# taz.de -- Long Covid: Ausgebremst | |
> Diego hat Long Covid. Seine Partnerin und seine Mutter sind für ihn da. | |
> Aber es ist schwer. Wie mit einer Krankheit umgehen, deren Ende niemand | |
> kennt? | |
An einem Tag im Mai 2023 spricht Diego mit seinem Vater am Telefon über den | |
SSC Neapel. Der Fußballclub ist italienischer Meister, zum ersten Mal seit | |
1990. Diego ist Fan, der Verein die Leidenschaft der Familie. Sein Vater | |
erzählt ihm vom letzten Sieg, einem 1:0 gegen den AC Florenz. Normalerweise | |
versucht Diego, kein Spiel zu verpassen. Er sitzt auf der Bettkante im Haus | |
seiner Mutter in Brandenburg, vor sich ein grüner Kaminofen, rechts das | |
Fenster, die Vorhänge sind zugezogen. Zum spielentscheidenden Elfmeter ist | |
sein Papa noch gar nicht gekommen, als Diego das Gespräch abbricht – die | |
Kräfte haben ihn verlassen. Er zieht die Schlafmaske zur Seite, reibt sich | |
die Augen. Das war’s für heute. | |
Diego, 28 Jahre alt, hat Long Covid. In Wirklichkeit heißt er anders, aber | |
da er Nachteile befürchtet, wenn seine Krankheit öffentlich wird, möchte er | |
sich und sein Umfeld mit Pseudonymen schützen. Gerade lebt er wieder bei | |
seiner Mutter, weil er nicht für sich selbst sorgen kann. Er trägt eine | |
Schlafmaske, weil schon schwaches Licht ihn blendet. Selbst die Farben auf | |
seinem Handy überfordern ihn. Wenn draußen eine Krähe krächzt, zuckt er | |
zusammen. Vor die Tür kann er nur mit Wattebausch im Ohr. Alles ist | |
schrill, grell und vor allem: zu viel. | |
Diego ist kein Einzelfall. Doch noch immer ist nicht klar, wie viele | |
Menschen von Long Covid betroffen sind. Studien gehen davon aus, dass etwa | |
6 bis 15 Prozent aller Corona-Infizierten daran erkranken. Eine absolute | |
Schätzung lieferte das Institute for Health Metrics and Evaluation (IHME). | |
Demnach könnten im Zeitraum von Juni 2020 bis Juni 2023 [1][bis zu 36 | |
Millionen Europäer:innen] zwischenzeitlich an Long Covid erkrankt | |
gewesen sein. | |
Diego leidet seit vierzehn Monaten unter der Krankheit. Seine Partnerin, | |
seine Mutter und seine engsten Freunde sind für ihn da. Aber es ist nicht | |
leicht. Vertraute Menschen wenden sich ab, seine Welt schrumpft. Diegos | |
Geschichte ist die eines jungen Mannes, der kurz vor dem Sprung in die | |
Rushhour des Lebens ausgebremst wird. Unterdessen beginnt in Deutschland | |
zum ersten Mal eine Debatte über die [2][Aufarbeitung einer Pandemie], die | |
für Diego nie aufgehört hat. Wie kommen er und sein Umfeld zurecht mit der | |
Krankheit, deren Ende niemand kennt? | |
Im Januar 2023 lebt Diego noch das gewöhnliche Leben eines jungen Mannes in | |
Berlin. Er geht schwimmen, radelt durch die Stadt, zieht nachts durch Bars. | |
Vor ein paar Monaten hat er sein Studium in Politikwissenschaften und | |
Soziologie abgeschlossen und hat seinen ersten „Erwachsenenjob“ in einer | |
NGO für internationale Entwicklungszusammenarbeit. Er träumt davon, | |
irgendwann einmal in Asien, Afrika oder Lateinamerika zu arbeiten. Wo, ist | |
ihm eigentlich egal. Hauptsache mal weg. | |
Diego ist 1,80 Meter groß, trägt eine Brille, Schnurr- und Kinnbart und | |
dichte Koteletten. Er hat Falten auf der Stirn, auch wenn er nicht spricht, | |
so sieht er immer nachdenklich aus. Seine Partnerin Lina beschreibt ihn als | |
aufgeweckt, gesellig und ehrgeizig, enge Freunde sagen, er sei stolz. Er | |
