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# taz.de -- Selbsthilfe bei Long Covid: Meine Demo im Liegen
> Vor fünf Jahren erschien der Hashtag #LongCovid erstmals auf Social
> Media. Es war der Beginn einer Online-Bewegung Betroffener. Unsere
> Autorin ist Teil davon.
Bild: Wenn das Gesundheitssystem nicht weiter weiß und das Haus nicht mehr ver…
Am Anfang war der Hashtag. Der Tweet, den [1][die italienische
Wissenschaftlerin Elisa Perego am 20. Mai 2020 absetzte] – ein Hinweis auf
langanhaltende Covid-Symptome –, bekam gerade mal einige Dutzend Likes. Und
doch setzte der Begriff, den sie darin nutzte, etwas in Bewegung:
#LongCovid wurde zum digitalen Echo der Pandemie.
Es dauerte nicht lange, bis der Hashtag sich verbreitete. In der Frühphase
der Pandemie nutzten ihn Tausende Betroffene, die sich im Vakuum der
medizinischen Ahnungslosigkeit online austauschten, um auf Symptome
aufmerksam zu machen. Nur drei Monate später griff sogar die WHO den Namen
auf und erklärte ihn zur offiziellen Bezeichnung.
Das ist ein Novum: Long Covid ist „das erste Krankheitsbild, das dadurch
entstanden ist, dass Patienten sich auf Twitter und anderen sozialen Medien
gefunden haben“, schrieb Elisa Perego 2021. Long Covid ist so sehr mit
einer Graswurzelbewegung verbunden, dass die Anthropologin Nasima Selim
empfiehlt, [2][den Begriff ausschließlich mit Hashtag zu verwenden:
#LongCovid].
Was folgte, war kein klassischer medizinischer Diskurs, sondern ein
kollektives Suchen und Sprechen in digitalen Räumen. Der Hashtag wanderte
durch Online-Räume, von Twitter – heute X – über Foren bis zu Instagram,
Facebook, Youtube und in Messengergruppen bei Whatsapp, Signal und
Telegram. Bis heute.
Doch #LongCovid steht nicht nur für eine der am häufigsten auftretenden
chronischen Krankheiten weltweit – der Hashtag prägt bis heute das Leben
vieler Betroffener. #LongCovid symbolisiert eine soziale Bewegung, eine
heterogene Community, die sich seit fünf Jahren auf Social Media formt.
Ich bin mittendrin, Teil dieser Bewegung, dieser Community. Seit drei
Jahren begleitet mich der Hashtag im gleichen Maße wie meine Symptome. Im
Mai 2022 wurde bei mir Long Covid diagnostiziert, von meinem Hausarzt, der
neben der Diagnose zwar Verständnis, aber keinen Rat hatte. Fast alles, was
ich über die Krankheit weiß, habe ich auf Social Media gelernt.
Ich bin arbeitsunfähig, verrentet und behindert. Seit drei Jahren kann ich
die Wohnung kaum verlassen. Drei Jahre, in denen ich mich mit dem Hashtag
täglich auf die Suche mache nach Linderung, nach Austausch, nach Mut.
Wenn ich morgens aufwache, öffne ich die Visible-App, entwickelt von dem
[3][britischen Long-Covid-Betroffenen Harry Leeming]. Ich habe Visible vor
zweieinhalb Jahren auf Twitter entdeckt, da war gerade die Betaversion
online. Seitdem messe ich mit der Kamera des Smartphones täglich Daten zu
meinem Herzschlag und gebe meine Symptome und meine Schlafqualität ein.
Die App berechnet daraus einen Stabilitäts-Score, der mir zeigt, wie
belastbar ich an dem Tag bin. Ist zum Beispiel mein Ruhepuls höher als
gewöhnlich, deutet das auf einen sogenannten Crash hin, eine
Verschlimmerung aller Symptome, die zu absoluter Ruhe zwingt, manchmal
viele Wochen lang. „Sei heute freundlich zu dir selbst“, bittet mich die
App an solchen Tagen und erinnert mich daran, mich zu schonen.
