# taz.de -- Long Covid und Armutsgefährdung: Am Überleben arbeiten | |
> Armut isoliert Menschen – Long Covid auch. Besuch bei Melanie Zeiske und | |
> Daniela Bock, die als erschöpfte Betroffene mit der Bürokratie kämpfen. | |
VILLMAR UND MÜNCHEN taz | Ein großes Problem, das sagt Anni Conrad | |
deutlich, sei das Misstrauen. „Nicht nur bei Long Covid“, erklärt sie. Wenn | |
Kranke in Deutschland Unterstützung von der Gesellschaft beantragten, stehe | |
bei manchen Menschen und Ärzt:innen offenbar schnell ein Verdacht im | |
Raum: Die wollen sich vor der Arbeit drücken und Leistungen erschleichen. | |
Vorurteile, die besonders bei Krankheiten kursieren, die man im ersten | |
Moment nicht sieht. | |
Laut Anni Conrad berichten in einer Online-Selbsthilfegruppe für [1][Long | |
Covid] mit 11.200 Mitgliedern immer wieder Betroffene davon. Sie selbst ist | |
eine der Administrator:innen und engagiert sich bei der | |
[2][Betroffenen-Initiative „Long Covid Deutschland“.] Conrad ist selbst | |
daran erkrankt. | |
Während in der breiten Gesellschaft die Pandemie kaum noch Thema ist, | |
bestimmt Covid-19 für Hunderttausende Menschen in Deutschland weiterhin den | |
Alltag. Bei ihnen entwickelten sich durch die Infektion verschiedene | |
Symptome, die blieben. Als Post-Covid-Syndrom definiert die | |
Weltgesundheitsorganisation Beschwerden, die nach der akuten | |
Corona-Erkrankung auftreten und länger als drei Monate andauern. | |
Umgangssprachlich hat sich der Begriff Long Covid durchgesetzt. | |
Vergleichbare Symptome gibt es auch bei anderen Virus-Erkrankungen, mit | |
denen Betroffene im Sozialsystem vor ähnlichen Problemen stehen. Aber durch | |
Covid-19 kamen viele Kranke in kurzer Zeit hinzu. | |
Bei einem Treffen von Vertreter:innen aus Wissenschaft, Medizin und | |
Versorgung zu Long Covid jetzt am Dienstag sagte | |
[3][Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD),] es sei von rund einer | |
halben Million Betroffener auszugehen. Dabei betonte er, die Versorgung | |
werde besser und die Forschung nehme Fahrt auf. Aber genaue statistische | |
Daten fehlen noch. Klar ist nur: Viele Betroffene brauchen finanzielle | |
Unterstützung. Und wer schon vor der Infektion wenig Geld hatte, den trifft | |
es besonders hart. | |
In der Selbsthilfegruppe, erzählt Anni Conrad, tauschten sich die | |
Mitglieder auch über „das reine wirtschaftliche Überleben bei lang | |
dauernder Erkrankung“ aus. Teilweise würden über Monate benötigte | |
Leistungen nicht bewilligt. Es geht um Krankengeld und | |
Erwerbsminderungsrente, um Schwerbehinderung, Berufsgenossenschaften oder | |
Begutachtungspraktiken. Ein Teil der Betroffenen kämpft offensichtlich | |
„massiv mit finanziellen Engpässen und extremen Existenzängsten“. Es sind | |
Alleinerziehende, Selbstständige und Geringverdiener. | |
Aber warum hört man öffentlich wenig von ihnen? Ein Grund könnte sein, dass | |
Armut weiterhin stigmabehaftet ist. Genauso wie Long Covid weiterhin von | |
vielen nicht ernst genommen wird. Betroffene antworteten der taz, dass sie | |
nicht mit Namen oder Foto in der Zeitung erscheinen wollten. Zudem hätten | |
sie wenig Zeit und Energie. | |
[4][Laut Statistischem Bundesamt waren 2023 mehr als 17 Millionen Menschen | |
von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht.] Studien zeigen zudem: Das | |
