| # taz.de -- Mediziner über die Krankenhausmisere: „Ohne Reform crasht das Sy… | |
| > In Deutschland geht Veränderung nur in der Krise, sagt Christian | |
| > Karagiannidis. Eine Krankenhausreform soll das Gesundheitswesen retten. | |
| Bild: Kind mit Atemwegsinfekt auf der Intensivstation der Kinderklinik von St. … | |
| wochentaz: Herr Karagiannidis, wie groß ist die Krise im Gesundheitssystem? | |
| Christian Karagiannidis: Die eigentliche Krise kommt jetzt. Die Pandemie | |
| war nicht schön, aber im Vergleich zu dem, was die nächsten zehn Jahre auf | |
| uns zukommt, war das das deutlich kleinere Problem. Wir werden in allen | |
| Berufsgruppen pro Jahr rund 500.000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer | |
| verlieren, die in Rente gehen. Das sind Millionen Stellen, die nicht | |
| nachbesetzt werden. Diese Arbeitskräfte fehlen als Pflegekräfte, sie fehlen | |
| als Beitragszahler – das wird noch völlig unterschätzt. Und sie werden | |
| selbst zu Pflegefällen. Das ist ein Teufelskreis, aus dem wir erst in | |
| ungefähr zehn Jahren wieder rauskommen. | |
| Und auch nur, wenn wir jetzt die Weichen dafür stellen? | |
| Wenn wir jetzt [1][mit grundlegenden Reformen] anfangen, werden die | |
| nächsten zehn Jahre trotzdem sehr schmerzhaft. Wenn wir damit nicht | |
| anfangen, crasht das Gesundheitssystem. | |
| Was bedeutet Crash? | |
| Dass wir Patienten nicht mehr flächendeckend gut versorgen können. Die | |
| aktuelle Notfallversorgung in England sollte uns ein warnendes Beispiel | |
| sein. Die Ausgaben im Gesundheitsbereich steigen schon jetzt | |
| überproportional zum Bruttoinlandsprodukt. Wenn das so weitergeht und | |
| die demografische Dynamik dazu kommt, dann wird die Gesundheitsversorgung | |
| für die Menschen mit unteren und mittleren Einkommen nicht mehr bezahlbar. | |
| Bereits jetzt können nicht mehr alle Menschen gut versorgt werden. | |
| Rettungsstellen schicken Kinder nach Hause, die ins Krankenhaus gehören, | |
| weil sie keine Betten mehr haben. | |
| Wir haben aber noch relativ viele Reserven im System. Das ist die gute | |
| Nachricht. Es gibt, das sieht man im internationalen Vergleich, zu viele | |
| unnötige Eingriffe in Deutschland. Die müssen abgebaut werden. | |
| Glauben Sie, dass in der Öffentlichkeit angekommen ist, dass uns eine | |
| Krankenhauskrise bevorsteht, die über diese Wintersaison hinausgeht? | |
| Überhaupt nicht. Ich glaube, es ist auch kein guter Zeitpunkt, um das zu | |
| diskutieren mit einer Bevölkerung, die kaum noch empfänglich ist für | |
| weitere schlechte Nachrichten. | |
| Vor wenigen Tagen haben Sie mit Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach | |
| eine grundlegende Reform der Krankenhausfinanzierung vorgestellt. Ist das | |
| die kreative Lösung, von der Sie einst sprachen? | |
| Ich glaube, wir haben einen goldenen Mittelweg gefunden. Die | |
| Krankenhausvergütung ist eine der zentralen Ursachen der aktuellen Krise, | |
| und dafür haben wir ein komplexes Modell vorgelegt, das das bestehende | |
| System weiterentwickelt und vor allem die Übertherapie überwindet. | |
| Das bisherige System belohnt Krankenhäuser, die viele teure Eingriffe | |
| abrechnen. [2][Wenig planbare Bereiche wie die Geburts- und die | |