Das Programm soll mich beim Pacing unterstützen, einem
Krankheitsmanagement, das hilft, die passende Balance zu halten zwischen
Belastung und Erholung. Wie viele Long-Covid-Betroffene habe ich
[4][ME/CFS, eine schwere Krankheit]. CFS steht für Chronisches
Fatigue-Syndrom.
Der Name ist irreführend, denn das Leitsymptom ist nicht Müdigkeit, sondern
die sogenannte PEM, die post-exertionelle Malaise. Das ist eine spezifische
Form der Belastungsintoleranz, die ein sorgfältiges Abwägen aller
Anstrengungen erfordert. Schon ein Telefonat zu viel kann einen Crash
auslösen. Viele der genauen Mechanismen der Erkrankung sind immer noch
ungeklärt, aber [5][Studien belegen], dass dabei unter anderem der
Energiestoffwechsel und [6][das Immunsystem] gestört sind.
ME/CFS kann durch unterschiedliche Viren verursacht werden, also nicht nur
durch Covid. Als Anfang 2020 aus Wuhan erste Berichte über das neue Virus
gemeldet wurden, warnte die ME/CFS-Community auf Social Media vor den
postviralen Symptomen, die Covid hervorrufen könnte. [7][@longcovidman]
schrieb 2022 auf Twitter: „Gott segne all die resilienten
#mecfs-Veteran:innen, die uns strauchelnde #longcovid-Neulinge aufgenommen
und uns behutsam eingeweiht haben.“
Auch wenn Long Covid und ME/CFS nicht identisch sind (nicht alle
Long-Covid-Betroffenen entwickeln ME/CFS, nicht jedes ME/CFS ist
post-Covid), so sind die Krankheiten doch vielfältig verbunden, nicht nur
medizinisch, sondern auch in ihrem Krankheitserleben. Zudem überschneiden
sich die Communities; der Hashtag #mecfs wird besonders häufig mit
#LongCovid zusammen benutzt.
Nach der Messung mit der Visible-App, noch im Bett, greife ich mir ein
Gerät zur Vagusnerv-Stimulierung. Der [8][Vagusnerv wird von SARS-Cov2
angegriffen], das habe ich schon kurz nach meiner Infektion in einem Text
gelesen, der auf Twitter geteilt wurde. Der Nerv ist entscheidend für die
Kommunikation zwischen dem Gehirn und den inneren Organen. Ich unterstütze
ihn täglich mit Atemübungen.
Seit einem Jahr nutze ich dazu auch ein Gerät, für dessen Kauf viele meiner
Follower*innen und Freund*innen in einer Fundraising-Aktion gespendet
haben. Ich klemme mir das Gerät ans Ohr, es fließen Mikroimpulse durch den
Kontakt und stimulieren den Nerv, während ich mit Schlafmaske daliege, und
gleichmäßig atme, um den Effekt zu unterstützen.
## Die Krankheit betrifft viel häufiger Frauen
Ich schnappe mir mein Handy und öffne Instagram. Der Algorithmus weiß, was
mich beschäftigt, und spült mir #LongCovid-Reels, Stories und Postings in
die Timeline. Am Mittwoch um 19 Uhr bietet [9][@me_hilfe_ev] einen
virtuellen Schweigespace in einem Insta-Live an. Der Großteil des Contents
wird von nicht-männlichen Personen gestaltet und veröffentlicht, was nicht
verwundert, betreffen Long Covid und ME/CFS doch Frauen [10][etwa dreimal
häufiger als Männer]; auch trans* und nicht-binäre Menschen [11][haben ein
höheres Risiko].
Da ist die Podcasterin [12][@visavieofficial], die ihren mehr als
Viertelmillion Followern regelmäßig von ihrer Long-Covid-Erkrankung
berichtet, von der Typ-1-Diabetes, die sie entwickelte, den absterbenden
Zellen in ihrem Herzmuskel. [13][Margarete Stokowski], Bestsellerautorin,
ist seit mehr als drei Jahren erkrankt. Never forget ihre Liste von Dingen,
die ihr gegen Long Covid schon empfohlen wurden, darunter Thomas Mann
lesen, koksen, Penetrationssex, Netflix und positiv denken.
