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# taz.de -- Long Covid: Ausgebremst
> Diego hat Long Covid. Seine Partnerin und seine Mutter sind für ihn da.
> Aber es ist schwer. Wie mit einer Krankheit umgehen, deren Ende niemand
> kennt?
An einem Tag im Mai 2023 spricht Diego mit seinem Vater am Telefon über den
SSC Neapel. Der Fußballclub ist italienischer Meister, zum ersten Mal seit
1990. Diego ist Fan, der Verein die Leidenschaft der Familie. Sein Vater
erzählt ihm vom letzten Sieg, einem 1:0 gegen den AC Florenz. Normalerweise
versucht Diego, kein Spiel zu verpassen. Er sitzt auf der Bettkante im Haus
seiner Mutter in Brandenburg, vor sich ein grüner Kaminofen, rechts das
Fenster, die Vorhänge sind zugezogen. Zum spielentscheidenden Elfmeter ist
sein Papa noch gar nicht gekommen, als Diego das Gespräch abbricht – die
Kräfte haben ihn verlassen. Er zieht die Schlafmaske zur Seite, reibt sich
die Augen. Das war’s für heute.
Diego, 28 Jahre alt, hat Long Covid. In Wirklichkeit heißt er anders, aber
da er Nachteile befürchtet, wenn seine Krankheit öffentlich wird, möchte er
sich und sein Umfeld mit Pseudonymen schützen. Gerade lebt er wieder bei
seiner Mutter, weil er nicht für sich selbst sorgen kann. Er trägt eine
Schlafmaske, weil schon schwaches Licht ihn blendet. Selbst die Farben auf
seinem Handy überfordern ihn. Wenn draußen eine Krähe krächzt, zuckt er
zusammen. Vor die Tür kann er nur mit Wattebausch im Ohr. Alles ist
schrill, grell und vor allem: zu viel.
Diego ist kein Einzelfall. Doch noch immer ist nicht klar, wie viele
Menschen von Long Covid betroffen sind. Studien gehen davon aus, dass etwa
6 bis 15 Prozent aller Corona-Infizierten daran erkranken. Eine absolute
Schätzung lieferte das Institute for Health Metrics and Evaluation (IHME).
Demnach könnten im Zeitraum von Juni 2020 bis Juni 2023 [1][bis zu 36
Millionen Europäer:innen] zwischenzeitlich an Long Covid erkrankt
gewesen sein.
Diego leidet seit vierzehn Monaten unter der Krankheit. Seine Partnerin,
seine Mutter und seine engsten Freunde sind für ihn da. Aber es ist nicht
leicht. Vertraute Menschen wenden sich ab, seine Welt schrumpft. Diegos
Geschichte ist die eines jungen Mannes, der kurz vor dem Sprung in die
Rushhour des Lebens ausgebremst wird. Unterdessen beginnt in Deutschland
zum ersten Mal eine Debatte über die [2][Aufarbeitung einer Pandemie], die
für Diego nie aufgehört hat. Wie kommen er und sein Umfeld zurecht mit der
Krankheit, deren Ende niemand kennt?
Im Januar 2023 lebt Diego noch das gewöhnliche Leben eines jungen Mannes in
Berlin. Er geht schwimmen, radelt durch die Stadt, zieht nachts durch Bars.
Vor ein paar Monaten hat er sein Studium in Politikwissenschaften und
Soziologie abgeschlossen und hat seinen ersten „Erwachsenenjob“ in einer
NGO für internationale Entwicklungszusammenarbeit. Er träumt davon,
irgendwann einmal in Asien, Afrika oder Lateinamerika zu arbeiten. Wo, ist
ihm eigentlich egal. Hauptsache mal weg.
Diego ist 1,80 Meter groß, trägt eine Brille, Schnurr- und Kinnbart und
dichte Koteletten. Er hat Falten auf der Stirn, auch wenn er nicht spricht,
so sieht er immer nachdenklich aus. Seine Partnerin Lina beschreibt ihn als
aufgeweckt, gesellig und ehrgeizig, enge Freunde sagen, er sei stolz. Er
selbst sieht sich als „Kopf-durch-die Wand-Typ“.