| Kindermedizin gerieten in Schieflage]. In Ihrem Reformvorschlag bleibt aber | |
| die dafür verantwortlich gemachte Finanzierung nach Diagnosegruppen | |
| (Diagnosis-Related-Groups, DRG) und Fallpauschalen erhalten. | |
| Das DRG-System ist erst mal nur ein Klassifikationssystem. Vor seiner | |
| Einführung war nicht nur die Liegedauer der Patienten sehr lang in den | |
| Krankenhäusern. Wir wussten auch nicht, welche Erkrankungen mit welchen | |
| Eingriffen behandelt wurden. Das war ein Blindflug, den wir nicht wieder | |
| brauchen. Deutschland hat nur den Fehler gemacht, dieses wichtige | |
| Klassifikationssystem zu 100 Prozent mit der Vergütung zu verknüpfen, in | |
| fast allen Bereichen, sogar in der Intensivmedizin. Davon rücken wir jetzt | |
| ab, ein erheblicher Teil der Finanzierung wird unabhängig von der Zahl der | |
| Behandlungen durch Vorhaltekosten abgedeckt. Gleichzeitig schaffen wir die | |
| Voraussetzungen dafür, dass die Mittel gerechter verteilt werden. | |
| Mehr Geld soll es nicht geben mit Ihrer Reform, die Deutsche | |
| Krankenhausgesellschaft hat sich schon beschwert. | |
| Da kommen immer so Sätze wie: Alles ist kaputtgespart im Gesundheitswesen. | |
| Das ist totaler Quatsch. Wir geben 13,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts | |
| für das Gesundheitswesen aus und liegen weltweit nach den USA an der Spitze | |
| in den Ausgaben. Da ist überhaupt nichts kaputtgespart. Wir haben im System | |
| einfach eine ungleichmäßige Verteilung gehabt in den letzten zwanzig | |
| Jahren. Und bitte vergessen Sie nicht, dass Gesundheit für alle bezahlbar | |
| bleiben muss. | |
| Sie sagen, auch die Ärzt:innen seien Teil des Problems. | |
| Wir übertherapieren an vielen Stellen im Gesundheitswesen, und es sind ja | |
| am Ende wir Ärzte, die die Therapien veranlassen. Das kommt natürlich | |
| davon, wenn der Erfolg der Klinik zu 100 Prozent von der Menge der | |
| Behandlungen abhängt. Das System hat die Ärzte erzogen, so zu denken. Und | |
| es gibt Bereiche der Medizin, in denen wir immer noch exorbitante Gehälter | |
| haben. Bestimmte Ärztegruppen verdienen bis zu 1 Million Euro. Ich finde | |
| das nicht richtig. | |
| Sind nicht auch die privaten, gewinnorientierten Krankenhäuser eines der | |
| Hauptprobleme? | |
| Ein bisschen Gewinn machen muss man, sonst kriegt man die Substanz nicht | |
| erhalten und geht auch nicht mit dem Fortschritt mit. Nicht okay finde ich, | |
| dass die Gewinne wie in den letzten Jahren an Aktionäre ausgeschüttet | |
| werden. Aber auch die privaten Klinikträger kommen jetzt an den Punkt, wo | |
| es sehr schwer wird, noch Gewinne zu machen. Je weniger Betten betrieben | |
| werden können, desto weniger Umsatz kann ein Krankenhaus machen. Deswegen | |
| rutschen die Kliniken massiv ins Minus. Allein in den letzten zwei Wochen | |
| gab es fünf oder sechs Insolvenzanmeldungen. Wir rechnen im Moment mit bis | |
| zu 60 Prozent Kliniken, die rote Zahlen schreiben. Und nächstes Jahr wird | |
| schlimmer werden. | |
| Können sich Kliniken auch in dem reformierten System die rentabelsten | |
| Bereiche rauspicken? | |
| Prinzipiell gibt es weiterhin Leistungen, die besser vergütet werden. Aber | |
| die Finanzierung wird an die Versorgungsstufe und die Leistungsgruppen | |