selbst sieht sich als „Kopf-durch-die Wand-Typ“. | |
Diegos Mutter Marga ist 63 Jahre alt und Veterinärmedizinerin. Sie lebt in | |
Brandenburg und kümmert sich dort um ihren Hund, ihre Pferde und ihren | |
Garten. Sein Vater Matteo ist Erzieher und lebt in Berlin. Diego und er | |
treffen sich oft, um die Spiele des SSC Neapel zu schauen. „Es ist unser | |
Ritual und bedeutet mir viel“, sagt Diego. Matteo kommt aus Neapel und | |
nimmt Diego jedes Jahr mit in die Heimat. Dort leben seine Großeltern und | |
sein Onkel, Cousins und Cousinen. | |
Seine Partnerin Lina kennt er schon seit der Schule. Mit Anfang 20 ziehen | |
beide vom Stadtrand nach Berlin. Während der Pandemie werden sie ein Paar. | |
Im Februar 2023 verändert sich ihr Leben schlagartig, ohne dass sie es | |
ahnen: Diego und Lina infizieren sich mit Corona. Diego lebt mit einer | |
Mitbewohnerin in einer 2-Zimmer-WG. Sein Zimmer ist 12 Quadratmeter groß | |
und geht zum Hinterhof raus, darin ein Bett, eine Couch, auf der er sich | |
zur Hälfte ausstrecken kann, und Schreibtisch, Regal und Kleiderschrank. | |
Hier quartieren Lina und er sich ein. Die meiste Zeit liegen sie auf dem | |
Bett und hören Podcasts. „Dass wir es gleichzeitig hatten, fanden wir | |
damals ganz praktisch“, erinnert sich Lina später bei einem Gespräch mit | |
der taz im März 2024. | |
Diegos Verlauf ist mild: Er ist nicht erkältet und hat fast keine | |
Schmerzen, fühlt sich nur müde und erschöpft. Lina geht es ähnlich, sie ist | |
aber weniger schlapp. Innerhalb von einer Woche sind beide wieder negativ. | |
Diego bringt Lina zum S-Bahnhof. Dann, auf dem Rückweg, hat Diego einen | |
Schwindelanfall. Die Katastrophe beginnt. | |
## Wochenlanges Tappen im Dunklen | |
Die genauen Ursachen für die Krankheit, die Diego in diesen Wochen befällt, | |
sind noch immer nicht geklärt. Ein Großteil der Forschung zu den | |
Langzeitfolgen von Corona geht von vier Hypothesen aus: Viruspersistenz, | |
das heißt, das Virus verbleibt nach der Infektion latent im Körper; | |
Autoimmunität, demnach löst das Virus eine Immunreaktion aus, die sich | |
gegen den eigenen Körper richtet; Organschäden, das heißt, die akute | |
Infektion führt zu langfristigen Veränderungen im Körper bis hin zu | |
Organschäden; und schließlich reaktivierte Viren, demnach werden latente | |
Viren wie Herpes durch die Covidinfektion wieder aktiv. | |
Die Hypothesen schließen sich nicht gegenseitig aus: Bei Betroffenen können | |
sich medizinische Nachweise für mehrere dieser Prozesse finden. Deshalb | |
versuchen Forschende, die Krankheit in unterschiedlichen Typen zu clustern. | |
Je besser das gelingt, desto individueller können Betroffene behandelt | |
werden. Doch noch ist es nicht so weit. | |
So tappt auch Diego wochenlang im Dunkeln. „Der Schwindel hat mich | |
verunsichert. Aber es war das erste Mal Corona, ich wusste nicht, was | |
normal ist und was nicht“, erinnert er sich rückblickend in dem Gespräch | |
mit der taz im März 2024. Er sucht sich eine Hausärztin, sie schreibt ihn | |
krank. Er arbeitet trotzdem ein bisschen. Als ihm zwei Wochen später immer | |
noch schwindelig ist, macht er ein Elektrokardiogramm (EKG). Es misst die | |
elektrische Aktivität seiner Herzmuskelfasern und wirft eine Kurve des | |
Herzschlags auf den Bildschirm. Ärzt:innen untersuchen anhaltenden | |
Schwindel mit einem EKG, weil manchmal eine Herzrhythmusstörung die Ursache | |