Diegos Mutter Marga ist 63 Jahre alt und Veterinärmedizinerin. Sie lebt in
Brandenburg und kümmert sich dort um ihren Hund, ihre Pferde und ihren
Garten. Sein Vater Matteo ist Erzieher und lebt in Berlin. Diego und er
treffen sich oft, um die Spiele des SSC Neapel zu schauen. „Es ist unser
Ritual und bedeutet mir viel“, sagt Diego. Matteo kommt aus Neapel und
nimmt Diego jedes Jahr mit in die Heimat. Dort leben seine Großeltern und
sein Onkel, Cousins und Cousinen.
Seine Partnerin Lina kennt er schon seit der Schule. Mit Anfang 20 ziehen
beide vom Stadtrand nach Berlin. Während der Pandemie werden sie ein Paar.
Im Februar 2023 verändert sich ihr Leben schlagartig, ohne dass sie es
ahnen: Diego und Lina infizieren sich mit Corona. Diego lebt mit einer
Mitbewohnerin in einer 2-Zimmer-WG. Sein Zimmer ist 12 Quadratmeter groß
und geht zum Hinterhof raus, darin ein Bett, eine Couch, auf der er sich
zur Hälfte ausstrecken kann, und Schreibtisch, Regal und Kleiderschrank.
Hier quartieren Lina und er sich ein. Die meiste Zeit liegen sie auf dem
Bett und hören Podcasts. „Dass wir es gleichzeitig hatten, fanden wir
damals ganz praktisch“, erinnert sich Lina später bei einem Gespräch mit
der taz im März 2024.
Diegos Verlauf ist mild: Er ist nicht erkältet und hat fast keine
Schmerzen, fühlt sich nur müde und erschöpft. Lina geht es ähnlich, sie ist
aber weniger schlapp. Innerhalb von einer Woche sind beide wieder negativ.
Diego bringt Lina zum S-Bahnhof. Dann, auf dem Rückweg, hat Diego einen
Schwindelanfall. Die Katastrophe beginnt.
## Wochenlanges Tappen im Dunklen
Die genauen Ursachen für die Krankheit, die Diego in diesen Wochen befällt,
sind noch immer nicht geklärt. Ein Großteil der Forschung zu den
Langzeitfolgen von Corona geht von vier Hypothesen aus: Viruspersistenz,
das heißt, das Virus verbleibt nach der Infektion latent im Körper;
Autoimmunität, demnach löst das Virus eine Immunreaktion aus, die sich
gegen den eigenen Körper richtet; Organschäden, das heißt, die akute
Infektion führt zu langfristigen Veränderungen im Körper bis hin zu
Organschäden; und schließlich reaktivierte Viren, demnach werden latente
Viren wie Herpes durch die Covidinfektion wieder aktiv.
Die Hypothesen schließen sich nicht gegenseitig aus: Bei Betroffenen können
sich medizinische Nachweise für mehrere dieser Prozesse finden. Deshalb
versuchen Forschende, die Krankheit in unterschiedlichen Typen zu clustern.
Je besser das gelingt, desto individueller können Betroffene behandelt
werden. Doch noch ist es nicht so weit.
So tappt auch Diego wochenlang im Dunkeln. „Der Schwindel hat mich
verunsichert. Aber es war das erste Mal Corona, ich wusste nicht, was
normal ist und was nicht“, erinnert er sich rückblickend in dem Gespräch
mit der taz im März 2024. Er sucht sich eine Hausärztin, sie schreibt ihn
krank. Er arbeitet trotzdem ein bisschen. Als ihm zwei Wochen später immer
noch schwindelig ist, macht er ein Elektrokardiogramm (EKG). Es misst die
elektrische Aktivität seiner Herzmuskelfasern und wirft eine Kurve des
Herzschlags auf den Bildschirm. Ärzt:innen untersuchen anhaltenden
Schwindel mit einem EKG, weil manchmal eine Herzrhythmusstörung die Ursache
sein kann. Aber Diegos Herz ist gesund und sie schicken ihn nach Hause.