Risiko, schwer zu erkranken, ist bei Armutsbetroffenen höher. Darauf wies | |
beim Kongress Armut und Gesundheit im März auch Bundesgesundheitsminister | |
Lauterbach hin. Als Schirmherr des Kongresses zog er in der Eröffnungsrede | |
die direkte Verbindung von Armut zu Long Covid. | |
Weltweit, so Lauterbach, habe die Pandemie überproportional Ärmere | |
getroffen, „und das ist auch jetzt weiter der Fall“, obwohl die akute | |
Pandemie vorbei sei. „Wir wissen, dass mit der Veränderung des Klimas die | |
Wahrscheinlichkeit von Pandemien zunehmen wird.“ Aber sind Sozial- und | |
Gesundheitssysteme auch nur ansatzweise darauf vorbereitet? | |
Zumindest was Armut und Long Covid angehe, sei sich die Bundesregierung | |
„dieser Problematik bewusst“, versichert ihr Patientenbeauftragter Stefan | |
Schwartze (SPD). Es gehe voran, aber er sehe weiter Handlungsbedarf. Dabei | |
könne „unsere Gesellschaft insgesamt mehr Solidarität und Empathie zeigen�… | |
Long Covid habe erhebliche soziale und ökonomische Auswirkungen, für die | |
Gesellschaft und für Einzelne. | |
Das weiß Long-Covid-Patientin Melanie Zeiske aus erster Hand. Ende 2020 | |
erkrankte sie an Covid-19, die meisten Symptome hat sie bis heute. Unter | |
anderem sind ihre kognitiven Fähigkeiten eingeschränkt. Eigentlich braucht | |
sie seit Monaten ein Programm, um diese am Computer zu trainieren. Ihre | |
Ergotherapeutin hat ihr das empfohlen. Aber es kostet 50 Euro, die liegen | |
bei Melanie Zeiske nicht einfach rum. „Das Programm ist super, aber das | |
kann ich nicht essen“, erklärt sie. | |
Mit ihrer zehnjährigen Tochter steht sie im hessischen Ort Oberbrechen vor | |
einem kleinen Laden: der Blumeninsel. Dort hat die Alleinerziehende bis vor | |
etwa drei Jahren gearbeitet, dann wurde ihr gekündigt. Zeiske, dunkle | |
Haare, schmale Brille, zuckt mit den Schultern. „Ich verstehe das schon. | |
Was sollte die Besitzerin anderes machen?“ | |
Sträuße binden oder über Stunden hinterm Tresen stehen und mit Kund:innen | |
sprechen – das ging für die Floristin Zeiske nicht mehr. Sie kann sich | |
unter anderem nur schwer konzentrieren. Wenn sie sich anstrengt, dann | |
braucht sie Pause und wirklich Ruhe. Das ist bis heute so. Geregelter | |
Arbeitsalltag? Keine Chance. Aktuell leben sie und ihre Tochter von | |
Sozialleistungen. Sparen ging vorher nicht. In der Blumeninsel arbeitete | |
sie Teilzeit. | |
Eigentlich will Melanie Zeiske an diesem Tag ihre frühere Chefin im Laden | |
besuchen. Trotz Kündigung, das Verhältnis sei gut. Doch die ist nicht da. | |
Darum steigen Mutter und Tochter wieder ins Auto und fahren zwei Orte | |
weiter nach Villmar, wo sie in einem kleinen Haus an einer Straßenecke mit | |
zwei Katzen leben. | |
Villmar liegt nicht weit von Limburg, inmitten der grünen Hügel des | |
Lahntals. Der Fluss zieht sich am Ort entlang, direkt am Wasser steht die | |
König-Konrad-Halle, in der Zeiske früher mit dem Chor Proben und Auftritte | |
hatte. Auf der Rückfahrt von der Blumeninsel hält sie kurz an. „Ich | |
vermisse das gemeinsame Singen. Aber mir wird sogar das Zuhören zu viel“, | |
seufzt sie und fährt wieder an. Armut isoliert Menschen – Long Covid auch. | |
Aber mit dem Thema möchten sich offenbar viele nicht mehr beschäftigen. Der | |
