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# taz.de -- Einstellungen zu Long Covid: „Polemiken helfen da nicht“
> Alles Faulpelze und Simulanten? Georg Schomerus forscht zur
> Stigmatisierung von Menschen, die an den Spätfolgen einer
> Corona-Erkrankung leiden.
Bild: Aktivisten der Initiative „NichtGenesen“ protestieren am ersten Inter…
taz: Herr Schomerus, werden Long-Covid-Erkrankte in unserer Gesellschaft
stigmatisiert?
Georg Schomerus: Eindeutig. Wir müssen nur zuhören, was Betroffene
berichten. Sie machen so viele extrem entwertende Erfahrungen, die sich mit
dem Konzept der Stigmatisierung treffend beschreiben lassen.
Wie äußert sich das?
Stigmatisierung entsteht, wenn eine Gruppe von Menschen mit einem Etikett
versehen und daraufhin mit Stereotypen in Verbindung gebracht wird. Die
Reaktion auf ein solches Zerrbild ist Ausgrenzung, ein „wir gegen die“.
Viele Long-Covid-Betroffene berichten genau das: Sie werden als „die
Anderen“ abgewertet. Das beginnt oft schon in der Arztpraxis.
Woran machen Sie das fest?
[1][Long-Covid-Erkrankte stoßen bei Ärztinnen und Ärzten oft auf
Unverständnis]. Ihre körperlichen Leiden werden psychologisiert, oft wird
sogar eine psychische Erkrankung diagnostiziert. [2][Menschen mit ME/CFS]
[Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom. Die postvirale
Multisystemerkrankung gilt auch als schwerste Ausprägung von Long Covid;
Anm. d. Red.] kennen das schon seit Jahrzehnten. Mehr oder weniger explizit
wird ihnen auch unterstellt, dass sie lieber Sozialleistungen bekommen als
gesund werden möchten. Das sind Zuschreibungen, die den Menschen selbst
völlig fremd sind: Es sind häufig sehr leistungsbereite Menschen – aber
jetzt, da sie krank sind, unterstellt man ihnen plötzlich fehlenden Willen.
Ist das ein gesamtgesellschaftliches Phänomen?
Das glaube ich eigentlich nicht. Aber es gibt bisher noch keine
Untersuchungen darüber, wie die Allgemeinbevölkerung über Long Covid denkt.
Was wir bereits sehen können, ist, dass es in den Medien neben einigen
ausgewogenen auch viele sehr einseitige Berichte über postvirale
Erkrankungen gibt. Hier setzt sich die Stigmatisierung fort, und eine
ernste Erkrankung wird zum Gegenstand einer weiteren Polarisierung.
Haben Sie dafür Beispiele?
Vor einiger Zeit gab es einen [3][polemischen Kommentar in der Süddeutschen
Zeitung]. Der Autor schrieb mit triefender Ironie darüber, wie viel Energie
die „chronisch Erschöpften“ doch aufbringen würden, um als „lautstarke
Aktivisten“ in den sozialen Medien aggressiv für eine bessere Versorgung zu
streiten. Das ist nicht nur eine hemmungslose Verallgemeinerung – hier
profiliert sich ein Journalist auf Kosten einer Gruppe von Kranken. Er
wirft Menschen, die in unserem Versorgungssystem vielfältig schlechte
Erfahrungen machen, vor, dass sie sich wehren und dabei auch mal gereizt
sind. Das finde ich offen gestanden infam: Erst behandeln wir die Menschen
schlecht, dann kritisieren wir sie dafür, dass sie sich über die schlechte
Behandlung beschweren. Dieser Kommentar sticht besonders hervor, aber er
steht für eine ganze Strömung. Auch Ärzte haben in Interviews versucht,
Long Covid in die Ecke eines bloßen Medienereignisses zu stellen, als seien
postvirale Beschwerden nicht echt. Das reicht bis zu der Behauptung: Würde
man nicht mehr darüber berichten, gäbe es bald auch viel weniger Erkrankte.
Nun sind die Krankheitsmechanismen bei Long Covid tatsächlich noch nicht
geklärt. Ließen sich solche Beiträge nicht auch als Ausdruck des
wissenschaftlichen Streits einstufen?