Zwei Wochen später landet er wieder im Krankenhaus. Dieses Mal in der
Notaufnahme. Sein Herz pocht gegen seine Brust wie ein Presslufthammer. Er
befürchtet eine Herzmuskelentzündung. Lina begleitet Diego in die
Notaufnahme und zwei Freunde besuchen ihn dort, bringen Schokolade und ein
Buch mit. Sechs Stunden später ist er wieder zu Hause. Sein Herz sei
gesund, sagen die Ärzt:innen wieder.
Inzwischen ist ein Monat seit der Corona-Infektion vergangen. Diego hat
aufgehört zu rauchen und versucht wieder zu arbeiten. Doch schon nach zwei
Tagen bricht er ab. „Ich sollte damals für unsere Webseite einen kurzen
Text schreiben, so einen Fünfzeiler“, erinnert er sich. „Ich habe
stundenlang auf den Monitor gestarrt und es einfach nicht geschafft.“
Er klappert weitere Ärzte ab. Beim Neurologen, ungefähr fünf Wochen nach
der Infektion, zählt Diego wieder seine Symptome auf. Dieser Arzt spricht
es als Erster aus: Long Covid. Aber vorsichtig und mit Bedacht, als
Möglichkeit, nicht als Diagnose. Er möchte ihn beruhigen, erzählt ihm, dass
sich 90 Prozent der Patient:innen innerhalb von sechs Monaten erholen.
Für Diego ein Schock. Er kann sich nicht vorstellen, so lange krank zu
sein.
Später erzählt er Lina davon. Sie ist vor allem erleichtert, endlich eine
Einschätzung von einer Fachperson zu haben. „Es hat mir richtig Angst
gemacht, weil wir die ganze Zeit nicht wussten, woher der Schwindel und die
Herzschmerzen kamen“, sagt Lina rückblickend. Marga, Diegos Mutter, fühlt
sich in ihrer Befürchtung bestätigt. Für sie habe alles auf Long Covid
hingedeutet. Auch wenn noch nichts sicher ist, haben sie nun etwas, an dem
sie sich festhalten und in eigenen Recherchen abarbeiten können.
Unter dem Begriff Long Covid werden alle Symptome gefasst, die Infizierte
vier Wochen nach der akuten Corona-Erkrankung haben und für die es keine
andere wahrscheinlichere Erklärung gibt. Sprich: Long Covid ist aus
medizinischer Sicht erst nach vier Wochen ein Thema. Dauern die Symptome
drei Monate an, definiert die Weltgesundheitsorganisation (WHO) das als
Post-Covid-Zustand. Umgangssprachlich spricht man trotzdem weiterhin von
Long Covid.
## Die erste Reise und der erste Crash
Die WHO listet über 200 Symptome auf, darunter: Kurzatmigkeit und
Brustschmerzen, Gliederschmerzen, Schlafstörungen, Gehirnnebel, Geruchs-
und Geschmacksverlust und große Erschöpfung, auch Fatigue genannt. Auf
Diego trifft vieles davon zu. Er leidet unter Fatigue, Reizempfindlichkeit
und Gehirnnebel, der zu Konzentrationsschwierigkeiten und
Wortfindungsstörungen führt. In besonders schlimmen Phasen leidet er zudem
unter Schlafstörungen und Gliederschmerzen.