sein kann. Aber Diegos Herz ist gesund und sie schicken ihn nach Hause. | |
Zwei Wochen später landet er wieder im Krankenhaus. Dieses Mal in der | |
Notaufnahme. Sein Herz pocht gegen seine Brust wie ein Presslufthammer. Er | |
befürchtet eine Herzmuskelentzündung. Lina begleitet Diego in die | |
Notaufnahme und zwei Freunde besuchen ihn dort, bringen Schokolade und ein | |
Buch mit. Sechs Stunden später ist er wieder zu Hause. Sein Herz sei | |
gesund, sagen die Ärzt:innen wieder. | |
Inzwischen ist ein Monat seit der Corona-Infektion vergangen. Diego hat | |
aufgehört zu rauchen und versucht wieder zu arbeiten. Doch schon nach zwei | |
Tagen bricht er ab. „Ich sollte damals für unsere Webseite einen kurzen | |
Text schreiben, so einen Fünfzeiler“, erinnert er sich. „Ich habe | |
stundenlang auf den Monitor gestarrt und es einfach nicht geschafft.“ | |
Er klappert weitere Ärzte ab. Beim Neurologen, ungefähr fünf Wochen nach | |
der Infektion, zählt Diego wieder seine Symptome auf. Dieser Arzt spricht | |
es als Erster aus: Long Covid. Aber vorsichtig und mit Bedacht, als | |
Möglichkeit, nicht als Diagnose. Er möchte ihn beruhigen, erzählt ihm, dass | |
sich 90 Prozent der Patient:innen innerhalb von sechs Monaten erholen. | |
Für Diego ein Schock. Er kann sich nicht vorstellen, so lange krank zu | |
sein. | |
Später erzählt er Lina davon. Sie ist vor allem erleichtert, endlich eine | |
Einschätzung von einer Fachperson zu haben. „Es hat mir richtig Angst | |
gemacht, weil wir die ganze Zeit nicht wussten, woher der Schwindel und die | |
Herzschmerzen kamen“, sagt Lina rückblickend. Marga, Diegos Mutter, fühlt | |
sich in ihrer Befürchtung bestätigt. Für sie habe alles auf Long Covid | |
hingedeutet. Auch wenn noch nichts sicher ist, haben sie nun etwas, an dem | |
sie sich festhalten und in eigenen Recherchen abarbeiten können. | |
Unter dem Begriff Long Covid werden alle Symptome gefasst, die Infizierte | |
vier Wochen nach der akuten Corona-Erkrankung haben und für die es keine | |
andere wahrscheinlichere Erklärung gibt. Sprich: Long Covid ist aus | |
medizinischer Sicht erst nach vier Wochen ein Thema. Dauern die Symptome | |
drei Monate an, definiert die Weltgesundheitsorganisation (WHO) das als | |
Post-Covid-Zustand. Umgangssprachlich spricht man trotzdem weiterhin von | |
Long Covid. | |
## Die erste Reise und der erste Crash | |
Die WHO listet über 200 Symptome auf, darunter: Kurzatmigkeit und | |
Brustschmerzen, Gliederschmerzen, Schlafstörungen, Gehirnnebel, Geruchs- | |
und Geschmacksverlust und große Erschöpfung, auch Fatigue genannt. Auf | |
Diego trifft vieles davon zu. Er leidet unter Fatigue, Reizempfindlichkeit | |
und Gehirnnebel, der zu Konzentrationsschwierigkeiten und | |
Wortfindungsstörungen führt. In besonders schlimmen Phasen leidet er zudem | |
unter Schlafstörungen und Gliederschmerzen. | |
Nach der Diagnose hört sich Diego um. Dem einzigen Menschen in seinem | |
Bekanntenkreis, der Long Covid hatte, ging es erst nach sechs Monaten | |
besser. Diego denkt: „Wenn ich mich jetzt konsequent schone, geht das bei | |
mir bestimmt schneller wieder vorbei.“ | |
Anfangs geht die Strategie auf. So gut, dass er Ende April mit Matteo, | |
seinem Vater, nach Neapel auf Familienbesuch fliegt. Seine Hausärztin rät | |
ihm zur Reise, sagt, das werde ihm sicher gut tun. Diegos Mutter Marga ist | |