Da ist Synchronsprecherin und Musikerin Mia Diekow, die zu den ersten
Betroffenen in Deutschland gehört und die [14][Initiative Long Covid
Deutschland] mitgegründet hat, die auf Facebook sehr aktiv ist. Die
erkrankte Designerin [15][@sophsoph.psd] entwickelt Sticker, Poster,
T-Shirts, Caps und Kampagnen mit Long-Covid-Slogans. Die schwer an ME/CFS
erkrankte Regisseurin Sibylle Dahrendorf twittert aus dem Bett und drehte
von dort aus die Arte-Dokumentation [16][„Chronisch krank, chronisch
ignoriert“].
Und da ist Dania Alasti, die vor ihrer Erkrankung Doktorandin in
Philosophie war und ein Buch über Frauen in der Novemberrevolution schrieb.
Auf ihrem Instagram-Profilbild sieht man sie lächeln, die Sonne hinter ihr
wirft einen Strahlenkranz in ihr Gesicht. Alasti veröffentlicht auf ihrem
Account kurze Gedichte, die sie in Crashphasen zwar nicht aufschreiben, an
die sie sich aber erinnern konnte.
Die meisten dieser Mit-Kranken habe ich nie gesehen, habe nie mit ihnen
gesprochen. Wir schicken wir uns kurze Nachrichten in den DMs, wir liken
unsere Stories, kommentieren Posts. „Die Long-Covid-Community im Netz war
meine Rettung“, schreibt mir Dania Alasti. Nach ihrem ersten Crash schickte
ihr eine betroffene Freundin Informationsvideos von Long Covid Deutschland.
Erst da verstand Alasti die Wucht, die Belastung die Long Covid noch
zeitverzögert entwickeln kann und wie sie diesem Risiko vorbeugen kann.
Ich habe elf Nachrichten in einem meiner Selbsthilfechats. In den Gruppen
teilen wir [17][Erfahrungen mit den Erkrankungen und Therapieversuchen],
wir schreiben über die Herausforderungen, die die radikale Verkleinerung
unserer Lebensräume mit sich bringt. Wir tauschen Adressen von Ärzt*innen
aus, die bestimmte Medikamente verschreiben, wir geben einander Trost und
Tipps im Crash (D-Ribose 3 mal 5 g am Tag, Magnesium und Elektrolyte hoch
dosieren) und freuen uns, wenn es einer* mal ein paar Tage gut geht.
In Gruppen wie diesen entsteht so etwas wie eine geteilte Wirklichkeit, das
Gefühl, nicht allein zu sein. Teil davon ist ein vielstimmiger „Symptom
Talk“, wie Anthropologen den Austausch über die vielfältigen Symptome
nennen. Das sind Gespräche, die nicht nur die über 200 Symptome benennen
und diskutieren, sondern auch Zusammenhalt stiften.
„In diesen Onlineräumen geschieht so etwas wie ein Worlding, ein making
worlds together,“ schreibt mir Lisa Wiedemann, die in Hamburg zu
Verflechtungen von chronischem Kranksein und Digitalität forscht. Die
Formulierung stammt von der Feministin Donna Haraway. Making worlds
together. Wir schaffen uns eigene Welten. Genauso fühlt es sich an.
Ich liege noch immer im Bett, morgens sind die Symptome oft am schlimmsten.
Aber jetzt steh ich wohl mal auf. Wobei, erst noch die Salztabletten mit
den Elektrolyten nehmen, die @yumadino empfohlen hat. Die sollen gegen POTS
helfen, [18][das sogenannte Posturale Tachykardiesyndrom], eine der vielen
Begleiterkrankungen meiner Diagnose. Mehrere Studien zeigen, dass bei
Long-Covid-Betroffenen das Blut nicht optimal ins Gehirn transportiert
wird. Indem ich vor dem Aufstehen ein großes Glas Wasser trinke und diese
Tabletten schlucke, versuche ich, die Blutmenge zu vergrößern und Symptome
wie Schwindel zu lindern.