Nach der Diagnose hört sich Diego um. Dem einzigen Menschen in seinem
Bekanntenkreis, der Long Covid hatte, ging es erst nach sechs Monaten
besser. Diego denkt: „Wenn ich mich jetzt konsequent schone, geht das bei
mir bestimmt schneller wieder vorbei.“
Anfangs geht die Strategie auf. So gut, dass er Ende April mit Matteo,
seinem Vater, nach Neapel auf Familienbesuch fliegt. Seine Hausärztin rät
ihm zur Reise, sagt, das werde ihm sicher gut tun. Diegos Mutter Marga ist
skeptisch und fragt: „Glaubst du wirklich, dass das so klug ist?“ Aber
Diego will mit, will rauskommen aus seiner geschrumpften Welt. In Neapel
angekommen, fühlt er sich mal lebendig, mal erschöpft. „Einen Tag habe ich
mit meinem Vater, Onkel und meinem Cousin verbracht. Wir sind manchmal acht
bis zehn Kilometer gelaufen. Am nächsten Tag war ich fertig und auf dem
Energielevel meiner Oma.“
Nach einer Woche reisen Diego und Matteo zurück. Bis hierhin war die Reise
gut verlaufen, doch am Flughafen von Neapel ist die Wartehalle klein und
überfüllt. Alle plappern durcheinander. Das Licht ist grell, die Luft
stickig. Diego findet keinen Rückzugsort, kauert sich mit Kopfhörern in
eine Ecke und starrt die Wand an. Sein Vater kümmert sich um Check-in und
Gepäck.
Kurz vor Abflug kämpft Diego sich trotzdem durch den Duty-Free-Bereich zu
einem Laden mit neapolitanischen Spezialitäten. Er kauft Büffelmozzarella
für Lina und ignoriert dabei die Signale seines Körpers. „Ich konnte mir
schon immer schwer eingestehen, krank zu sein. Meine Beziehung zu meinem
Körper war ziemlich plump maskulin. Mein Körper hatte zu funktionieren“,
sagt Diego im Rückblick.
In Berlin angekommen, rettet er sich irgendwie vom Flugzeug ins Uber und zu
Lina, fällt bei ihr erschöpft ins Bett. Was folgt, ist sein erster Crash.
Ein Begriff aus der englischsprachigen Long Covid Forschung, der den
vollumfänglichen Zusammenbruch nach einer Überforderung des Körpers
beschreibt. Diegos Haut kribbelt, seine Beine werden schwer, seine Sicht
wird unklar. Jeder Reiz ist zu viel. Der Kontrollverlust macht Diego Angst.
Was er da gerade durchlebt, nennt sich in der Fachsprache
Post-Exertionelle-Malaise (PEM). PEM tritt meist einige Stunden nach einer
Überanstrengung auf und hält Stunden, manchmal auch Tage an. Wer die eigene
Belastungstoleranz zu sehr überschreitet, crasht.
„Es ist wie Lampenfieber vor einem großen Vortrag. Nur über Tage“, sagt
Diego. „Und dazu ein Kater und eine Grippe.“ Auch Lina erinnert sich noch
an den Abend: „Es war super hart, mit anzusehen, wie er so leidet, und
gleichzeitig absolut nichts machen zu können.“ Am nächsten Tag ist Lina
unterwegs, Diego schreibt ihr eine Nachricht:
Mein Körper sendet mir momentan einfach total weirde Signale. Aber ich mach
einfach ruhig, mehr kann ich gerade nicht machen:)
Lina antwortet: Mhmm ja, das ist echt bescheuert, aber was anderes als dich
schonen kannst du nicht machen. Das geht bald weg, I know it:)
Diego bleibt weiter bei Lina, kommt jedoch kaum aus dem Bett. Lina muss
arbeiten und Diego sich eingestehen, dass er sich nicht um sich selbst
kümmern kann. Er beschließt, seine Mutter zu fragen, ob er für eine Weile
zu ihr ziehen kann. Sie wohnt in Brandenburg, dort gibt es einen Garten und
weniger Lärm. Diego hofft, sich dort besser fallen lassen zu können.