skeptisch und fragt: „Glaubst du wirklich, dass das so klug ist?“ Aber | |
Diego will mit, will rauskommen aus seiner geschrumpften Welt. In Neapel | |
angekommen, fühlt er sich mal lebendig, mal erschöpft. „Einen Tag habe ich | |
mit meinem Vater, Onkel und meinem Cousin verbracht. Wir sind manchmal acht | |
bis zehn Kilometer gelaufen. Am nächsten Tag war ich fertig und auf dem | |
Energielevel meiner Oma.“ | |
Nach einer Woche reisen Diego und Matteo zurück. Bis hierhin war die Reise | |
gut verlaufen, doch am Flughafen von Neapel ist die Wartehalle klein und | |
überfüllt. Alle plappern durcheinander. Das Licht ist grell, die Luft | |
stickig. Diego findet keinen Rückzugsort, kauert sich mit Kopfhörern in | |
eine Ecke und starrt die Wand an. Sein Vater kümmert sich um Check-in und | |
Gepäck. | |
Kurz vor Abflug kämpft Diego sich trotzdem durch den Duty-Free-Bereich zu | |
einem Laden mit neapolitanischen Spezialitäten. Er kauft Büffelmozzarella | |
für Lina und ignoriert dabei die Signale seines Körpers. „Ich konnte mir | |
schon immer schwer eingestehen, krank zu sein. Meine Beziehung zu meinem | |
Körper war ziemlich plump maskulin. Mein Körper hatte zu funktionieren“, | |
sagt Diego im Rückblick. | |
In Berlin angekommen, rettet er sich irgendwie vom Flugzeug ins Uber und zu | |
Lina, fällt bei ihr erschöpft ins Bett. Was folgt, ist sein erster Crash. | |
Ein Begriff aus der englischsprachigen Long Covid Forschung, der den | |
vollumfänglichen Zusammenbruch nach einer Überforderung des Körpers | |
beschreibt. Diegos Haut kribbelt, seine Beine werden schwer, seine Sicht | |
wird unklar. Jeder Reiz ist zu viel. Der Kontrollverlust macht Diego Angst. | |
Was er da gerade durchlebt, nennt sich in der Fachsprache | |
Post-Exertionelle-Malaise (PEM). PEM tritt meist einige Stunden nach einer | |
Überanstrengung auf und hält Stunden, manchmal auch Tage an. Wer die eigene | |
Belastungstoleranz zu sehr überschreitet, crasht. | |
„Es ist wie Lampenfieber vor einem großen Vortrag. Nur über Tage“, sagt | |
Diego. „Und dazu ein Kater und eine Grippe.“ Auch Lina erinnert sich noch | |
an den Abend: „Es war super hart, mit anzusehen, wie er so leidet, und | |
gleichzeitig absolut nichts machen zu können.“ Am nächsten Tag ist Lina | |
unterwegs, Diego schreibt ihr eine Nachricht: | |
Mein Körper sendet mir momentan einfach total weirde Signale. Aber ich mach | |
einfach ruhig, mehr kann ich gerade nicht machen:) | |
Lina antwortet: Mhmm ja, das ist echt bescheuert, aber was anderes als dich | |
schonen kannst du nicht machen. Das geht bald weg, I know it:) | |
Diego bleibt weiter bei Lina, kommt jedoch kaum aus dem Bett. Lina muss | |
arbeiten und Diego sich eingestehen, dass er sich nicht um sich selbst | |
kümmern kann. Er beschließt, seine Mutter zu fragen, ob er für eine Weile | |
zu ihr ziehen kann. Sie wohnt in Brandenburg, dort gibt es einen Garten und | |
weniger Lärm. Diego hofft, sich dort besser fallen lassen zu können. | |
„Ich bin sofort zur Tigermama geworden“, erinnert sich Marga an das | |
Telefonat mit Diego. Als sie aufgelegt haben, fährt sie direkt los und holt | |
ihn ab. In Brandenburg kocht sie für ihn, macht seine Wäsche, holt seine | |
Medikamente von der Apotheke ab und fährt ihn zu Arztterminen. Damit Diego | |
auch wortlos kommunizieren kann, hat er sich eine Kuscheltierqualle besorgt | |
– zum Wenden, eine Seite rosa, die andere Seite blau. Liegt die Qualle rosa | |