| eines Krankenhauses geknüpft. Dafür gibt es klar definierte | |
| Mindestvoraussetzungen, die genau das verhindern sollen. | |
| An der Tatsache, dass Tausende Pflegekräfte schon jetzt fehlen, kann die | |
| Reform aber nichts ändern. | |
| Wir können die Gesundheitsversorgung nur effizienter machen und den | |
| täglichen ökonomischen Druck reduzieren. Für viele ein Herzenswunsch. Die | |
| personellen Lücken, die sich auftun, werden wir nicht mehr füllen. Selbst | |
| wenn der Arbeitsplatz in der Pflege wieder attraktiver werden sollte. Mit | |
| der demografischen Entwicklung ist das unmöglich. Das Einzige, was die Zahl | |
| der Arbeitskräfte erhöhen würde, wäre strukturierte Migration im großen | |
| Stil. | |
| Menschen aus anderen Ländern für die Pflege nach Deutschland holen – solche | |
| Versuche sind bisher gescheitert. | |
| Bisher haben wir vor allem bereits ausgebildete Kräfte geholt. Zum Teil mit | |
| einem Bachelor, und dann waren die Menschen unzufrieden in Deutschland. Die | |
| gehen lieber in andere Länder, weil die Willkommenskultur in Deutschland | |
| nicht so top ist, da muss man ehrlich sein. Ich würde in Ländern mit hohen | |
| Geburtenraten und einer hohen Jugendarbeitslosigkeit ein Programm | |
| aufsetzen, das junge Menschen direkt nach der Schule herholt. Nach der | |
| dreijährigen Ausbildung sollen sie selbst entscheiden, ob sie hierbleiben | |
| oder ins Heimatland zurückkehren. Aber das müsste jetzt schnell gehen, und | |
| dafür müsste sich erheblich was ändern in Deutschland. Das sehe ich leider | |
| überhaupt nicht im aktuellen politischen Klima. | |
| Das Reformvorhaben soll im Januar mit Verbänden und Ländern diskutiert | |
| werden, dann muss ein Gesetz durch Bundestag und Bundesrat. Was bleibt | |
| anschließend davon übrig? | |
| Was nicht passieren darf, ist, dass die definierten Mindestanforderungen | |
| stark verwässert werden. | |
| Die Reform nimmt recht gut verdienenden Krankenhäusern etwas weg. Einzelne | |
| Bundesländer maulen schon über zentralistische Vorgaben. Wird sich Ihr | |
| Vorhaben gegen starke Interessen durchsetzen können? | |
| In Deutschland geht Veränderung nur in der tiefen Krise, das haben wir in | |
| der Pandemie gesehen. Da haben plötzlich Kooperationen funktioniert, die | |
| zwanzig Jahre nicht funktioniert haben. Wir haben ein | |
| Intensivbettenregister in sechs Wochen auf die Beine gestellt, das wir | |
| vorher zehn Jahre nicht finanziert bekommen haben. In die gleiche Situation | |
| werden wir jetzt wieder kommen. In der Gesundheitspolitik haben wir | |
| zunehmend Menschen, die überparteilich denken, weil sie merken, dass das | |
| System kollabiert. Also selbst wenn es jetzt Rückschläge geben sollte: Der | |
| Druck wird irgendwann so groß, dass sich am Ende doch alle zusammenfinden | |
| müssen. | |
| Ihre Reform sieht einen Übergangszeitraum von fünf Jahren vor. | |
| Das ist nötig, damit das System nicht noch instabiler wird. Aber glauben | |
| Sie mir, sobald klar ist, dass das Gesetz kommt, werden die Kliniken | |
| anfangen umzustrukturieren. Die Effekte wird man ganz schnell sehen. | |
| 17 Dec 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Manuela Heim | |
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