Okay, jetzt aber wirklich aufstehen, rüber in die Küche, frühstücken. Die
Handgriffe sind fast jeden Tag gleich: Tasse rausstellen, Wasser aufsetzen,
Tee aufbrühen. Medikamente und Nahrungsergänzungsmittel bereitlegen
(L-Lysin, L-Glutamin, Omega 3, Lions Mane, Ginseng, B12, Coemzym Q10).
Haferflocken kochen, Apfel schneiden. Abläufe im Alltag zu wiederholen ist
Teil des #TheRestTest, einer Versuchsreihe auf X, bei der Betroffene ein
System entwickeln, um so viel Energie wie möglich zu sparen.
Entscheidungen kosten Kraft, ein Mittel dagegen sind Routinen. Ich gehe
duschen, ein paarmal die Woche geht das. Im Sitzen natürlich, so will es
#TheRestTest. Danach erst mal Pause. Schlafmaske auf, Ohrenstöpsel rein und
eine halbe Stunde nichts, nur atmen.
Als Menschen, für die das Internet oft der letzte erreichbare Raum ist,
sind wir Long-Covid-Kranken auch zur Zielgruppe geworden. Auf Instagram
preisen mir Anzeigen teure Präparate an, Vitamine, Aminosäuren,
Mineralstoffe. Die Kapseln und Pülverchen sind in allen Selbsthilfe-Chats
ein Dauerthema, weil immer wieder neue Studien erscheinen, die positive
Wirkungen auf bestimmte Symptome andeuten.
Es ist eine schwierige Balance: Probiere ich all die
Nahrungsergänzungsmittel aus, auch wenn es nur wenige Erkenntnisse dazu
gibt? Neben der finanziellen Belastung, die das bedeuten kann (ich habe in
den vergangenen Jahren geschätzt den Gegenwert eines gebrauchten
Kleinwagens geschluckt), können die Mittel in bestimmten Kombinationen oder
Dosierungen sogar schaden.
## Health-Influencerinnen verkaufen Versprechen
Vor allem auf Instagram tauchen auch immer mehr selbsternannte Health
Influencer*innen auf, die für viel Geld Healing-journey-Programme
anbieten. Man brauche nur das richtige Mindset, heißt es da, dann könne man
ME/CFS überwinden. @mia_diekow hat dem gefährlichen Phänomen jüngst mehrere
Reels gewidmet. Keine Frage: Atemübungen und Meditation können sich positiv
auf die Krankheitsbewältigung auswirken. Aber Heilung im medizinischen
Sinne bedeutet das nicht. ME/CFS lässt sich nicht wegatmen – sonst wäre ich
längst gesund.
Trotzdem bleibt die Bereitschaft, Dinge auszuprobieren. Seit einigen Wochen
klebe ich mir nach dem Duschen ein Nikotinpflaster aufs Bein. I’m late to
the party: Marco Leitzke, Oberarzt der Helios-Klinik im sächsischen
Leisnig, hatte bereits 2023 in einer Studie die Hypothese formuliert, Long
Covid könne mit einer Störung der Signalweiterleitung an Nervensynapsen
zusammenhängen – ein Mechanismus, den Nikotin beeinflusst. Die Idee war
spekulativ, doch sie traf auf eine Community, die offen ist, für Linderung
alles Mögliche zu testen – auch handelsübliche Nikotinpflaster auf
Körperteile zu kleben.
In der Facebook-Gruppe „The Nicotine Test – Patients helping Patients“
tauschen sich mehr als 23.000 Betroffene über die Wirkung aus. Auf der
Facebook-Seite werden Tutorials bereitgestellt, Erfahrungsberichte über
Erfolge und Misserfolge dokumentiert, Rückmeldungen systematisch gesammelt.