Medienjournalist René Martens, der auch für die taz schreibt, kritisierte | |
im März beim Onlinemagazin Übermedien, dass Journalist:innen in | |
Deutschland insgesamt zu wenig über Corona berichteten. Liegt es an der | |
„Pandemiemüdigkeit“? Oder daran, dass die Krankheit so schwer zu fassen | |
ist? Nicht nur weil es so viele Symptome gibt. Allein die statistische Lage | |
bei Long Covid ist weiterhin sehr überschaubar. | |
Nicht mal Akiko Iwasaki, die Professorin für Immunbiologie an der Yale | |
University sowie Präsidentin der American Association of Immunologists ist | |
und zu Long Covid forscht, kann genau sagen, wie hoch das Risiko genau ist, | |
daran zu erkranken. 2021 entwickelten etwa 10 Prozent aller | |
Corona-Infizierten Long Covid, 2023 schätzungsweise nur noch etwa halb so | |
viele, erklärte sie dem Spiegel im März. | |
Was Iwasaki hingegen genau sagen kann: „Ich habe immer noch Angst vor | |
Sars-CoV-2.“ Nicht vor der akuten Infektion, aber Angst „vor den möglichen | |
Folgen.“ Long Covid könne Leben zerstören. | |
So sagt das auch Melanie Zeiske. Mittlerweile sitzt sie an ihrem Esstisch | |
und berichtet von ihrer Krankheitsgeschichte. Hin und wieder rauscht ein | |
Lkw am Haus vorbei, trotz geschlossenem Fenster gut hörbar. An die Wände | |
hat Zeiske viele Fotos gehängt, die meisten zeigen ihre Tochter. „Am | |
meisten stört mich, dass wir nichts unternehmen können“, sagt Zeiske. Das | |
scheitere an Geld und Energie. | |
„Ich bin aus der zweiten Welle“, sagt sie salopp: Im Dezember 2020 | |
erkrankte sie. Damals setzten direkt Schüttelfrost, Schwindel und | |
Konzentrationsprobleme ein – der sogenannte Brain Fog, Nebel im Gehirn. | |
„Das ist ja nie weggegangen.“ | |
Kurz vor Nikolaus 2020 waren Schnelltests nicht verbreitet und die | |
Impfungen noch nicht raus. Darum wollte Zeiske eine Diagnose vom Arzt. Der | |
sagte allerdings, zu wenig Symptome für eine Corona-Infektion. Zeiske | |
konnte noch schmecken, hatte kein hohes Fieber. Also: Kein PCR-Test. Wenn | |
sie darauf bestanden hätte, wären 120 Euro fällig gewesen. „Die hatte ich | |
als alleinerziehende Mutter natürlich nicht“, sagt sie und holt tief Luft. | |
Sie hat keinen Nachweis, dass sie damals an Covid-19 erkrankt war. „Hätte | |
ich gewusst, was das nach sich zieht, ich hätte das Geld erbettelt.“ | |
Nach zweiwöchiger Isolation versuchte Zeiske wieder zu arbeiten. Doch es | |
ging nicht, weil ihr Husten so stark war, dass er ihr den Atem nahm. Vor | |
Weihnachten isolierte sie sich noch einmal, und versuchte Mitte Januar | |
erneut zu arbeiten. „Das ging dann erst mal so weiter. Zwei Wochen | |
arbeiten, zwei Wochen krank. Die Ärzte meinten damals: Kein Testergebnis, | |
kein Corona.“ | |
Schließlich geht es nicht mehr. Zeiske verliert im September 2021 ihren | |
Job, weil sie so oft fehlt. Aber ausruhen kann sie sich trotzdem nicht. | |
Statt mit Blumen beschäftigt sie sich mit Papieren. Sie bekommt zwar noch | |
Krankengeld, aber weil das nicht reicht, bemüht sie sich um Kindergeld, | |
Kinderzuschlag, Unterhaltsvorschuss und Wohngeld. „Die ganzen Anträge und | |
verschiedenen Stellen, das ist ja schon für Gesunde anstrengend. Aber mit | |
dem bisschen Konzentration, das ich noch hatte, habe ich ewig gebraucht.“ | |
Zudem beantragte Zeiske noch eine Erwerbsminderungsrente. „Aber das wurde | |
