| # taz.de -- Long Covid: Meine Jahre im Fiebertraum | |
| > Mit Anfang 20 erkrankt unsere Autorin an Long Covid und muss lernen, wie | |
| > flüchtig Zukunftspläne sind. Über Freunde, die helfen, das Bett neu zu | |
| > beziehen – und ein bisschen Glück im Spiel. | |
| Bild: Wenn Belastung bedeutet: duschen. Kochen. Zu viel Licht. Fernsehen. Weine… | |
| Als ich das erste Mal Corona bekam, war ich gerade 23 geworden. Es war die | |
| letzte sogenannte „Winterwelle“, in der noch strenge Maßnahmen gegen die | |
| Pandemie ergriffen wurden. November 2021. Heute bin ich 26 und behaupte | |
| meistens, 25 zu sein, denn die vergangenen Jahre fühlen sich an, als hätte | |
| ich was verloren. | |
| Das erste Jahr verbrachte ich größtenteils zu Hause, im zweiten Jahr fiel | |
| es mir immerhin leichter, rauszugehen. Im dritten Jahr sah es kurz so aus, | |
| als hätte ich mein Leben ein Stück weit zurück: Im Rahmen einer Studie | |
| bekam ich ein [1][zum Wundermittel hochgejazztes Medikament]. Das erste | |
| Mal, seitdem all das begonnen hatte, glaubte ich tatsächlich an Heilung | |
| statt nur an besseres Krankheitsmanagement – bis die Studie abrupt zu einem | |
| Ende kam. | |
| Aber von vorn. | |
| In Woche drei nach meiner ersten Corona-Erkrankung kann ich plötzlich nicht | |
| mehr atmen. Ich wende mich an die 116 117, den ärztlichen Notdienst. Die | |
| Dame am Telefon sagt mir, ich hätte eine Panikattacke. Mit einer | |
| Wärmflasche auf der Brust würde sich der normale Atemrhythmus schnell | |
| wieder einstellen. Ärztliche Betreuung brauche ich keine, denn ich sei ja | |
| jung und gesund. „Jung und gesund“ – seitdem ich jung und krank bin, bin | |
| ich nie häufiger so bezeichnet worden. | |
| Seit diesem Tag kann ich nicht mehr atmen. Also natürlich, ich atme und | |
| lebe. Aber mein Atem ist anders, mein Leben auch. Eingeschränkt, das ist | |
| das Wort, das ich andauernd benutze und das ich begonnen habe zu hassen, da | |
| es zu klinisch und nüchtern klingt für den Verlust, den es beschreiben | |
| soll. | |
| „Ich hatte Covid, bei mir lief es nicht so gut, ich kann nicht mehr gut | |
| atmen, fühle mich immer noch sehr schwach, und leide unter starken | |
| Kopfschmerzen – aber das wird schon wieder“, erzähle ich mir und anderen. | |
| Doch aus wenigen Wochen, von denen ich dachte, der Uni fernbleiben zu | |
| müssen, werden Jahre. | |
| Währenddessen ist mein Instagram-Feed voll mit After-Covid-Content: Besuche | |
| in Kneipen, Clubs und Bars, alles wird nachgeholt. Die Pandemie ist vorbei | |
| – yay! – also zumindest für die anderen. Ich bekomme das mit, weil ich | |
| stundenlang im Bett liege oder im Wartezimmer sitze und dabei meinen Feed | |
| auswendig lerne. Post-Covid-Zustand, unbestimmt. | |
| Meine Hausärztin erkennt, dass auf meinem Genesungsweg etwas schiefzulaufen | |
| scheint. Helfen kann sie nicht. Mehrmals untersucht sie mein Blut, doch bis | |
| auf ein paar Unstimmigkeiten lässt sich daraus kein eindeutiges | |
| Krankheitsbild ablesen. Mir geht es wirklich nicht gut. Ich fühle mich | |
| schwach wie bei einer echten Grippe, ich werde immer schwerfälliger, immer | |
| müder. Nonstop habe ich Kopfschmerzen, nehme leichtfertig fast jeden Tag | |
| Aspirin, da ich denke, bald ist es vorbei. Dazu kommen Herzprobleme, denn | |
| mein Herz schlägt zu schnell und reguliert sich nicht von selbst. Ich kann | |
| mich nicht mehr belasten, ohne dass alle Symptome teils wochenlang noch | |
| viel schlimmer werden. „Belastung“ bedeutet für mich von nun an: duschen. | |
| Mir etwas zu Essen kochen. Mich mit meinem Freund streiten. Weinen. Nicht | |
| weinen. Zu laut fernsehen. Zu viel Licht. Treppen (ganz schlimm). Manchmal | |
| länger als zwei Minuten am Stück stehen. Telefonieren. Lesen. Lange sitzen. | |