Ins Leben gerufen wurde die Gruppe Anfang 2023 von einem norwegischen
Betroffenen, der Leitzkes Paper gelesen hatte. „Viele verzweifelte
Hilfesuchende wurden dadurch in einen Zustand der Selbstwirksamkeit
versetzt“, schreibt Leitzke mir. Zunächst war er Admin der Gruppe, jetzt
fungiert er vor allem als Supervisor und schreitet ein, wenn es dringende
medizinische Fragen gibt. Leitzke spricht über die Gruppe mit Respekt, aber
auch mit Vorbehalt: Die Bewertung der Effekte bleibe subjektiv, der
wissenschaftliche Standard fehle. [19][Und doch: Aus dem Austausch wurde im
März 2025 eine Folgepublikation.]
Die #LongCovid-Community wird zum Impulsgeber der Forschung. Und zu ihrem
Multiplikator. Kaum wird irgendwo auf der Welt ein neuer Forschungsbericht
oder eine Studienreihe veröffentlicht, beginnt das Posten auf allen
Kanälen. Auch ich stelle die Ergebnisse in meine Stories, retweete und
like, und hoffe, dass sich auch Leute außerhalb der Community für das
[20][„Broken Bridge Syndrom“, also geschrumpfte Teile meines Gehirns], oder
die defekte Natrium-Kalium-Pumpe in meinen Mitochondrien interessieren.
Die Informationsgewinnung über Long Covid auf Social Media geht weit über
das Beispiel des Nikotinpflasters hinaus. Betroffene arbeiten mit
Forschenden zusammen, sie sensibilisieren für zentrale Symptome, initiieren
Umfragen, dokumentieren Therapieversuche. Die „Patient-Led Research
Collaborative for Long COVID“ sammelt Daten und wertet sie aus.
Das Citizen-Science-Projekt @remissionbiome postet regelmäßig auf X
Ergebnisse seiner Forschungsreihen experimenteller Therapien am eigenen,
kranken Körper. Dieses „patient*innengetriebene Wissen“ hat – so schreib…
es die Wissenschaftlerinnen Elisa Perego und Felicity Callard in ihrem
Essay „How and why patients made Long Covid“ – Einfluss darauf, wie Long
Covid verstanden wird, und könnte darüber hinaus das Verständnis von
medizinischer Wissensproduktion generell verändern.
Ich ziehe mich an. Wieder liegen, Kraft sammeln für eine Haushaltseinheit.
Abspülen, staubsaugen, Wäsche waschen, Wäsche abhängen, Wäsche
zusammenlegen, ich muss mich entscheiden. Mehrere Punkte auf meiner Liste
kann ich nie abarbeiten, selbst an sehr guten Tagen. An schlechten Tagen
wende ich die [21][30-Sekunden-Regel an, die ich auf Youtube gelernt habe].
Jetzt wird es kurz ein bisschen medizinisch. Weil das Blut von ME/CFS und
Long-Covid-Betroffenen nicht optimal zirkuliert, kommt es zu
Sauerstoffmangel. Diese Unterversorgung versucht der Körper durch
schnelleres Atmen und höheren Herzschlag auszugleichen. Klappt das nicht,
stellt der Körper auf eine andere Form der Energiegewinnung um, bei der als
Nebenprodukt Laktat entsteht, Milchsäure. Es gibt die Hypothese, dass diese
Übersäuerung auch die zeitversetzten Belastungsfolgen wie Fatigue, also
extreme körperliche Schwäche, mitverursacht.
Weil die Laktatausschüttung nach 30 Sekunden der Unterversorgung beginnt,
entwickelten Sportmediziner eine Handlungsanweisung für Betroffene:
Bewegungen im Alltag sollen konsequent in 30 Sekunden-Intervalle
fraktioniert werden, auf eine halbminütige Belastung folgt eine mindestens
halbminütige Unterbrechung. Eine Praxis, die Disziplin erfordert.