auf der Bettkante, geht es ihm gut. Das heißt, man kann mit ihm reden, er | |
kann sogar telefonieren. Die blaue Qualle bedeutet, es geht ihm nicht gut, | |
er braucht Ruhe. „Ich habe jeden Morgen um die Ecke geschielt, um zu sehen, | |
welche Farbe die Qualle hat“, erinnert sich Marga. In diesen Tagen, | |
ungefähr fünf Wochen nach dem Besuch beim Neurologen, ist sie meistens | |
blau. Marga ist erschüttert. | |
An Blaue-Quallen-Tagen liegt Diego durchgehend im Bett. Selbst an | |
Rosa-Quallen-Tagen geht er nur mit Ohropax vor die Tür und flüchtet in die | |
Wohnung, sobald die erste Krähe kräht. Besonders an Rosa-Quallen-Tagen | |
mutet er sich zu viel zu – und crasht. Wochenlang geht das so. Diego | |
schreibt Lina aus Brandenburg eine Nachricht.Puh ey, gerade | |
Hundespaziergang gemacht und ich bin so alle ey … Mich hat’s echt wieder | |
richtig umgebummst. | |
Lina antwortet: Ich wünschte, ich könnt irgendwie was dagegen machen. | |
Diego übernimmt sich, weil er noch nicht realisiert, dass er vieles nicht | |
mehr kann und vielleicht nie mehr können wird. „Ich konnte überhaupt nicht | |
gut einschätzen, welche Situationen mich raushauen“, erinnert er sich. Und | |
er ist eben dieser „Kopf-durch-die-Wand-Typ“, der im | |
Steh-auf-Männchen-Modus gefangen ist: Sobald es ihm besser geht, wagt er | |
wieder ein paar Schritte. Wenn ihm nicht schwindelig wird, ein paar mehr. | |
„Wenn ich es die Wendeltreppe hinunter zum Esstisch schaffe“, denkt er, | |
„dann vielleicht auch vor die Tür.“ Er habe das Leben mit Long Covid lernen | |
müssen wie ein Kleinkind das Fahrradfahren. Auf die Fresse, Heulen, weiter. | |
Schritt für Schritt lernt er so, dass er unter seiner Belastungsgrenze | |
bleiben muss. Gerade dann, wenn es ihm besser zu gehen scheint. | |
## Belastungsprobe für die Beziehung | |
Nach zwei Monaten bei seiner Mutter ist es so weit, er kann sich besser | |
einschätzen, wieder für sich selbst sorgen. Also zieht er im Sommer 2023 | |
zurück in sein WG-Zimmer nach Berlin. Dort schrumpft sein Leben auf 12 | |
Quadratmeter Intimsphäre, getrennt von der Welt durch Fensterglas und | |
Handybildschirm. Die Aussichtslosigkeit und die Ungewissheit belasten seine | |
Beziehungen, auch die zu Lina. „Eben noch waren wir Ende 20, haben uns mit | |
Freunden getroffen, sind ins Kino gegangen, haben uns gestritten und wieder | |
vertragen, eine ganz normale Beziehung geführt“, sagt sie. „Plötzlich | |
wurden wir in dieses neue Leben geworfen.“ | |
Zu Beginn der Krankheit funktionierte sie nur, erledigte stoisch | |
Alltägliches wie Einkäufe und Post und übernahm das Kümmern, ohne auf sich | |
selbst zu achten. Dass auch sie an ihre Grenzen stößt, sie mitunter | |
überschreitet, bemerkt sie erst später und oft zeitversetzt. Irgendwann | |
wird es auch für sie zu viel. Sie traut sich nicht mehr, negative Gefühle | |
zu kommunizieren, weil sie Diego nicht belasten will. Sie sucht im Internet | |
nach Anlaufstellen für Angehörige, findet aber keine Selbsthilfegruppen in | |
ihrer Nähe. | |
Manchmal würde Lina gerne ausbrechen aus der Enge des Zimmers, der | |
Krankheit, der Beziehung. Aber sie will Diego nicht im Stich lassen. Tut | |
sie es doch einmal, fühlt sie sich schlecht dabei. Die beiden streiten sich | |
nun häufiger. Über Kleinigkeiten, etwa wenn Lina zu spät kommt oder Diego | |
sich nicht nach Linas Wohlbefinden erkundigt. Aber eigentlich ging es um | |