| Meine Haare kämmen. | |
| Ständig erschrecke ich mich vor meinem Körper, ekele mich sogar. Mein | |
| Körper ist mir fremd und nicht mehr der eigene, und dafür, dass ich ihn | |
| nicht kenne, kommt er mir ständig zu nah. Meine Gedanken sind gleichzeitig | |
| so vernebelt, dass ich kaum merke, wie sie vor sich hinziehen. | |
| Ich habe starke Wortfindungsstörungen und schäme mich dafür. Mich gut | |
| ausdrücken zu können, das war mir immer wichtig gewesen, doch ich kann mich | |
| nicht mehr erklären. Andauernd verschlägt es mir die Sprache, ich | |
| wiederhole mich, muss alle zwei Sätze tief Luft holen. Ich treffe Freunde | |
| nur noch in meinen eigenen vier Wänden, mit ungewaschenen Haaren, im | |
| unaufgeräumten Zimmer. Manchmal schaffe ich es raus, wenn die Fußwege kurz | |
| und meine Tagesform gut ist. Doch die meisten meiner Freunde empfange ich | |
| im Bett. Kannst du mir beim Einkaufen helfen? Kannst du mir beim Abtrocknen | |
| helfen? Können wir zusammen mein Bett neu beziehen? | |
| Mir fällt es nicht leicht, nach Hilfe zu fragen, ich spiele Dinge herunter. | |
| Rückblickend hat mir das nichts außer Stress gebracht, ich würde es nicht | |
| empfehlen. Ich bin genervt von meinem eigenen Leid und sehne mich danach, | |
| über etwas anderes zu sprechen, an etwas anderes zu denken. Immer wieder | |
| gerate ich in emotionale Not, etwa wenn mein Freund mich fragt, ob ich bei | |
| einer gemütlichen Runde dabei sein möchte. Wie kann ihm nicht klar sein, | |
| dass das viel zu anstrengend ist, what the fuck? Noch schlimmer fühle ich | |
| mich aber, wenn er nicht fragt, ob ich dabei sein möchte. Hat man mich | |
| schon vergessen? | |
| Eine Freundin erzählt mir auf meine Nachfrage hin, warum sie sich so wenig | |
| bei mir melde, dass sie einerseits mit meinem Zustand überfordert sei. Und | |
| andererseits hole er bei ihr die Angst hoch, ihr könne das mit der nächsten | |
| Covid-Infektion auch passieren. Ihre Worte lösen irgendwas zwischen Trauer | |
| und Entsetzen in mir aus. Warum entfernen sich manche so weit von mir? Wie | |
| sehr darf mich das bedrücken? Auch viel später, als es mir besser geht, | |
| merke ich, dass da eine Lücke klafft zwischen mir und denen, die sich mit | |
| meinem kranken Selbst nicht auseinandersetzen wollten. | |
| Der Schmerz darüber, nicht teilhaben zu können, sitzt so tief, dass ich | |
| aufhöre, mich nach dem Outdoor-Leben meines Umfelds zu erkundigen. Auf | |
| Instagram stelle ich alle Leute stumm, die ständig Party machen oder | |
| verreisen, ich entfolge Clubs und DJ-Kollektiven. Mein tägliches Ziel ist | |
| es, mich abends nicht schlechter zu fühlen als am Morgen. Trotzdem gehe ich | |
| versehentlich immer wieder über meine Grenzen, denn sie verschieben sich | |
| ohne erkennbares Muster. Ich kaufe mir Häkelzeug, doch weil es meine | |
| Handmuskeln zu stark beansprucht, höre ich mit dem Häkeln schnell wieder | |
| auf. | |
| Stattdessen schaue ich „Monk“ auf ZDFneo, oder „Sissi“. Die Folgen | |
| wiederholen sich zwar, aber das stört mich nicht. Ob Monk, der eigenartige | |
| Detektiv, meinen Fall wohl lösen könnte?Ich warte weiter darauf, dass mir | |
| jemand eine Diagnose stellen kann, die über „Post-Covid-Zustand, | |
| unbestimmt“ hinausgeht. | |
| Einmal lande ich in der Notaufnahme, eine Ärztin hatte mich dorthin | |
| geschickt, weil sie einen Herzinfarkt vermutete. Dort wird mir dann | |
| Pilates empfohlen. Ernsthaft. An guten Tagen schaffe ich zehn Minuten Yoga | |
| für ältere Leute, das gibt es auf Youtube. Heute weiß ich, dass mein | |
| Herzrasen, meine Übelkeit, meine Schwäche ganz normaler Long-Covid-Alltag | |
| waren. | |
| ## Endlich kriegt das Leiden einen Namen | |
| Warum mich schon meine erste Covid-Infektion schachmatt gesetzt hat, lässt | |