abgelehnt, weil ich laut Gutachten gar nicht so krank bin.“ Eine Erfahrung, | |
die Zeiske öfter macht. Weil sie für die Anträge beweisen muss, wie krank | |
sie ist, fährt sie von Fachärzt:in zu Fachärzt:in. Doch viele stehen bei | |
Long Covid auch vor einem Rätsel. Manche zweifeln an ihrer Krankheit. | |
Irgendwann zweifelt auch Zeiske. | |
Aber das ändere nichts: Drei Stunden Arbeit am Tag oder mehr, das schaffe | |
sie nicht. Vor allem nicht, wenn sie gesund werden wolle. „Mir gefällt das | |
am allerwenigsten. Wenn ich könnte, ich würde wieder zurück in die | |
Blumeninsel“, sagt Zeiske. Sie legt bezüglich ihrer Erwerbsminderungsrente | |
Widerspruch gegen die Ablehnung ein. „Aber das kann jetzt Jahre dauern. Wie | |
viel ich am Ende bekomme, weiß ich gar nicht.“ | |
Nach 78 Wochen lief bei Melanie Zeiske das Krankengeld aus, und sie bekam | |
Arbeitslosengeld 1. Doch zu dem Zeitpunkt war das so gering, dass ihr | |
gesetzlicher Anspruch auf einen Kinderzuschlag entfiel. Um den zu bekommen, | |
sucht sie sich doch einen kleinen Job: In der Woche putzt sie für insgesamt | |
anderthalb Stunden beim örtlichen Lahn-Marmor-Museum. | |
Das hat zwei Stockwerke und einen Aufzug und die Vorsitzende des Vereins, | |
der das Museum betreibt, hat Verständnis für Zeiskes Krankheit. Ihr Putzjob | |
sichert den Kinderzuschlag. Doch was sie in den anderthalb Stunden | |
verdient, ist zu viel für die Wohngeldstelle, die ihr daraufhin das Geld | |
kürzt. „Da musste ich dann wieder was zurückzahlen.“ | |
Nicht alle Anträge, die Melanie Zeiske stellt, zielen auf Sozialleistungen. | |
Sie suchte nach Therapien für Long Covid, sie war in Reha oder beantragte | |
einen Rollator. An manchen Tagen fällt ihr das Laufen schwerer als an | |
anderen. „Meine Nachbarin sagt zwar, mit dem Rollator könne ich doch nicht | |
rumlaufen, aber inzwischen ist mir das egal.“ Wenn sie merke, dass ihr | |
Kraft fehle, sei sie froh über die Gehhilfe. Ihr Modell sei aber nicht | |
praktisch. Der Rollator passt nicht ins Auto und ist schwer. Ein leichterer | |
hätte sie 100 Euro Zuzahlung gekostet. „Aber wo soll ich das denn wieder | |
herbekommen?“ | |
Wenn die Gesundheitspolitikerin Kathrin Vogler von der Linken von solchen | |
Fällen hört, ärgert sie sich. Die Krankenkassen sparten an kleinen | |
Beträgen, „weil die Bundesregierung sie in einen ökonomischen Wettstreit | |
schickt“. Wenn die Kasse wenige Leistungen bewilligt, kann sie niedrige | |
Beitragssätze anbieten. Zumindest in der Theorie. | |
Praktisch kämen dann allerdings die Kosten für Kontrollen hinzu. Würde die | |
Kasse jetzt arme Menschen stärker unterstützen, könne sie sich später | |
Versorgungskosten sparen. „Deren Kinder haben dann auch höhere Chancen, | |
selbst gut zu verdienen“, argumentiert Vogler. | |
Bisher übernimmt die Krankenkasse bei Long Covid nicht viel. „In Bezug auf | |
die Behandlung sind bisher keine gesicherten und spezifischen | |
therapeutischen Interventionen bekannt“, teilt der Spitzenverband der | |
Gesetzlichen Krankenkassen mit. Die Behandlung orientiert sich deshalb an | |
den einzelnen Symptomen, die sich teilweise lindern lassen. Dabei können | |
auch Medikamente helfen, die eigentlich für andere Krankheiten zugelassen | |
sind. | |
Ordnen Ärzt:innen diese für Betroffene von Long Covid an, als sogenannter | |