etwas Größeres, sagen sie heute. Um die Trauer über den Verlust von | |
entspannter Zweisamkeit und die nagende Ungewissheit, ob sie jemals ihr | |
altes Leben zurückbekommen. | |
Diegos Vater Matteo hingegen führt sein gewohntes Leben weiter. Außer, dass | |
er seinen Sohn jetzt weniger sieht und das Fußballritual wegfällt. Sie | |
telefonieren zwar noch oft, aber treffen kann er Diego nur noch in dessen | |
Wohnung und das gefällt Matteo nicht, also sehen sie sich immer seltener. | |
Diego glaubt, dass seine Krankheit seinem Vater Angst macht. „Es ist | |
schmerzhaft zu sehen, dass er mit der Situation nicht umgehen kann.“ | |
Gleichzeitig wird Diegos Bekanntenkreis kleiner. Nach seinem Umzug zurück | |
nach Berlin merkt er, dass ihm nur noch eine Handvoll enger Freunde | |
bleiben. Er trifft keine Menschen auf Geburtstags- und Familienfeiern mehr, | |
lernt keine neuen Leute kennen. Bekannte erkundigen sich nach ihm, aber | |
melden sich selten persönlich. Im Stich gelassen fühlt er sich von ihnen | |
nicht. Alle wichtigen Menschen, außer seinem Vater, sind für ihn da. An den | |
Rest stellt er keine großen Erwartungen. Als ein Freund gesammelte | |
Videobotschaften von Freundesfreunden an ihn sendet, bricht Diego trotzdem | |
in Tränen aus. | |
Irgendwann beginnt er, sich selbst zu informieren, tritt Long-Covid-Gruppen | |
auf Facebook bei, telefoniert mit anderen Betroffenen. Wie viele andere | |
wird er zu einer Art Laienexperte, weil ihm die Ärzte nicht weiterhelfen | |
können. | |
## Er recherchiert auf eigene Faust | |
Nachts im Bett, wenn er nicht einschlafen kann, obwohl er sich chronisch | |
erschöpft fühlt – denkt er, dass er zurück zu seiner Mutter muss, und dort | |
für den Rest seines Lebens im Erdgeschoss vor sich hin vegetieren wird. In | |
diesen dunklen Stunden liest er viel über das chronische | |
[3][Fatigue-Syndrom (ME/CFS)], das bei fast der Hälfte der | |
Long-Covid-Patient:innen auftritt und von dem Diego und sein jetziger Arzt | |
glauben, dass auch er betroffen sein könnte. | |
Die Multisystemerkrankung äußert sich in extremen, episodischen | |
Erschöpfungszuständen und ist als die schwerste Form von Long Covid | |
bekannt. Sie trat jedoch bereits lange vor der Pandemie auf, häufig als | |
Folge von Virusinfektionen. Die Zahl der Betroffenen liegt Schätzungen | |
zufolge etwa bei 0,1 bis 0,7 Prozent. | |
Die Weltgesundheitsorganisation hat das Syndrom bereits 1969 als | |
neurologische Erkrankung klassifiziert. Das ist über 50 Jahre her. Doch | |
noch immer gilt die genaue Ursache als ungeklärt. Deshalb streiten sich | |
Ärzte auch über die richtige Behandlung. Ein Teil von ihnen rät | |
Betroffenen, sich unter ihrer individuellen Belastungsgrenze zu bewegen. | |
Das Konzept nennt sich Pacing, Englisch für „das Tempo angeben“. Die | |
anderen empfehlen möglichst viel Aktivität, zum Beispiel körperlich | |
herausfordernde Rehas. | |
Bis heute gibt es kein zugelassenes Medikament gegen ME/CFS – auch, weil | |
die Forschung lange vernachlässigt wurde. Ein Beitrag im | |
Wissenschaftsmagazin Science spricht von einer „Unterfinanzierung, die in | |
keinem Verhältnis zur Langzeitbelastung der Betroffenen steht“. Betroffene | |
wie Diego vermuten: „Hätte die medizinische Forschung früher mehr Zeit und | |
Geld in die Erforschung von ME/CFS investiert, könnte einem großen Teil der | |