| sich bis heute nicht erklären. Im Sommer 2022 mache ich bei einer Studie in | |
| Erlangen mit, die helfen soll, Diagnosekriterien für Long Covid zu | |
| bestimmen. In Erlangen erlebe ich das erste Mal keine Fragezeichen in den | |
| Augen der Mediziner*innen. Die Fragebögen, die ich ausfülle, zeigen mir, | |
| dass ich nicht alleine bin, denn jedes meiner Symptome steht dort drauf. | |
| Ich erfahre, dass Long Covid eine postvirale Erkrankung ist, die man schon | |
| als Folge von Pfeifferschem Drüsenfieber, Ebola oder der ersten Sars-Welle | |
| kennt. Viele Menschen mit einer postviralen Erkrankung entwickeln | |
| [2][ME/CFS] – kurz für Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches | |
| Fatigue-Syndrom – und werden über die Jahre schwerkrank, eine vollständige | |
| Heilung ist sehr selten. Langsam dämmert mir, dass ich mich länger als ein | |
| halbes Jahr damit werde herumschlagen müssen. | |
| Besonders symptomatisch für ME/CFS sind PEM – Post-Exertionelle Malaisen. | |
| Das heißt, dass sich Symptome nach kleinster Belastung stark verschlimmern. | |
| Manche sagen, eine PEM fühle sich so an, als sei man vergiftet worden. In | |
| meinem Fall bedeutet es, dass die Fatigue sich verschlimmert, meine | |
| Herzfrequenz viel zu hoch bleibt, mein Atem noch schwerer wird und mein | |
| Kopf noch schlimmer schmerzt. Eine PEM kann lange anhalten, man spricht | |
| daher auch von einem Crash. | |
| Im Sommer fahren mein Freund und ich zu einer Long-Covid-Ambulanz außerhalb | |
| Berlins. Die Reise ist für mich eine riesige Anstrengung, obwohl mein | |
| Freund mir das meiste abnimmt. Mit einem Stapel an Werten kehre ich zurück, | |
| übergebe sie aufgeregt und vorfreudig meiner Hausärztin. Ich bin mir | |
| sicher, jetzt kann man mich reparieren. Doch stattdessen: Schulterzucken. | |
| Das etwa sechshundertste Mal in diesem Jahr liege ich in den Armen meines | |
| Freundes und weine. Aber nicht zu viel, das macht mein Herz sonst nicht | |
| mit. Ich melde mich beim Fatigue-Zentrum der Charité an, dort sagt man mir, | |
| die Warteliste läge im höheren vierstelligen Bereich. Aber was bleibt mir | |
| denn noch? | |
| Wenn ich kann, lese ich Studien und recherchiere über mögliche | |
| Krankheitsmechanismen. Ich verstehe kaum etwas und trotzdem mehr, als viele | |
| Ärzt*innen, die sich nie mit Long Covid befasst haben. Ungefähr jede Frage, | |
| die sich mir aufdrängt, beantworten sie mir mit einem: Man weiß es noch | |
| nicht. | |
| Heute weiß ich, dass diese Wissenslücken fatale Folgen haben können. Denn | |
| eigentlich wäre es wichtig, dass Ärzt*innen [3][über Pacing aufklären]. | |
| Ich lese davon das erste Mal, kurz bevor ich mich zu einem Geburtstag | |
| hinschleppen will, für den ich eigentlich viel zu schwach bin. Pacing | |
| bedeutet, die eigenen Energieressourcen nicht auszuschöpfen, sondern zu | |
| schonen, zum Beispiel mithilfe einer Smartwatch, die den Herzrhythmus | |
| überwacht. Macht man das nicht, kann sich der eigene Zustand durch die | |
| stetige Überlastung sogar verschlechtern. Chronifizierung nennt sich das. | |
| In einer aktuellen Patientenbefragung zu möglichen Hilfsmitteln und | |
| Medikamenten in der Bewältigung von Long Covid schneidet Pacing bei weitem | |
| am besten ab. Dabei hilft Pacing lediglich, ein niedriges Gesundheitsniveau | |
| zu halten. Auf große Teile des Lebens zu verzichten ist auch fünf Jahre | |
| nach Pandemiebeginn, die beste Option, die wir Menschen mit Long Covid und | |
| ME/CFS zum Management ihrer Krankheit anbieten können. Medikamente, die | |
| nachweislich gegen Long Covid helfen, gibt es nicht. Ein Ansatz ist daher, | |
| Medikamente auszuprobieren, die bei anderen Erkrankungen helfen. Natürlich | |
| immer mit dem Risiko, dass es nicht hilft oder die Symptome sogar schlimmer | |