„Ich bin sofort zur Tigermama geworden“, erinnert sich Marga an das
Telefonat mit Diego. Als sie aufgelegt haben, fährt sie direkt los und holt
ihn ab. In Brandenburg kocht sie für ihn, macht seine Wäsche, holt seine
Medikamente von der Apotheke ab und fährt ihn zu Arztterminen. Damit Diego
auch wortlos kommunizieren kann, hat er sich eine Kuscheltierqualle besorgt
– zum Wenden, eine Seite rosa, die andere Seite blau. Liegt die Qualle rosa
auf der Bettkante, geht es ihm gut. Das heißt, man kann mit ihm reden, er
kann sogar telefonieren. Die blaue Qualle bedeutet, es geht ihm nicht gut,
er braucht Ruhe. „Ich habe jeden Morgen um die Ecke geschielt, um zu sehen,
welche Farbe die Qualle hat“, erinnert sich Marga. In diesen Tagen,
ungefähr fünf Wochen nach dem Besuch beim Neurologen, ist sie meistens
blau. Marga ist erschüttert.
An Blaue-Quallen-Tagen liegt Diego durchgehend im Bett. Selbst an
Rosa-Quallen-Tagen geht er nur mit Ohropax vor die Tür und flüchtet in die
Wohnung, sobald die erste Krähe kräht. Besonders an Rosa-Quallen-Tagen
mutet er sich zu viel zu – und crasht. Wochenlang geht das so. Diego
schreibt Lina aus Brandenburg eine Nachricht.Puh ey, gerade
Hundespaziergang gemacht und ich bin so alle ey … Mich hat’s echt wieder
richtig umgebummst.
Lina antwortet: Ich wünschte, ich könnt irgendwie was dagegen machen.
Diego übernimmt sich, weil er noch nicht realisiert, dass er vieles nicht
mehr kann und vielleicht nie mehr können wird. „Ich konnte überhaupt nicht
gut einschätzen, welche Situationen mich raushauen“, erinnert er sich. Und
er ist eben dieser „Kopf-durch-die-Wand-Typ“, der im
Steh-auf-Männchen-Modus gefangen ist: Sobald es ihm besser geht, wagt er
wieder ein paar Schritte. Wenn ihm nicht schwindelig wird, ein paar mehr.
„Wenn ich es die Wendeltreppe hinunter zum Esstisch schaffe“, denkt er,
„dann vielleicht auch vor die Tür.“ Er habe das Leben mit Long Covid lernen
müssen wie ein Kleinkind das Fahrradfahren. Auf die Fresse, Heulen, weiter.
Schritt für Schritt lernt er so, dass er unter seiner Belastungsgrenze
bleiben muss. Gerade dann, wenn es ihm besser zu gehen scheint.
## Belastungsprobe für die Beziehung
Nach zwei Monaten bei seiner Mutter ist es so weit, er kann sich besser
einschätzen, wieder für sich selbst sorgen. Also zieht er im Sommer 2023
zurück in sein WG-Zimmer nach Berlin. Dort schrumpft sein Leben auf 12
Quadratmeter Intimsphäre, getrennt von der Welt durch Fensterglas und
Handybildschirm. Die Aussichtslosigkeit und die Ungewissheit belasten seine
Beziehungen, auch die zu Lina. „Eben noch waren wir Ende 20, haben uns mit
Freunden getroffen, sind ins Kino gegangen, haben uns gestritten und wieder
vertragen, eine ganz normale Beziehung geführt“, sagt sie. „Plötzlich
wurden wir in dieses neue Leben geworfen.“
Zu Beginn der Krankheit funktionierte sie nur, erledigte stoisch
Alltägliches wie Einkäufe und Post und übernahm das Kümmern, ohne auf sich
selbst zu achten. Dass auch sie an ihre Grenzen stößt, sie mitunter
überschreitet, bemerkt sie erst später und oft zeitversetzt. Irgendwann
wird es auch für sie zu viel. Sie traut sich nicht mehr, negative Gefühle
zu kommunizieren, weil sie Diego nicht belasten will. Sie sucht im Internet
nach Anlaufstellen für Angehörige, findet aber keine Selbsthilfegruppen in
ihrer Nähe.