Wenn sich Ärztinnen oder Ärzte über Long Covid äußern, sollten sie
einerseits auf dem Stand der Forschung sein und andererseits das
Bewusstsein haben, dass wir vieles eben noch nicht wissen. Die Beschwerden
als rein psychisch bedingt einzustufen, nur weil übliche Labortests keine
Befunde liefern, ist einfach unsachlich – dafür gibt es viel zu viele
gegenteilige Erkenntnisse. Wir haben in der Wissenschaft praktisch einen
Konsens, dass Long Covid keine psychische Erkrankung ist. Wer sich darüber
einfach hinwegsetzt, der überschreitet meiner Meinung nach die Grenze zur
Stigmatisierung.
Was ist die Motivation dahinter?
Das frage ich mich auch. Eigentlich liegt es im Interesse von uns Ärzten,
diesem neuen Krankheitsbild auf die Spur zu kommen und es nicht vorschnell
in die „Psycho-Schublade“ zu packen. Vielleicht ist es ein Problem, dass
unsere Medizin so stark in Fachrichtungen aufgegliedert ist. Ein Syndrom,
das sich hier nicht einfach einsortieren lässt, kommt deshalb wohl bei
keiner Disziplin so richtig an. Gängige psychosomatische Konzepte passen
hier nicht gut, weil sie eben von einer vornehmlich psychischen Ursache der
Beschwerden ausgehen. Und wenn Betroffene dem widersprechen, wird ihnen das
als Beleg für ihre Uneinsichtigkeit vorgehalten. Auch wenn wir Beschwerden
noch nicht erklären können, ist es im Zweifelsfall doch angemessen, den
Patienten einfach zu glauben, die gerade ihre Erfahrungen mit dieser neuen
Erkrankung machen müssen.
Welche Auswirkungen hat die Stigmatisierung von Long-Covid-Erkrankten?
Im Ergebnis erhalten viele Betroffene keine angemessene Beratung und nicht
die bestmögliche Therapie. Ich sehe deshalb auch die Gefahr, dass sich
Menschen von der Medizin abwenden und auf alternative Heiler ausweichen.
Die vermitteln zwar den Eindruck, sie ernst zu nehmen, therapeutisch haben
sie aber nichts anzubieten. Stigmatisierung geht auch von Ämtern aus, wenn
die sich nicht ausreichend mit der Krankheit befasst haben. Wir müssen
davon ausgehen, dass Long-Covid-Erkrankten Leistungen vorenthalten werden,
weil man ihnen ihre Beschwerden nicht glaubt. Auch am Arbeitsplatz treffen
Betroffene auf Unverständnis. Es bräuchte zum Beispiel dringend
Handreichungen für Arbeitgeber, wie sie Menschen mit Long Covid
wiedereingliedern können, ohne sie zu überfordern.
Politisch wird ebenfalls über Long Covid gestritten, etwa über die richtige
Höhe von Geldern für die Forschung und Therapie. Spielen Stigmata auch in
dieser Debatte eine Rolle?
Die Gefahr besteht. Long Covid ist eine häufige und zugleich neue
Erkrankung, es besteht also die große Chance, dass wir noch vieles
herausfinden, was den Menschen helfen kann. Die Forschung zu fördern
erscheint mir naheliegend und dringend notwendig. Polemiken helfen da
nicht.
Was lässt sich der Stigmatisierung entgegensetzen?
Klassischerweise gibt es drei Strategien: Protest, Edukation und Kontakt.
Von psychischen Krankheiten weiß man, dass Kontakt am besten funktioniert:
Wer Betroffene kennenlernt, hinterfragt plötzlich seine Vorstellungen von
einer Erkrankung. Bei Long Covid sind wahrscheinlich alle drei Strategien
nötig. Medien sollten genau hinhören, was Menschen mit dieser Erkrankung
erleben. Wir Mediziner müssen darüber aufklären, dass sich zum Beispiel
ihre Form der Erschöpfung deutlich von einer landläufigen Erschöpfung
unterscheidet. Und dass es durchaus kognitive Tests und einfache
Untersuchungen etwa der Handkraft gibt, die spezifisch auf Long Covid
hinweisen. Ohne den Protest der Menschen stünde es um die Anerkennung
dieses Syndroms wahrscheinlich noch viel schlechter. Es gehört zu den
zweischneidigen Erlebnissen, dass das Protestieren von manchen dann wieder
gegen die Menschen verwendet wird, nach dem Motto: So erschöpft können die
ja nicht sein.
3 Jan 2024
## LINKS
[1] /Unsichtbarkeit-von-Long-Covid/!5958391
[2] /Diagnose-Chronisches-Fatigue-Syndrom/!5938615
[3] https://www.sueddeutsche.de/meinung/medizin-corona-post-covid-forschung-kar…
## AUTOREN
Martin Rücker
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