| macht. | |
| Im Oktober 2022 finde ich einen Hausarzt, der in seinem Profil angibt, Long | |
| Covid zu behandeln. Ich bin aufgeregt. Zwei Stunden lang machen wir Tests. | |
| Er bittet mich, meinen Verlauf zu beschreiben, und beendet meine Sätze, | |
| denn er kennt das Krankheitsbild. Er hat die Pandemie als Arzt auf einer | |
| Intensivstation verbracht. Covid greift die Blutgefäße an, dadurch richtet | |
| es vor allem da große Schäden an, wo die Gefäße sehr klein sind, etwa in | |
| der Lunge, in Organen oder auch auf der Netzhaut. In meinem Fall sei das | |
| Endothel, also die Zellschicht an der Innenfläche der Blut- und | |
| Lymphgefäße, beschädigt. | |
| Dieses Wissen teile ich von nun an mit meinen Freund*innen und stelle | |
| fest, dass Ende 2022 kaum jemand wirklich verstanden hat, was Covid | |
| eigentlich ist. Dass man, wie ich, Long Covid einfach so bekommen kann, | |
| ohne irgendwelche Vorerkankungen. Und dass es sehr viele Menschen betrifft. | |
| Ich fühle mich, als würden wir in einer Parallelrealität leben. | |
| Mein neuer Arzt ist zuversichtlich, die Entzündungen mit Cortison in den | |
| Griff zu bekommen. Ich würde vielleicht nicht hundertprozentig die Alte | |
| werden, aber zu neunzig Prozent, das versichert er mir. Eine Reha schließt | |
| er aus, da meine Belastungsgrenze viel zu niedrig sei. Meinen Puls solle | |
| ich stets unter 100 halten in meinem aktuellen Zustand, bei maximal zehn | |
| Minuten Bewegung pro Tag, Kochen und Einkaufen miteinbezogen. Pacing. Meine | |
| Diagnose: Chronisches Fatigue-Syndrom, CFS. | |
| Ich verlasse die Praxis weinend. Nicht, weil man mir, 24 Jahre alt, gerade | |
| gesagt hat, dass ich wohl nicht wieder vollständig gesund werde. Sondern | |
| weil mir endlich jemand zuhört und mich versteht. Drei Monate lang nehme | |
| ich täglich Cortisontabletten und Betablocker und spüre, wie es mir nach | |
| und nach immer besser geht. Ich habe Glück. Meine Reizempfindlichkeit sinkt | |
| und kehrt in diesem Ausmaß auch nicht wieder zurück, ich kann mich wieder | |
| stärker belasten und vor allem kann ich wieder klarer denken, rausgehen. | |
| Manchmal schaffe ich es sogar in die Uni. | |
| Nach vielen Monaten werden meine Gedanken für mich endlich wieder greifbar, | |
| und ich erschrecke mich, falle in einen Zustand von Depression, weine und | |
| weine und weine. Ich beweine meine Jugend, ich beweine meine Hilflosigkeit, | |
| ich beweine meine Einsamkeit und dass ich mich traumatisiert fühle. Ich bin | |
| nun ein Jahr krank, aber ich kann immer noch nicht ganz verstehen, was mit | |
| mir passiert ist. Ich fühle mich, als hätte mich eine Welle mitgerissen, | |
| Kopf unter Wasser, und ich sei ganz woanders und völlig desorientiert | |
| wieder angespült worden. | |
| Über meinen Gefühlsausbruch reagieren die meisten in meinem näheren Umfeld | |
| eher erleichtert. Man hatte sich Sorgen gemacht, weil ich das ganze zu | |
| abgekühlt wegzustecken schien, irgendwie apathisch. Andauernd sagte man mir | |
| damals, ich sei so stark im Umgang mit der Krankheit. Danke für das | |
| Kompliment, I guess. Dabei war ich die meiste Zeit einfach nur verwirrt und | |
| konnte keinen klaren Gedanken fassen. Jetzt, wo ich wieder denken kann, | |
| suche ich mir eine Verhaltenstherapie. | |
| Der Psychotherapeut, für den ich mich entscheide, hat den gleichen | |
| Nachnamen wie mein Hausarzt. Ich will das Glück, das ich mit diesem Namen | |
| bisher hatte, weiter ausschöpfen. Nach ein paar Sitzungen erzähle ich ihm, | |
| dass ich gehofft hatte, er würde einfach feststellen, ich sei verrückt | |
| geworden. Denn anders als Long Covid könnte man das ja heilen. Stattdessen | |
| üben wir Pacing und die Akzeptanz, dass sich mein Leben durch die Krankheit | |