Manchmal würde Lina gerne ausbrechen aus der Enge des Zimmers, der
Krankheit, der Beziehung. Aber sie will Diego nicht im Stich lassen. Tut
sie es doch einmal, fühlt sie sich schlecht dabei. Die beiden streiten sich
nun häufiger. Über Kleinigkeiten, etwa wenn Lina zu spät kommt oder Diego
sich nicht nach Linas Wohlbefinden erkundigt. Aber eigentlich ging es um
etwas Größeres, sagen sie heute. Um die Trauer über den Verlust von
entspannter Zweisamkeit und die nagende Ungewissheit, ob sie jemals ihr
altes Leben zurückbekommen.
Diegos Vater Matteo hingegen führt sein gewohntes Leben weiter. Außer, dass
er seinen Sohn jetzt weniger sieht und das Fußballritual wegfällt. Sie
telefonieren zwar noch oft, aber treffen kann er Diego nur noch in dessen
Wohnung und das gefällt Matteo nicht, also sehen sie sich immer seltener.
Diego glaubt, dass seine Krankheit seinem Vater Angst macht. „Es ist
schmerzhaft zu sehen, dass er mit der Situation nicht umgehen kann.“
Gleichzeitig wird Diegos Bekanntenkreis kleiner. Nach seinem Umzug zurück
nach Berlin merkt er, dass ihm nur noch eine Handvoll enger Freunde
bleiben. Er trifft keine Menschen auf Geburtstags- und Familienfeiern mehr,
lernt keine neuen Leute kennen. Bekannte erkundigen sich nach ihm, aber
melden sich selten persönlich. Im Stich gelassen fühlt er sich von ihnen
nicht. Alle wichtigen Menschen, außer seinem Vater, sind für ihn da. An den
Rest stellt er keine großen Erwartungen. Als ein Freund gesammelte
Videobotschaften von Freundesfreunden an ihn sendet, bricht Diego trotzdem
in Tränen aus.
Irgendwann beginnt er, sich selbst zu informieren, tritt Long-Covid-Gruppen
auf Facebook bei, telefoniert mit anderen Betroffenen. Wie viele andere
wird er zu einer Art Laienexperte, weil ihm die Ärzte nicht weiterhelfen
können.
## Er recherchiert auf eigene Faust
Nachts im Bett, wenn er nicht einschlafen kann, obwohl er sich chronisch
erschöpft fühlt – denkt er, dass er zurück zu seiner Mutter muss, und dort
für den Rest seines Lebens im Erdgeschoss vor sich hin vegetieren wird. In
diesen dunklen Stunden liest er viel über das chronische
[3][Fatigue-Syndrom (ME/CFS)], das bei fast der Hälfte der
Long-Covid-Patient:innen auftritt und von dem Diego und sein jetziger Arzt
glauben, dass auch er betroffen sein könnte.
Die Multisystemerkrankung äußert sich in extremen, episodischen
Erschöpfungszuständen und ist als die schwerste Form von Long Covid
bekannt. Sie trat jedoch bereits lange vor der Pandemie auf, häufig als
Folge von Virusinfektionen. Die Zahl der Betroffenen liegt Schätzungen
zufolge etwa bei 0,1 bis 0,7 Prozent.
Die Weltgesundheitsorganisation hat das Syndrom bereits 1969 als
neurologische Erkrankung klassifiziert. Das ist über 50 Jahre her. Doch
noch immer gilt die genaue Ursache als ungeklärt. Deshalb streiten sich
Ärzte auch über die richtige Behandlung. Ein Teil von ihnen rät
Betroffenen, sich unter ihrer individuellen Belastungsgrenze zu bewegen.
Das Konzept nennt sich Pacing, Englisch für „das Tempo angeben“. Die
anderen empfehlen möglichst viel Aktivität, zum Beispiel körperlich
herausfordernde Rehas.
Bis heute gibt es kein zugelassenes Medikament gegen ME/CFS – auch, weil
die Forschung lange vernachlässigt wurde. Ein Beitrag im
Wissenschaftsmagazin Science spricht von einer „Unterfinanzierung, die in
keinem Verhältnis zur Langzeitbelastung der Betroffenen steht“. Betroffene
wie Diego vermuten: „Hätte die medizinische Forschung früher mehr Zeit und
Geld in die Erforschung von ME/CFS investiert, könnte einem großen Teil der
Betroffenen heute besser geholfen werden.“ Nachweisen lässt sich das
rückwirkend nicht.