Der Abwasch ist erledigt. Wenn es gut läuft, schaffe ich es morgen, das
Schlafzimmer zu saugen. Ich wärme mir einen Teller Suppe auf, setze mich an
den Küchentisch. Maximal 15 Minuten kann ich sitzen, dann muss ich mich
hinlegen. Rollo runter, Schlafmaske auf, Ohrenstöpsel rein. Mittagsschlaf.
Jedenfalls hoffe ich auf Mittagsschlaf. In Wirklichkeit wälze ich mich 20
Minuten herum und gebe dann auf. Ich checke meine Nachrichten. The Meal
Train hat was auf Telegram geschrieben, sie wollen wissen, welche
Nahrungsunverträglichkeiten ich habe. Ich schreibe: Histamin-, Laktose- und
Glutenintoleranz. Der Meal Train fährt seit einigen Wochen durch Berlin.
Über Telegram vernetzen sich Freiwillige, um schwer erkrankten und
behinderten Menschen alle zwei Wochen warmes Essen vor die Tür zu stellen.
Darunter sind Long-Covid- und ME/CFS-Betroffene, von denen viele, so wie
ich, so schwer betroffen sind, dass Einkaufen und Kochen selten oder nie
möglich sind.
## #LongCovid ist eine Reaktion auf eine Lücke
Beim Meal Train werden sie durch ein Freiwilligenteam versorgt, Ausgaben
werden über eine Spendenkampagne auf GoFundMe finanziert. Der Meal Train
ist ein Beispiel für Care Webs, Netzwerke der Fürsorge und praktischen
Hilfe, die informell und improvisiert auch auf Social Media entstehen. Mein
Handy leuchtet kurz auf, jemand schreibt in den Meal- Train-Chat, dass die
Brokkoli-Suppe für nächste Woche mit Dill gewürzt ist und ob das ok ist.
Ich schicke ein Herz, gerührt von der Fürsorge dieser mir unbekannten
Person, vergrabe den Kopf ins Kissen. Diesmal schlafe ich ein.
Für den Nachmittag hatte ich eigentlich geplant, Behördenpost zu erledigen.
Der Antrag auf den Pflegegrad liegt schon monatelang herum. Ich weiß nicht,
ob es die Überforderung ist, die diese Dokumente in meinem Zustand
auslösen, oder die Scham, die damit verbunden ist, pflegebedürftig zu sein.
Statt meinen Antrag auszufüllen, setze ich mich aufs Sofa und nutze die
halbe Stunde, die ich nachmittags aktiv verbringen kann, für diesen Text.
Ich sortiere all die Beobachtungen, Gedanken und Screenshots zum Hashtag,
die ich in den vergangen drei Jahren gesammelt habe.
Community, Aufklärung, Forschung – all das klingt wie eine gelungene
Solidarisierungspraxis, nach einem Lehrstück in Selbstermächtigung. Doch es
gibt auch die andere Seite: Das Engagement macht eine Lücke sichtbar, eine
Leerstelle. Alles, was rund um #LongCovid seit fünf Jahren getwittert und
gepostet wird, ist Ausdruck eines strukturellen politischen und
medizinischen Versagens. @maosbot bringt es schon 2022 auf den Punkt:
„Rückblickend war das Einzige, das mich davon abhielt, mit #LongCovid noch
kränker zu werden, nicht meine Ärzte, nicht mein Arbeitgeber, nicht die
Gesundheitsbehörden – sondern eine Ansammlung von kranken Fremden auf
Twitter.“
Der Long-Covid-Betroffene Harry Leeming entwickelte seine Visible-App nicht
aus Langeweile, sondern aus Verzweiflung [22][aufgrund mangelnder
medizinischer Versorgung]. @sophsoph.psd klärt auf Social Media über Long
Covid und ME/CFS auf, weil es auch im sechsten Jahr mit dem Virus keine
großangelegten staatlichen Infokampagnen über die Krankheiten gibt. Der
Meal Train fährt, weil schwerkranke Menschen unversorgt zu Hause bleiben.