| verändert hat. | |
| Doch der nächste Crash kommt und er kommt gewaltig. Zu neunzig Prozent die | |
| Alte sein habe ich mir wirklich anders vorgestellt. Geht das jetzt mein | |
| ganzes Leben so weiter? Ich möchte schreien, doch das wäre zu anstrengend. | |
| Was habe ich falsch gemacht? | |
| Ich beichte meinem Arzt, dass ich ein paar Mal geraucht habe. Ich mache | |
| das, um mir eine Normalität vorzugaukeln, die es nicht mehr gibt. An den | |
| Zigaretten habe es sicherlich nicht gelegen, beruhigt er mich. Aber woran | |
| sonst, das weiß auch er nicht. Wieder und wieder nehme ich in der Folge | |
| Cortison, komme aber nie wieder auf das Hoch vom Beginn. | |
| Mit jedem Crash, den ich danach habe, hinterfrage ich meine Zukunftspläne | |
| weiter. Jedes Mal, wenn ich bemerke, dass die Kraft zum Duschen nicht | |
| ausreicht, die Luft beim Sitzen schon wegbleibt und Zigaretten wirklich, | |
| wirklich doof für mich sind, verliere ich meine Hoffnung, wieder normal | |
| leben zu können. Eigentlich will ich zu dem Zeitpunkt mit dem Studium | |
| fertig sein, dann raus aus Berlin. | |
| Mithilfe meines Therapeuten übe ich Akzeptanz und den Umgang mit krassen | |
| Tiefs. In meinem Umfeld erfahre ich von einer Person, die seit 25 Jahren | |
| unter ME/CFS leidet und auf Pflege angewiesen ist. Ich probiere, mich damit | |
| abzufinden, krank zu sein. Das kommt bei vielen nicht gut an. Ich solle | |
| doch bloß die Hoffnung nicht aufgeben. Wie sehr mich die wiederkehrende | |
| Frustration schmerzt, darüber, dass es nicht besser, sondern schlechter | |
| wird, wollen sie nicht sehen. Wenn Freund:innen mich fragen, was ich am | |
| meisten vermisse, Ausgehen oder Reisen?, dann sage ich: Atmen. | |
| Damals lerne ich den Unterschied zwischen Hoffnung und Urvertrauen. | |
| Urvertrauen bedeutet: Am nächsten Tag geht die Sonne auf. „Monk“ wird im | |
| Fernsehen laufen. Nie sehe ich nach, welche Folge mich erwarten würde, es | |
| bleibt eine nette Überraschung. Und Hoffnung? Eine Freundin, die jetzt | |
| schon weiß, dass sie im Laufe ihres Lebens unter den Folgen einer komplexen | |
| genetischen Erkrankung leiden wird, erzählt mir von ihrem Konzept der | |
| Hoffnung. Zu jedem Zeitpunkt im Leben eine gute Zeit haben zu können, das | |
| ist es, was sie sich wünscht. Wir reden darüber, gemeinsam in ein | |
| bedürfnisgerechtes Haus zu ziehen, falls wir beide nicht mehr so gut | |
| können. Ohne Treppen und mit Auto. Wir werden obskure ältere Damen, ich in | |
| extravagantem Outfit, sie eher in Funktionskleidung, wahrscheinlich im | |
| Rollstuhl. Vielleicht haben wir ein Huhn. | |
| Doch ich habe mit dem Begriff Hoffnung weiter so meine Schwierigkeiten, | |
| denn über mir schwebt andauernd das Risiko einer Reinfektion. Mein Arzt | |
| warnt mich ständig davor, trägt, während er das sagt, aber keine Maske. | |
| Im November 2023 passiert es dann. Ich habe zum zweiten Mal Covid. Schon | |
| Wochen davor geht es mir so schlecht wie zu keinem Zeitpunkt nach meiner | |
| Cortisontherapie. Ich habe Angst. Ich frage mich, wie mein kranker Körper | |
| eine weitere Covidinfektion wohl verkraftet, wenn schon die erste aus mir | |
| eine chronisch Kranke gemacht hat. Doch diesmal erhole ich mich schneller | |
| und bin etwa eine Woche in Isolation, statt vier, wie beim letzten Mal. Es | |
| ist jetzt Weihnachten. Ich verbringe Heiligabend auf der Couch von | |
| Freunden. Ich esse Dönerpizza und trinke einen Liter Fanta. Es geht mir | |
| besser, mental ganz in Ordnung, vielleicht liegt’s aber auch am Zucker. | |
| ## Ich muss nicht wieder wie früher werden | |
| Das neue Jahr, das dritte mit Long Covid, beginne ich mit einer weiteren | |
| Cortisonrunde und zunehmender Verzweiflung, wie es weitergehen soll. Ich | |