„Off-Label-Use“, müssen die dafür privat aufkommen. Allerdings arbeitet | |
derzeit eine Gruppe Expert:innen für die Bundesregierung an einer Liste | |
von solchen Medikamenten. Diese sollen Krankenkassen am Ende bei gesichert | |
an Long Covid Erkrankten übernehmen. Doch noch ist die Liste nicht fertig. | |
Viele Betroffene berichten in Selbsthilfegruppen und auf anderen | |
Plattformen von privaten Therapieversuchen: Nahrungsergänzungsmittel, | |
Kältekammer oder die sogenannte Blutwäsche, Apherese. Auch die müssen sie | |
selbst zahlen. Das kann zehntausende Euro kosten. Nichts für Melanie | |
Zeiske. Aber eine Bekannte habe quasi das Geld für einen Kleinwagen | |
ausgegeben. „Ihr hat es aber nichts gebracht. Sie ist immer noch krank. Da | |
war ich froh, dass ich nichts gespart hatte.“ | |
## Therapieversuche sind zu teuer | |
Etwa 370 Kilometer südöstlich geht es Daniela Bock ganz ähnlich wie Melanie | |
Zeiske. Auch sie hat mit Therapieversuchen wenig Erfahrung. „Das kann ich | |
mir schlicht nicht leisten“, sagt sie in ihrer 30-Quadratmeter-Wohnung in | |
München. Bock sitzt auf einer roten Couch, um sie herum bunte Kissen, | |
Decken und Lammfelle. Sie hat ihre Hausschlappen ausgezogen, die Beine | |
angewinkelt und beide Füße auf dem Polster. Dass sie nicht aufgeräumt habe, | |
tue ihr leid. „Aber dazu fehlt die Energie.“ | |
Auf einem kleinen Holztisch stehen mehrere braune Apothekerfläschchen: | |
Medikamente und Nahrungsergänzungsmittel. Insgesamt lebt Daniela Bock | |
derzeit von 650 Euro Erwerbsminderungsrente. „Das ist meine volle | |
Erwerbsminderungsrente, die ich mir mit 51 Jahren erarbeitet habe. Immer in | |
Vollzeit oder in zwei Jobs. Aber das deckt nicht mal meine Miete. Das ist | |
der Preis, wenn man im sozialen Bereich arbeitet.“ | |
Bis Oktober 2020 betreute sie als Sozialpädagogin Grundschulkinder, wenn | |
deren Unterricht zu Ende war oder sie Ferien hatten. Das hat sie als | |
Selbstständige „im kleinen Stil“ gemacht, wie sie sagt. Nicht viel, aber | |
genügend Geld. „Dann habe ich mich bei der Arbeit mit den Kindern | |
angesteckt.“ | |
Wie Melanie Zeiske entwickelte Daniela Bock direkt starke Symptome, die | |
blieben. Auch sie hat kaum Energie, Konzentrations- und Gedächtnisprobleme. | |
Zudem steigt ihr Puls stark, wenn sie steht, während der Blutdruck bleibt. | |
„Pots“ heißt das, sie leidet deshalb unter Schwindel und Benommenheit. | |
Arbeiten kann sie nicht, beschäftigt ist sie trotzdem. | |
„Long Covid ist ein Fulltimejob“, scherzt Bock. Auch bei ihr nimmt die | |
Auseinandersetzung mit den Anträgen viel Zeit ein. „Inzwischen kann ich | |
darüber schmunzeln. Aber bis ich mich eingearbeitet hatte: was kann ich | |
beantragen, von wem und wie viel? Wann muss ich das neu beantragen? Und das | |
alles als kranker Mensch.“ Aber lässt sich da etwas ändern? | |
Für Long-Covid-Patient:innen sei es besonders schwer, sich in den | |
Gesundheits- und Sozialsystemen zurechtzufinden, weil diese Menschen | |
dauerhaft unter Erschöpfung leiden, bestätigt der CDU-Gesundheitspolitiker | |
Tino Sorge. „Dieses Bewusstsein hat sich in den vergangenen Jahren in | |
vielen medizinischen und behördlichen Bereichen etabliert. Vielerorts | |
braucht es aber noch mehr Aufklärung“, fordert er. | |