Die Bundesregierung kündigte jedenfalls im November 2023 an, 180 Millionen
Euro für die Erforschung von Long Covid und die Entwicklung medikamentöser
Therapien bereit zu stellen. Das ist jedoch schwierig, solange die
Forschenden die Unterformen nicht anhand sogenannter Biomarker, also
messbarer biologischer Merkmale, die auf eine bestimmte Krankheit
hindeuten, unterscheiden können. Deshalb werden derzeit nur sogenannte
Off-Label-Medikamente zur Behandlung von Long Covid eingesetzt. Das sind
Medikamente, die eigentlich für die Behandlung anderer Krankheiten
zugelassen sind.
Diego hält die Symptome, das Warten und die Hilflosigkeit irgendwann nicht
mehr aus. Auch er fängt an, sich mit Off-Label Medikamenten selbst zu
behandeln. In Facebookgruppen, in Zeitungsartikeln, im Internet: Überall
berichten Betroffene davon, welche Medikamente oder Behandlungen ihnen
geholfen haben. Darunter auch Blutwäsche für mehrere Tausend Euro. Diego
aber probiert sich erst mal durch alle möglichen Medikamente, für die er im
Schnitt um die 150 Euro ausgibt. „Ich habe mich dabei gefühlt wie ein
Lottospieler“, erinnert er sich später.
Zuerst nimmt er Antihistaminika. Sie sollen allergische Symptome wie
Atemnot oder Hautausschlag lindern, die sich zum Teil mit Diegos leichteren
Symptomen überschneiden. Sie schlagen an, aber es geht ihm nicht wirklich
besser. Dann versucht er es mit niedrig dosiertem Naltrexon (LDN). Das
Medikament wirkt entzündungshemmend. Aber er verträgt es nicht, bekommt
Kopfschmerzen und Durchfall und ist noch erschöpfter als vorher. Als
Nächstes empfiehlt ihm ein Arzt Statine. Auch sie wirken
entzündungshemmend. Das Medikament verbessert seine Symptome, doch schon
bald entwickelt Diego Nebenwirkungen wie Muskelschwäche. Er setzt es wieder
ab. „Es ist schwer mit anzusehen, wie er abends seine Medikamentenschachtel
vorsortiert“, sagt Lina.
## Selbstheilung und tiefe Dankbarkeit
Obwohl keines der Medikamente komplett anschlägt, fühlt er sich im
Spätsommer besser. Diego und Lina fahren sogar eine Woche in den
Schrebergarten von Linas Stiefvater, der direkt an der Havel liegt. Die
Sonne scheint, alles ist grün. Diego nimmt Hummeln und Frösche wahr und
erfreut sich daran. Er meditiert viel. Abends trinken Lina und er im Lokal
nebenan Weinschorle.
Zum ersten Mal seit Neapel fühlt er sich wieder lebendig. Das ständige
Mit-dem-Kopf-gegen-die-Wand-Rennen, das Nicht-Akzeptieren-Wollen – in
diesem Moment kommt es ihm weit weg vor. Er empfindet eine so tiefe
Dankbarkeit gegenüber den Menschen, die ihm etwas bedeuten, dass er
manchmal weinen muss. Kurz darauf findet er endlich einen Arzt, der sich
wirklich mit [4][Long Covid] auszukennen scheint. Ein Lungenarzt, der
selbst an Long Covid erkrankt ist, aber noch eingeschränkt arbeitet. Der
Pneumologe spricht mit ihm auf Augenhöhe, das bedeutet Diego viel und er
fühlt sich zum ersten Mal gut aufgehoben. Marga und Lina sind erleichtert.