| habe keinen Bock mehr, mich ständig weiter unter den Druck zu setzen, | |
| wieder die Alte zu werden. Denn ich bin jetzt eine andere Person und kann | |
| einiges besser als noch vor zwei Jahren, einiges schlechter. Laufen, atmen, | |
| all das geht nicht mehr so gut. Aber ich kann besser auf mich aufpassen und | |
| weiß, wo meine Grenzen liegen. | |
| Ich brauche nun wieder Unterstützung, um mein Bett zu machen. Die Decke ist | |
| zu schwer, um Hilfe bitten einfacher. Einkaufen kann ich nicht, putzen auch | |
| nicht. und über Restaurantbesuche denke ich nicht mal nach. Vielleicht | |
| kaufe ich mir einen Goldfisch? Den Gedanken, mir etwas Leben in mein Zimmer | |
| zu holen, finde ich schön. | |
| Wie die meisten Menschen, die etwas Schlimmes erlebt haben, habe ich eine | |
| Art entwickelt, darüber zu erzählen, die mich emotional nicht so sehr | |
| berührt. Ich hülle mich in Floskeln, und wenn ich gut pace, wirke ich | |
| einigermaßen agil. Das heißt, wenn ich hauptsächlich zu Hause bleibe, | |
| maximal 15 Minuten am Stück langsam gehe, nicht schwer hebe, nicht zu warm | |
| dusche, nicht lange und aufwendig koche, nicht zu lange am Stück sitze oder | |
| mich konzentriere. Mein Ruhepuls von 120 ist nur dann sichtbar, wenn ich | |
| meine Smartwatch trage, die piepst, sobald meine Herzfrequenz die 125 | |
| übersteigt. Was manchmal schon im Sitzen der Fall ist. | |
| Das Piepsen soll mich erinnern, dass ich nicht jung, gesund und unbesiegbar | |
| bin, sondern mich regulieren muss, langsam zu machen. Auch mein Umfeld soll | |
| es daran erinnern, denn krank sehen Leute aus, die Grippe haben, nicht ich. | |
| Grund ist der Hollywood-Flawless-Filter von Charlotte Tilbury, ein Bronzer | |
| mit etwas Glitzer für einen ebenmäßigen Teint, der mir regelmäßig das | |
| Kompliment einbringt, ich würde von innen strahlen. Lol. Gekauft habe ich | |
| mir ihn nach einem der vielen frustrierenden Arztbesuche im Sommer 2023, | |
| als ich beschloss, nicht so scheiße aussehen zu wollen, wie ich mich | |
| fühlte. Immerhin kann ich so etwas Distanz schaffen zwischen dem, was in | |
| mir drin geschieht, und dem, was man mir ansieht. Gleichzeitig kann ich | |
| kaum Small Talk führen, ohne dass ich das Gefühl habe, einen bedeutenden | |
| Teil von mir zu verheimlichen. Äußerlich soll man zwar nicht sehen, wie es | |
| mir geht, aber es wegzuschweigen fühlt sich auch falsch an. | |
| Im Februar 2024 erzählt mir dieselbe Freundin, die mich schon auf die | |
| Studie in Erlangen gestoßen hatte, dass in Berlin für eine Studie mit dem | |
| Medikament BC007 geworben wird. Schon wenige Tage später sitze ich im | |
| Wartezimmer der Charité und bereite mich auf ein Screening vor, das | |
| feststellen soll, ob ich die richtigen Biomarker habe, um teilnehmen zu | |
| können. Gesucht wird nach einer bestimmten Gruppe Autoantikörper, also | |
| Antikörpern, die das eigene Gewebe angreifen. | |
| Im Screeningraum begegne ich vielen anderen Long-Covid-Erkrankten und weiß | |
| seither, wieso ich Selbsthilfegruppen meide: Sie machen mir Angst. Die | |
| meisten Personen sind unter 50, einige unter 30. Viele tragen | |
| vollverdunkelte Sonnenbrillen, Gehörschutz, Masken sowieso. Jede Person in | |
| diesem Raum weiß genau, dass Covid der Auslöser ist für die Vielzahl an | |
| lebensverändernden Symptomen. Einige sind in meinem Alter, sitzen im | |
| Rollstuhl oder liegen auf dem Schoß ihrer Begleitung. Ich merke, dass es | |
| richtig war, in meinem Kopf immer wieder auch Szenarien durchzuspielen, in | |
| denen ich auf Pflege oder Hilfsmittel angewiesen wäre. Wo würde ich dann | |
| leben und mit wem? Wie würde es mir gehen? | |
| Kurz darauf, im Frühjahr 2024, kriege ich die Info, dass ich für die | |
| Studienteilnahme geeignet bin. Auf der Agenda stehen zwei Infusionen, | |