Das klingt bei der linken Bundestagsabgeordneten Kathrin Vogler recht | |
ähnlich. Sie schlägt vor, es brauche unabhängige „Soziallotsen“, die den | |
Betroffenen helfen, sich im Sozialsystem zurechtzufinden. So einen hatte | |
Daniela Bock nicht. Sie berichtet von vielen Anrufen, Warteschleifen und | |
Anträgen, aber auch von ihrer engagierten Reha-Managerin und ahnungslosen | |
Mediziner:innen. | |
Immer mal wieder sagt sie entschuldigend: „Das ist jetzt ein bisschen | |
kompliziert.“ Oder sie unterbricht sich selbst: „Moment, mein Hirn setzt | |
aus, wie war das nochmal?“ Dann greift sie nach einem Zettel, auf dem sie | |
sich Notizen zu ihrer Erkrankung gemacht hat. In dreieinhalb Jahren ist | |
viel passiert. | |
Nachdem Daniela Bock ihren 60 Seiten langen Antrag eingereicht hat, | |
bewilligt ihr die Rentenversicherung innerhalb von vier Monaten die | |
Erwerbsminderungsrente von 650 Euro. Vergleichsweise schnell. Doch andere | |
Sozialleistungen, zum Beispiel Grundsicherung, bekommt sie derzeit nicht. | |
Sie hat als Selbständige mehr als 10.000 Euro zurückgelegt. Wer das hat, | |
kriegt keine Grundsicherung. „Beim Bürgergeld sind im ersten Jahr 40.000 | |
Euro okay. Warum ist das bei chronisch Kranken weniger?“, fragt Bock und | |
zeigt auf die Medikamente vor sich: „Kranke haben doch einen wesentlich | |
höheren Mehrbedarf.“ | |
Bock ist sicher, dass ihr eine Verletztenrente zusteht, weil sie sich | |
während der Arbeit bei den Kindern angesteckt hat. Ihr Fall wäre demnach | |
eine Berufskrankheit und die Berufsgenossenschaft in der Pflicht. Doch nach | |
mehr als dreieinhalb Jahren, unzähligen Telefonaten und mehreren | |
Widersprüchen habe sie von der bisher nur einen Vorschuss bekommen. Aber | |
damit fühle sie sich nicht sicher. Was, wenn sie den wieder zurückzahlen | |
muss? „Ich weiß ja nicht mal, wo die Miete fürs nächste Jahr herkommen | |
soll.“ | |
Auch Lebensmittel sind für sie ein Thema. Ende 2022 bewarb sich Daniela | |
Bock auf eine Berechtigungskarte für die Tafel, die gemeinnützige | |
Organisation, die Lebensmittel, die nicht mehr verkauft würden, an | |
Bedürftige verteilt. Die Berechtigung bekam sie. Aber die Lebensmittel | |
abholen? Da erschwerte ihr Long Covid wieder das Leben. Beim ersten Mal | |
musste sie persönlich hin, obwohl sie kaum das Haus verlassen konnte. | |
Mehrfach fragte sie bei der Tafel, ob es nicht anders ginge, so erzählt es | |
Bock heute. Aber nein, die einzige andere Möglichkeit wäre der Pflegedienst | |
gewesen – und der hätte sie Geld gekostet, das sie nicht hatte. Verständnis | |
habe sie schon, die Tafel wolle Missbrauch verhindern. „Aber es fühlt sich | |
krass an, was einem da wieder unterstellt wird.“ | |
Am Ende ging Daniela Bock selbst hin. Die Ausgabe ist donnerstags zwischen | |
14 und 16 Uhr. Schon am Mittwoch war Bock aufgeregt. „Da rede ich mir immer | |
selbst gut zu: ‚Du musst das irgendwie schaffen‘“. Also los: Die Treppe | |
runter, ein kurzer Weg zur U-Bahn, eine Station fahren, nochmal laufen, | |
dann etwa eine halbe Stunde anstehen und mit den Lebensmitteln wieder | |
zurück. Geschafft. „Danach hatte ich seit langem mal wieder einen größeren | |
Crash“ – sie musste sich tagelang auf der Couch ausruhen. Aber sie hatte | |
Lebensmittel. | |