Was der Staat nicht leistet, wird kollektiv getragen.
Diese Leerstellen sind Ausdruck politischer Entscheidungen. In die Körper
und Lebensweisen der Betroffenen schreibt sich die Versorgungslücke ein,
die fehlenden Therapien, die bürokratischen Hürden auf dem Weg zum Bezug
von staatlich organisierten Transferleistungen. Die #LongCovid-Community
ist der Effekt einer neoliberalen Verantwortungsverschiebung auf das
Individuum, einer Privatisierung des Gesundheitswesens.
## Hass als Nebenwirkung des Onlineaktivismus
Der Aktivismus, der sich aus dieser Vernachlässigung entwickelt, ist auch
eine Art Notwehr. Denn er findet oft aus der Horizontalen statt. Viele
Betroffene sind körperlich so eingeschränkt, dass klassische Protestformen
wie Demonstrationen für sie nicht möglich sind. Aber das, [23][was die
Sozialwissenschaftlerin Arseli Dokumaci „Mikroaktivismus“ nennt], kleine,
konkrete Handlungen im Alltag, die soziale Veränderung anstoßen können, das
schaffen wir. Ein Like, ein Retweet, das Teilen eines Beitrags, das sind
für viele Long-Covid-Erkrankte Widerstandspartikel, auch für mich.
Dieser patient*innengeführte Aktivismus, wie
Sozialwissenschaftler*innen das Phänomen beschreiben, baut auf den
Erfahrungen vieler Pionier*innen auf. Etwa dem Aktivismus der
HIV/AIDS-Bewegung und Formen digitaler Proteste in den 2010er-Jahren, die
die Facebook-Revolutionen hervorbrachten.
Die [24][#LemonChallengeMECFS], bei der Prominente wie Robert Habeck und
das Team von Werder Bremen mit einem Biss in eine Zitrone auf die Krankheit
aufmerksam machen, erinnert an die „Ice Bucket Challenge“ für die
neurologische Erkrankung ALS auf Facebook 2014.
Damals schütteten sich Prominente Eiswasser über den Kopf. Es geht bei
dieser Art Aktivismus nicht nur um Likes und Retweets, sondern zum Teil
auch um richtig viel Geld. 2025 gelang es Long- Covid-Aktivist*innen in den
USA, [25][geplante Kürzungen der Forschung des National Institute of Health
unter Trump abzuwenden]. Millionen an Fördergeldern wurden nach
öffentlichem Druck erneut bereitgestellt.
Aber auch Netzwerken und Bildschirmzeit rauben Kraft. Die Ärztin Natalie
Grams begrenzt ihre Social-Media-Zeit vorsorglich auf 15 Minuten am Tag.
Grams hat das Buch geschrieben „Entschuldigen Sie bitte, dass ich störe,
aber wir müssen über Long COVID und ME/CFS reden“ und ist selbst betroffen.
In Reels, aufgenommen in Etappen an besseren Tagen, klärt sie auf. An
vielen Tagen liest sie konsequent keine Posts von anderen, um [26][sich vor
einer Reizüberflutung zu schützen]. Jede neue Studie, jeder
Therapievorschlag, jede Meldung darüber, dass Pflege abgelehnt wird, jeder
Post darüber, dass jemand Sterbehilfe beantragt hat, ist Konfrontation mit
der eigenen Ohnmacht.
Natalie Grams kennt auch den Hass, eine andere Nebenwirkung der
Sichtbarkeit. 2022 verließ sie Twitter, [27][nachdem ihre Kollegin
Lisa-Marie Kellermayr nach massiven Drohungen durch Impfgegner Suizid
beging]. Grams schreibt mir: „Ich blocke teilweise präventiv. Ich
diskutiere im Gegensatz zu früher auch nichts mehr. Ich antworte maximal
einmal.“
Auch ich bekomme, sobald ich auf X etwas über Long Covid teile, bei fast
jedem Post Relativierungen und Hassnachrichten in die Kommentare. „Ich
überlege jeden Tag, wann ich meinen Account wieder schließe“, schreibt die
Ärztin Grams. Nicht nur die Belastung, die das Klicken und Scrollen mit
sich bringt, sieht sie kritisch – auch die Haltung des Meta-Konzerns, zu
dem Instagram gehört.