| Placebo oder Medikament. Natürlich frage ich mich, ob ich verrückt geworden | |
| bin, ein Medikament zu nehmen, das bisher wenig erforscht ist. Aber | |
| vielleicht klappt es ja, denke ich und futtere meine Salamisticks, während | |
| ich am Tropf hänge und 70 Selfies mache. Eventuell wird das ein | |
| historischer Moment, eine Auferstehung, so kurz nach Ostern auch noch. | |
| Außerdem habe ich in der Woche davor absurderweise etwas Geld im Lotto | |
| gewonnen. | |
| In der Nacht nach der ersten Infusion schwitze ich höllisch, ich habe | |
| Kopfschmerzen, meine Lymphknoten sind geschwollen. Am Morgen danach wache | |
| ich das erste Mal seit Monaten ohne Herzrasen auf. Einen Monat später | |
| verschiebe ich eigenständig Möbel in meinem Zimmer, ohne dass es mir | |
| schlechter geht. Ich arbeite jetzt vom Schreibtisch, nicht vom Bett. | |
| Zwischendrin erlebe ich fünf Tage lang einen Crash, doch dieser Zustand | |
| endet abrupt, und auch Monate später merke ich, dass es mir weiter stetig | |
| besser geht. | |
| Nach den Ups und Downs der vergangenen Jahre traue ich meinem Körper kaum, | |
| wenn er mir signalisiert, Energie zu haben. Doch meine Muskeln bauen Kraft | |
| auf, das bemerkt auch meine Physiotherapeutin, die mir hilft, dieses | |
| fehlende Vertrauen in meinen Körper wiederherzustellen. | |
| Zwei Monate später sitze ich bei einem Konzert und kann nicht glauben, was | |
| passiert: Mein Körper scheint zu heilen, außerdem ist Frühling. Den Sommer | |
| 2024 erlebe ich wie einen Film, er kommt mir vor wie Jahre. In einem Tag | |
| passiert mehr als in einem Monat. Ich weine vor Freude, als ich nach einem | |
| Brunch duschen gehe, um später auszugehen. | |
| Viele meiner Freund*innen können nicht glauben, wenn ich jetzt munter und | |
| energetisch irgendwo auftauche. Meinen zweiten 25. Geburtstag feiern wir | |
| ausgelassen und ich bade in der Anwesenheit meiner engsten Freund*innen | |
| und lauter Musik. | |
| Mit vielen alten Bekanntschaften tue ich mich allerdings oft schwer. Seit | |
| ich gesünder bin, wollen plötzlich alle über meine Krankheit reden. Wie es | |
| denn so ist, wenn langsam alles wieder besser wird, wie es mir „jetzt | |
| gerade so wirklich“ geht, fragen mich Leute, die mir in den Jahren zuvor | |
| nicht mal eine Nachricht schreiben wollten. Weil sie mein gesundes Ich | |
| gekannt haben und glauben, wir hätten eine Vertrautheit, die die letzten | |
| Jahre überdauert hätte, ignorieren sie die Jahre dazwischen. Sie springen | |
| von Pre-Covid-Shayna zu Post-Post-Covid-Shayna. | |
| Doch da ist eine Distanz zwischen ihnen und mir. Wenn ich ausgehe, in | |
| Restaurants oder Bars, verlasse ich die Außenbereiche nicht. Die meisten | |
| Innenräume betrete ich nur mit Maske, denn ich kann mich auf keinen Fall | |
| erneut mit Covid anstecken. Das muss ich meistens erklären. Und fühle mich | |
| dann wie ein Alien, das von einer anderen Galaxie berichtet. Gibt’s Corona | |
| überhaupt noch? Und ob ich mir denn sicher sei, dass es Covid und nicht die | |
| Impfung einige Monate vorher war? Oder die schlechte Luft in Berlin? | |
| Die, die nicht fragen, haben stattdessen aufbauende Worte für mein tolles | |
| Mindset übrig: Ich hätte es ja geschafft, denn ich sei so stark! Ich hätte | |
| ja nicht aufgegeben und es sicher auch verdient. Statt zu antworten „So ein | |
| Quatsch, Gesundheit muss man sich nicht verdienen und tatsächlich bringt | |
| mir das doofe Sternchen in meinem Hausaufgabenheft fürs Starksein exakt gar | |
| nix, also geh mir bitte weg!!!“, lächele ich meistens und hoffe auf ein | |
| Ufo, das mich mitnimmt. | |
| Ich denke dann an die anderen, die mit Long Covid in abgedunkelten Zimmern | |
| liegen und stark sind, aber krank bleiben. Das hier ist keine | |