## Entspannung nicht in Sicht | |
Mittlerweile können andere Menschen mit einer Vollmacht für sie | |
Lebensmittel bei der Tafel holen. Über die Nachbarschaftshilfe bekomme sie | |
ehrenamtlich Unterstützung. Entspannt ist es trotzdem nicht. Selbst wenn | |
andere für sie gehen, ist Daniela Bock nervös. „Und wenn ich mich dann | |
bücke und Sachen verstaue, verschlimmert das auch die Symptome.“ | |
Doch zumindest könne sie nach dreieinhalb Jahren besser abschätzen, wo ihre | |
Belastungsgrenze liege. Woran sie sich hingegen nicht gewöhnen könne, sei | |
das fehlende Verständnis. „Ständig werde ich von diversen Seiten blöd | |
angeschaut, warum ich mich so anstelle, wo ich doch eigentlich nichts | |
habe.“ Von Bekannten käme das und selbst von Ärzt:innen. | |
In Deutschland sollen zukünftig Hausärzt:innen bei Long Covid die | |
Koordinierung übernehmen. Das hat der Gemeinsame Bundesausschuss, das | |
höchste Gremium des Gesundheitswesens, in einer neuen Richtlinie | |
festgehalten. Noch ist sie nicht in Kraft, am 11. April hat das | |
Bundesgesundheitsministerium sie aber formal genehmigt. | |
Laut der Bundesvorsitzenden des Hausärztinnen- und Hausärzteverbandes, | |
Prof. Dr. Nicola Buhlinger-Göpfarth, nehme die „Hausärzteschaft“ Betroffe… | |
sehr wohl ernst. „Die Diagnostik von Long Covid ist komplex, insbesondere | |
weil die Symptomatik häufig diffus ist“, erklärt sie der taz. „Um eine gu… | |
Versorgung von Long-Covid-Patienten sicherzustellen, ist Zeit ein ganz | |
zentrales Element. Das ist bekanntlich im gesamten Gesundheitswesen | |
Mangelware.“ | |
In Hessen berichtet Melanie Zeiske, dass sich beim Verständnis von | |
Ärzt:innen tatsächlich etwas getan habe. Allerdings erlebe sie immer | |
noch, dass ihre Symptome auf einen psychischen Ursprung zurückgeführt | |
werden und ihr die Behandlung einer Depression empfohlen wird. Zeiske hatte | |
vor mehr als zehn Jahren tatsächlich eine Depression. „Ich kenne den | |
Unterschied. Als ich depressiv war, hatte ich keinen Antrieb. Ich hatte | |
keine Lust aufzustehen oder irgendwas zu machen. Jetzt ist er da. Innerlich | |
könnte ich Bäume ausreißen! Aber mir fehlt einfach die Kraft.“ | |
Für Zeiske sei es dann sehr hilfreich, sich in der Selbsthilfegruppe mit | |
anderen Betroffenen auszutauschen. Doch nicht bei allen Hürden könne die | |
Selbsthilfegruppe unterstützen, sagt Anni Conrad, die Administratorin. „Wir | |
können die Leute nicht an die Hand nehmen und ihnen beim Ausfüllen der | |
Anträge helfen.“ Ebenso wenig könne die Betroffeneninitiative Long Covid | |
Deutschland das Sozialsystem ändern – auch wenn man sehe, dass Menschen | |
teils über Monate auf benötigte Leistungen warten. | |
„Wir konzentrieren uns darauf, die Forschung an Diagnose- und | |
Therapiemöglichkeiten anzuschieben.“ Dabei seien die Kapazitäten begrenzt. | |
„Wir haben alle Long Covid und müssen unsere Energie einteilen.“ Im Moment, | |
so Conrad, bedeute das: Ein Problem nach dem anderen. | |
19 Apr 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Long-COVID/Inh… | |
[2] https://longcoviddeutschland.org/ | |
[3] https://www.bundesgesundheitsministerium.de/ministerium/meldungen/3-runder-… | |
[4] https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Einkommen-Konsum-Lebe… | |
## AUTOREN | |
David Muschenich | |
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