An den allermeisten Plattformen, auf denen wir agieren, verdienen Menschen,
die eine Welt der Starken propagieren. Grams sieht zur Zeit trotz allem
keine Alternative für Instagram, „gerade für Themen, die von der
Öffentlichkeit noch nicht als wichtig erachtet werden“. Ob sich Social
Media als sicherer Ort für chronisch Erkrankte jemals gestalten lässt?
Es dämmert, die Amsel singt auf dem Dach gegenüber. Ein Fahrer vom Meal
Train klingelt, er trägt Maske und reicht mir zwei Schraubgläser mit Suppe.
Ich packe sie ins Gefrierfach und mache mir die Portion von gestern warm.
Die Sonne geht unter, ich lege mir die Pillen für den Abend zurecht,
Ashwagandha, Melatonin, Magnesium, Vitamin C, Quercetin und ein
Anti-Histaminikum.
Bevor ich meine Atemübungen mache, scrolle ich durch meine
#LongCovid-Screenshots der vergangenen drei Jahre. An einem Bild bleibe ich
hängen. Da steht auf Englisch: „Die Geduld, die Gnade und die Stärke dieser
Gruppen sind unglaublich. So viel Vernachlässigung und Gewalt zu trotzen,
bei allen Widrigkeiten. Ich habe nichts als Respekt.“ Ich weine ein
bisschen. Weil alles schon so furchtbar lange dauert. Weil ich nicht weiß,
ob es jemals vorbei sein wird. Und weil es gut tut, gesehen zu werden.
19 May 2025
## LINKS
[1] https://x.com/elisaperego78/status/1263172084055838721?ref_src=twsrc%5Etfw%…
[2] https://www.youtube.com/watch?v=OEK1SxpdNUc
[3] https://www.theguardian.com/society/2022/nov/28/long-covid-the-patient-whos…
[4] /Gespraech-mit-Marina-Weisband/!5816151
[5] https://www.mecfs.de/was-ist-me-cfs/pathophysiologie/
[6] /Suche-nach-Long-Covid-Therapie/!6061830
[7] https://x.com/longcovidman
[8] https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC10412500/#:~:text=Vagus%20nerve%20…
[9] https://www.instagram.com/me_hilfe_ev/
[10] https://jamanetwork.com/journals/jamanetworkopen/fullarticle/2829454
[11] https://www.transresearch.org.au/post/long-covid
[12] https://www.instagram.com/visavieofficial/?hl=de
[13] /Margarete-Stokowski/!a179/
[14] https://longcoviddeutschland.org/ueber/
[15] https://www.instagram.com/sophsoph.psd/
[16] https://www.arte.tv/de/videos/108997-000-A/chronisch-krank-chronisch-ignor…
[17] /Long-Covid/!6061866
[18] https://www.aerzteblatt.de/archiv/posturales-tachykardiesyndrom-in-deutsch…
[19] https://link.springer.com/epdf/10.1186/s42234-025-00167-8?sharing_token=TS…
[20] https://www.millionsmissing.de/2025-04-14-broken-bridge-syndrome/#gsc.tab=0
[21] https://www.youtube.com/watch?v=LdkSdAOsfWg
[22] /Covid-und-seine-Folgen/!6057396
[23] https://read.dukeupress.edu/south-atlantic-quarterly/article-abstract/118/…
[24] https://mecfs-research.org/lemonchallengemecfs/
[25] ttps://www.nature.com/articles/d41586-025-00995-3
[26] /Long-Covid/!6003992
[27] https://www.derstandard.at/story/2000137876127/von-coronaleugnern-bedrohte…
## AUTOREN
Jana Petersen
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