Teilchenbeschleuniger „Conditions of Time“ und dem apokalyptischen
Klopfzeichen „Absolute Deviation“. Das Kaputte, Sinnlose, Brutale und
Abgefuckte der Welt dringt aus jeder Pore von Sheds Musik, aber auch der
Wunsch, deshalb trotzdem nicht die Suche nach Schönheit einzustellen.
Das Komplizierte im Schönen und das Weiche im Harten, alles wird hörbar und
nichts kaschiert. „In meiner Musik muss immer ein Element sein, was das
Harte ad absurdum führt. Oder zumindest etwas Dampf davon ablässt. Eine
brachiale [3][Bassdrum] darf mit einer schönen Melodie verbunden sein.“
Das Verblüffendste an Sheds Soundsignatur ist der subsonische Bass, den man
nur spürt, aber nie bewusst hört. Man erkennt ihn sofort und zwar dann,
wenn seine Tracks mit anderen Stücken gemixt werden. Der Bass liegt bei ihm
„immer zwei Etagen tiefer“. Das Trockene und Rauschige von Sheds Sound ist
ganz entfernt mit Dubreggae verwandt, der auch immer im Hardwax läuft, den
er eigentlich gar nicht so mag, der ihn unbewusst dann aber doch geprägt
hat.
## Dünn besiedelt
Das Oderbruch ist keine spektakuläre Landschaft, auch wenn das Grün der
Wiesen satt aussehen mag und die Felder auch dieses Jahr viele Früchte
tragen. Die Gegend ist dünn besiedelt. Und die Wunden ihrer Vergangenheit
sind nur notdürftig verdeckt, oder aber, sie sind noch offen, wie ein
riesiges, vor sich hin verfallendes Kasernenareal der Roten Armee in
Küstrin/Kostrzyn. Vor 200 Jahren war das Oderbruch ein großer Sumpf.
Trockengelegt hat die Feuchtgebiete im 18. Jahrhundert der Alte Fritz.
Einige Sümpfe wurden in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs wieder
geflutet. Ganz in der Nähe, auf den Seelower Höhen, einer Erhebung in der
Region, fand eine entscheidende Schlacht statt, mit hohem Blutzoll und
einem Wahnwitz kurz vor Ende des Krieges. Die Nazis hatten ihn schon längst
verloren und warfen wie irre Menschen und Material in den aussichtslosen
Kampf gegen die Rote Armee, die mit 40.000 Geschützen alles
niederkartätschte. Das scheint lange her zu sein.
Was zunächst wie Bodenwellen im Oderbruch aussieht, sind Schützengräben der
Wehrmacht, die die Landschaft immer noch durchziehen. Als Kind durfte Shed
nicht im Garten der Großmutter spielen, weil Munitionsreste herumlagen.
Heute noch finden sich Granatsplitter und Patronenhülsen.
Dem Trommelfeuer der Geschichte kann Shed nicht entgehen, er verarbeitet es
mit seiner gefühlvollen Musik. „Man ist nie der Lauteste auf dem
Dancefloor, aber dafür hat man den geilsten Sound.“
14 Jul 2022
## LINKS
[1] /Senegalesische-Drumbeats-im-Mix/!5346810
[2] /Mark-Ernestus-ueber-den-Senegal-Sound/!5065565
[3] /Berghain-DJ-Fiedel-im-Gespraech/!5510993
## AUTOREN
Julian Weber
## TAGS
Techno
Berlin-Kreuzberg
Neues Album
Dancefloor
Pop-Literatur
Berghain
Senegal
Techno
## ARTIKEL ZUM THEMA
Dance-Duo Kinzua: Pfeifen im Ohr nach der Clubnacht
Musikalisch schwer zu kategorisieren und doch auf dem Dancefloor zuhause:
Das Berlin-Leipziger Duo Kinzua und sein Album „None of the Above“.
Buch über Frankfurts Clubgeschichte: Sich wegballern aus der reality
Der Journalist Leonhard Hieronymi nähert sich in „Trance“ der
Frühgeschichte der Frankfurter Clubkultur. Die spielt noch vor dem
Berlin-Techno-Hype.
Berghain-DJ Fiedel im Gespräch: „Es schlägt, schlägt, schlägt“
Fiedel ist DJ im Berliner Club Berghain und betreibt das Killasan
Soundsystem. Ein Gespräch über die Wärme von Bassboxen und die richtige
Lautstärke.
Senegalesische Drumbeats im Mix: Wie der Sound prasselnden Regens
Der Berliner Technopionier Mark Ernestus trifft auf senegalesischen
Mbalax-Sound: Ndagga Rhythm Force und das Album „Yermande“.
Mark Ernestus über den Senegal-Sound: „Musikalisch auf einem Nenner“
Der Berliner Technoproduzent Mark Ernestus hat in Dakar ein Album mit
lokalen Musikern aufgenommen. Der Rhythmus des Mbalax geht ihm nicht mehr
aus dem Kopf.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.