Betroffenen heute besser geholfen werden.“ Nachweisen lässt sich das | |
rückwirkend nicht. | |
Die Bundesregierung kündigte jedenfalls im November 2023 an, 180 Millionen | |
Euro für die Erforschung von Long Covid und die Entwicklung medikamentöser | |
Therapien bereit zu stellen. Das ist jedoch schwierig, solange die | |
Forschenden die Unterformen nicht anhand sogenannter Biomarker, also | |
messbarer biologischer Merkmale, die auf eine bestimmte Krankheit | |
hindeuten, unterscheiden können. Deshalb werden derzeit nur sogenannte | |
Off-Label-Medikamente zur Behandlung von Long Covid eingesetzt. Das sind | |
Medikamente, die eigentlich für die Behandlung anderer Krankheiten | |
zugelassen sind. | |
Diego hält die Symptome, das Warten und die Hilflosigkeit irgendwann nicht | |
mehr aus. Auch er fängt an, sich mit Off-Label Medikamenten selbst zu | |
behandeln. In Facebookgruppen, in Zeitungsartikeln, im Internet: Überall | |
berichten Betroffene davon, welche Medikamente oder Behandlungen ihnen | |
geholfen haben. Darunter auch Blutwäsche für mehrere Tausend Euro. Diego | |
aber probiert sich erst mal durch alle möglichen Medikamente, für die er im | |
Schnitt um die 150 Euro ausgibt. „Ich habe mich dabei gefühlt wie ein | |
Lottospieler“, erinnert er sich später. | |
Zuerst nimmt er Antihistaminika. Sie sollen allergische Symptome wie | |
Atemnot oder Hautausschlag lindern, die sich zum Teil mit Diegos leichteren | |
Symptomen überschneiden. Sie schlagen an, aber es geht ihm nicht wirklich | |
besser. Dann versucht er es mit niedrig dosiertem Naltrexon (LDN). Das | |
Medikament wirkt entzündungshemmend. Aber er verträgt es nicht, bekommt | |
Kopfschmerzen und Durchfall und ist noch erschöpfter als vorher. Als | |
Nächstes empfiehlt ihm ein Arzt Statine. Auch sie wirken | |
entzündungshemmend. Das Medikament verbessert seine Symptome, doch schon | |
bald entwickelt Diego Nebenwirkungen wie Muskelschwäche. Er setzt es wieder | |
ab. „Es ist schwer mit anzusehen, wie er abends seine Medikamentenschachtel | |
vorsortiert“, sagt Lina. | |
## Selbstheilung und tiefe Dankbarkeit | |
Obwohl keines der Medikamente komplett anschlägt, fühlt er sich im | |
Spätsommer besser. Diego und Lina fahren sogar eine Woche in den | |
Schrebergarten von Linas Stiefvater, der direkt an der Havel liegt. Die | |
Sonne scheint, alles ist grün. Diego nimmt Hummeln und Frösche wahr und | |
erfreut sich daran. Er meditiert viel. Abends trinken Lina und er im Lokal | |
nebenan Weinschorle. | |
Zum ersten Mal seit Neapel fühlt er sich wieder lebendig. Das ständige | |
Mit-dem-Kopf-gegen-die-Wand-Rennen, das Nicht-Akzeptieren-Wollen – in | |
diesem Moment kommt es ihm weit weg vor. Er empfindet eine so tiefe | |
Dankbarkeit gegenüber den Menschen, die ihm etwas bedeuten, dass er | |
manchmal weinen muss. Kurz darauf findet er endlich einen Arzt, der sich | |
wirklich mit [4][Long Covid] auszukennen scheint. Ein Lungenarzt, der | |
selbst an Long Covid erkrankt ist, aber noch eingeschränkt arbeitet. Der | |
Pneumologe spricht mit ihm auf Augenhöhe, das bedeutet Diego viel und er | |
fühlt sich zum ersten Mal gut aufgehoben. Marga und Lina sind erleichtert. | |
Und auch mit Lina geht es wieder aufwärts. Es hilft, dass es ihm besser | |
geht als im Frühsommer. Vor allem aber hat sie sich verändert. Sie nimmt | |
sich mehr Freiheiten, weiß früher, wann sie eine Pause braucht und | |