| Heldinnenstory, ich habe nichts besiegt, weil ich es mir verdient habe. | |
| Stark ist man nicht, weil man in Anwesenheit von Schmerz auch Freude | |
| empfindet. | |
| Natürlich erkenne ich an, dass ich meinem Körper sorgfältig gegenüber war | |
| und auf ihn höre, wenn er sagt, es ist zu viel. Doch nichts half | |
| ansatzweise so viel wie eine Infusion, die ich durch eine große Portion | |
| Glück bekam. Glück hatte ich auch, weil Cortison mir aus dem Gröbsten | |
| raushalf und ich auf Mediziner*innen traf, die meine Erkrankung ernst | |
| nahmen. Verdient haben das auch die anderen, die im Bett liegen und | |
| vielleicht sogar den Kopf in den Sand stecken. Man darf das machen und hat | |
| trotzdem beste Gesundheit und Versorgung verdient, finde ich. | |
| ## Treppen sind weiterhin meine Feinde | |
| Nun bin ich dabei, die sorgsam sortierten Akten in meinem Kopf abzuheften. | |
| Der Ordner trägt den Titel „Fiebertraum“, denn so ganz kann ich nicht | |
| begreifen, was in den vergangenen Jahren passiert ist und dass mich zwei | |
| kleine Infusionen aus diesem Zustand befreit haben. Ich kann jetzt fertig | |
| studieren und mich um mich sorgen. Wenn ich mich verausgabe, erhole ich | |
| mich davon schnell. Treppen sind weiterhin meine Feinde, an Sport ist noch | |
| nicht zu denken, aber es geht bergauf. | |
| Ich gebe nun besser auf mich acht, darauf bin ich stolz. Mit meinem jungen, | |
| gesunden Selbst habe ich allerdings Schluss gemacht. Die Beziehung hat mich | |
| nicht mehr glücklich gemacht. Wir haben uns auseinandergelebt, und meistens | |
| kann ich das akzeptieren, auch wenn das viel Wut und Trauer bedeutet. | |
| In der Zeit denke ich, BC007 sei für mich die Lösung, wenn auch eine mit | |
| Ungewissheiten. Bisher weiß man nicht, wie lange das Medikament wirkt, wie | |
| lange die Symptome so stark gelindert bleiben, ob und wann sie | |
| zurückkehren. Außerdem werde ich wohl trotz aller Bemühungen kaum eine | |
| weitere Covidinfektion vermeiden können. Alle paar Monate eine Infusion | |
| bekommen, die meine Symptome lindert, scheint dafür ein wirklich guter Deal | |
| zu sein. Vielleicht würde ich es sogar eine Hoffnung nennen, Leichtigkeit. | |
| Doch Mitte November veröffentlicht das Unternehmen Berlin Cures, der | |
| Hersteller von BC007, ein Statement, in dem es bekannt gibt, dass durch die | |
| Studie kein Vorteil des Medikaments gegenüber dem Placebo nachgewiesen | |
| werden konnte. Sie ist gescheitert, Investoren abgesprungen und die Firma | |
| pleite. Die Ergebnisse sind derzeit nicht öffentlich, was bei vielen | |
| gescheiterten Medikamentenstudien auch so üblich ist. Ärzt*innen, die an | |
| der Durchführung der Studie beteiligt waren, kritisieren, dass sie stärker | |
| ins Studiendesign hätten eingebunden werden sollen. | |
| Als ich das lese, fühle ich mich, als würde ein Zug über mich | |
| drüberrauschen. Eine Woche später erfahre ich: Meine Infusion enthielt das | |
| Medikament, nicht das Placebo. Es scheint bei mir gewirkt zu haben. Jetzt | |
| ist es erst mal außer Reichweite. Ich lese die Mail und liege das etwa | |
| sechstausendste Mal im Arm meines Freundes und weine. | |
| Wie es für mich weitergeht, weiß ich nicht. „Monk“ läuft jedenfalls nicht | |
| mehr auf ZDFneo. Doch ich habe meine Freunde, die mich besuchen kommen, | |
| wenn ich nur zu Hause bin. Die mit mir mein Bett neu beziehen. Die sich | |
| sorgen, wenn ich nicht weine, und mich trösten, wenn ich’s tue. Ich werde | |
| weiterhin ruhiger leben, versuchen, glücklich zu sein. Und vielleicht | |
| vermisse ich es irgendwann auch nicht mehr, Zigaretten zu rauchen. | |
| 26 Jan 2025 | |
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| Shayna Bhalla | |
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