Und auch mit Lina geht es wieder aufwärts. Es hilft, dass es ihm besser
geht als im Frühsommer. Vor allem aber hat sie sich verändert. Sie nimmt
sich mehr Freiheiten, weiß früher, wann sie eine Pause braucht und
gestattet sie sich. „Wenn ich immer nur in der Verzweiflung drin bleibe,
hilft das auch nichts“, sagt sie. Also vereinbart sie Grenzen mit sich
selbst und hält sie ein, zum Beispiel einen Abend für sich zu haben, oder
zu sagen: „Heute möchte ich nicht über die Krankheit reden.“
Auch Diego ist nicht mehr ganz der, der er mal war. Er sei sensibler und
milder gegenüber sich selbst und anderen geworden, habe mehr Empathie mit
älteren und schwächeren Menschen, sagt er im März 2024. Als ein Bekannter
einmal meinte, dass eine Krankheit auch eine Chance sei, wurde er trotzdem
wütend. „Eine Krankheit ist keine Chance, sondern eine fucking
Einschränkung“, sagt Diego. „Es geht darum, einen gesunden Umgang damit zu
finden, und das ist mir echt schwergefallen.“
## Als chronisch Kranker auf Wohnungssuche
Und der nächste Kleinkrieg lauert schon im Briefkasten. Noch bekommt er
Krankengeld, aber die Krankenkasse droht ihm damit, es vorzeitig zu
streichen. Ihre Bedingung für eine Weiterzahlung: Er soll sofort eine Reha
machen. Diese hatte er auf Anraten einer Ärztin im Frühsommer 2023
beantragt. Aber weil Diego auf Facebook gelesen hat, dass es vielen anderen
Betroffenen nach einer Reha wieder schlechter ging, und sein
Long-Covid-Arzt sich in Diegos Fall unsicher ist, weigert er sich.
Sein Streit mit der Krankenkasse findet in einem Klima statt, in dem
erstmals öffentlich über die Aufarbeitung der Pandemie gestritten wird. Für
Menschen wie Diego ist Corona jedoch nicht vorbei. „Ich trage immer noch
Maske und mache immer noch Tests“, sagt er. „Ich stecke in den
Gepflogenheiten der Pandemie noch voll drin.“ Er verstehe, dass die
Gesellschaft erst mal Ruhe vor Corona wolle. Eine kritische Aufarbeitung im
Sinne von: „Was haben wir da erlebt? Und was haben wir verloren?“ fände er
trotzdem wichtig.
Auch die Wohnsituation bereitet Diego Sorge. Seine Mitbewohnerin verdient
zum ersten Mal genug, um sich die Wohnung alleine leisten zu können. Für
Diego bedeutet das: Wohnungssuche als chronisch Kranker. Zu WG-Castings
kann er nicht gehen, und dass sich jemand auf seine Bewerbung meldet,
bezweifelt er. „Ich bin im Schnitt 23 Stunden zu Hause, bin lärmempfindlich
und liege viel im Bett. Bad und Küche kann ich putzen, aber danach brauche
ich ein paar Tage Ruhe. Wer möchte so jemanden schon bei sich in der
Wohnung haben?“, fragt sich Diego.
Nach einem Jahr Long Covid kann Diego sich nicht mehr vorstellen, wie es
ist, komplett symptomfrei zu leben. Manchmal wacht er morgens auf und merkt
bis auf einen leichten Tinnitus nichts weiter. Dann geht er einen Kaffee
trinken und setzt sich für ein paar Minuten in die Sonne. Aber irgendwann
kommen sie wieder angeschlichen, die Symptome. Er wird dann müde, setzt
sich die Schlafmaske auf, steckt Ohropax ins Ohr und legt sich ins Bett.
21 Apr 2024
## LINKS
[1] https://www.bmg-longcovid.de/infobox/wissenswertes-fuer-erkrankte-und-inter…
[2] /Aufarbeitung-der-Pandemie-Massnahmen/!5999073
[3] https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC9589726/
[4] https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/NCOV2019/FAQ_Liste_Gesundheitliche_Langze…
## AUTOREN
Enno Schöningh
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