gestattet sie sich. „Wenn ich immer nur in der Verzweiflung drin bleibe, | |
hilft das auch nichts“, sagt sie. Also vereinbart sie Grenzen mit sich | |
selbst und hält sie ein, zum Beispiel einen Abend für sich zu haben, oder | |
zu sagen: „Heute möchte ich nicht über die Krankheit reden.“ | |
Auch Diego ist nicht mehr ganz der, der er mal war. Er sei sensibler und | |
milder gegenüber sich selbst und anderen geworden, habe mehr Empathie mit | |
älteren und schwächeren Menschen, sagt er im März 2024. Als ein Bekannter | |
einmal meinte, dass eine Krankheit auch eine Chance sei, wurde er trotzdem | |
wütend. „Eine Krankheit ist keine Chance, sondern eine fucking | |
Einschränkung“, sagt Diego. „Es geht darum, einen gesunden Umgang damit zu | |
finden, und das ist mir echt schwergefallen.“ | |
## Als chronisch Kranker auf Wohnungssuche | |
Und der nächste Kleinkrieg lauert schon im Briefkasten. Noch bekommt er | |
Krankengeld, aber die Krankenkasse droht ihm damit, es vorzeitig zu | |
streichen. Ihre Bedingung für eine Weiterzahlung: Er soll sofort eine Reha | |
machen. Diese hatte er auf Anraten einer Ärztin im Frühsommer 2023 | |
beantragt. Aber weil Diego auf Facebook gelesen hat, dass es vielen anderen | |
Betroffenen nach einer Reha wieder schlechter ging, und sein | |
Long-Covid-Arzt sich in Diegos Fall unsicher ist, weigert er sich. | |
Sein Streit mit der Krankenkasse findet in einem Klima statt, in dem | |
erstmals öffentlich über die Aufarbeitung der Pandemie gestritten wird. Für | |
Menschen wie Diego ist Corona jedoch nicht vorbei. „Ich trage immer noch | |
Maske und mache immer noch Tests“, sagt er. „Ich stecke in den | |
Gepflogenheiten der Pandemie noch voll drin.“ Er verstehe, dass die | |
Gesellschaft erst mal Ruhe vor Corona wolle. Eine kritische Aufarbeitung im | |
Sinne von: „Was haben wir da erlebt? Und was haben wir verloren?“ fände er | |
trotzdem wichtig. | |
Auch die Wohnsituation bereitet Diego Sorge. Seine Mitbewohnerin verdient | |
zum ersten Mal genug, um sich die Wohnung alleine leisten zu können. Für | |
Diego bedeutet das: Wohnungssuche als chronisch Kranker. Zu WG-Castings | |
kann er nicht gehen, und dass sich jemand auf seine Bewerbung meldet, | |
bezweifelt er. „Ich bin im Schnitt 23 Stunden zu Hause, bin lärmempfindlich | |
und liege viel im Bett. Bad und Küche kann ich putzen, aber danach brauche | |
ich ein paar Tage Ruhe. Wer möchte so jemanden schon bei sich in der | |
Wohnung haben?“, fragt sich Diego. | |
Nach einem Jahr Long Covid kann Diego sich nicht mehr vorstellen, wie es | |
ist, komplett symptomfrei zu leben. Manchmal wacht er morgens auf und merkt | |
bis auf einen leichten Tinnitus nichts weiter. Dann geht er einen Kaffee | |
trinken und setzt sich für ein paar Minuten in die Sonne. Aber irgendwann | |
kommen sie wieder angeschlichen, die Symptome. Er wird dann müde, setzt | |
sich die Schlafmaske auf, steckt Ohropax ins Ohr und legt sich ins Bett. | |
21 Apr 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://www.bmg-longcovid.de/infobox/wissenswertes-fuer-erkrankte-und-inter… | |
[2] /Aufarbeitung-der-Pandemie-Massnahmen/!5999073 | |
[3] https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC9589726/ | |
[4] https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/NCOV2019/FAQ_Liste_Gesundheitliche_Langze… | |
## AUTOREN | |
Enno Schöningh | |
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