Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Corona-Langzeitfolgen: Die Statistik ist kurzatmig
> Menschen mit Long Covid tauchen in Erhebungen zu Arbeitsausfällen in
> Deutschland bisher kaum auf. Weil es so wenige sind? So einfach ist es
> nicht.
Bild: Das Statistische Bundesamt registrierte in den beiden ersten Coronajahren…
Wer sich die Statistiken zum Krankenstand der Arbeitnehmer:innen
ansieht, kann nur zu diesem Schluss kommen: Eine Pandemie hat es nie
gegeben, jedenfalls nicht in den Jahren 2020 und 2021. Durchschnittlich
11,2 Fehltage [1][registrierte das Statistische Bundesamt] in den beiden
ersten Coronajahren. Von einem sprunghaften Anstieg gegenüber dem Vorjahr
ist in den Daten nichts zu sehen – im Gegenteil.
Seit dem Jahr 2007 mit einem Tiefststand von 8,1 Fehltagen war der
Krankenstand mit kleinen Schwankungen immer weiter nach oben geklettert.
Inmitten der ersten Coronawellen flachte die Kurve dagegen sogar ab. Eine
ernsthafte Gesundheitskrise ließe sich aus dieser Statistik also nicht
ablesen. Wenn, dann für das Jahr 2022, als die Fehltage plötzlich auf 15
anstiegen, oder für 1995, dem bisherigen Rekordjahr mit einem Krankenstand
von durchschnittlich 13 Tagen – wer erinnert sich noch, welche Erreger uns
damals plagten?
Natürlich ist das nur eine statistische Spielerei. Sie zeigt, wie
trügerisch vermeintlich aussagekräftige Zahlen sein können. Wenn sich ein
Massenereignis für die Volksgesundheit zuträgt, müsste es sich doch in den
Krankschreibungen widerspiegeln, oder? Nein, aus den Daten zum Krankenstand
lässt sich also mitnichten auf die Existenz einer Pandemie schließen.
Dennoch machen wir praktisch denselben Fehler erneut: Bei Long Covid.
Wieder argumentierten manche Medien oder Wissenschaftler: Wären postvirale
Erkrankungen ein ernsthaftes Problem, müssten doch Unternehmen Alarm
schlagen und die Ausfallstatistiken explodieren ob der hohen Krankenstände.
Der Fehler liegt im Umkehrschluss. Weil beides nicht geschieht, gibt es
also auch kein Problem? Falsch. Wer so argumentiert, übersieht, wie
schlecht die Datenlage ist und welchen Verzerrungen die vorhandenen
Statistiken unterliegen.
## Eine Diagnose dauert oft lange
Die Zahl der Krankheitstage, so vermuten Statistiker, beeinflussen viele
Faktoren, die mit dem Gesundheitszustand der Beschäftigten erst einmal
nichts zu tun haben. Vereinfacht gesagt: Stottert die Konjunktur, hustet
der Arbeitnehmer seltener. Denn muss er sich Sorgen um seinen Job machen,
geht er auch schon mal angeschlagen zur Arbeit. Dass die Zahl der
Krankheitstage bei prekären Jobverhältnissen oder in wirtschaftlich
schwierigen Zeiten also niedriger ist, heißt deshalb noch lange nicht, dass
es um die Gesundheit der Beschäftigten besonders gut steht.
Für die Coronajahre wiederum weist keine Statistik aus, wie viele Menschen
trotz Krankheit im Homeoffice weitergearbeitet haben. Und umgekehrt, wie
viele Krankheitstage die Pandemie verhindert hat, weil soziale Kontakte
wegfielen. Ohne Faktoren wie diese lassen sich die bloßen Zahlen nicht
auslegen.
Im Wunsch nach greifbaren Werten prägen Trugschlüsse auch die Diskussion
über die Corona-Langzeitfolgen. Im Frühjahr unternahm das Wissenschaftliche
Institut der AOK (WIdO) den Versuch, die Zahl der Long-Covid-Fälle
irgendwie aus den Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen abzuleiten, und kam zu
dem Schluss: Es gebe nur „wenige Betroffene“. Unter den AOK-Versicherten
waren es weniger als 1 Prozent.
Dabei bestätigte auch der stellvertretende WIdO-Geschäftsführer Helmut
Schröder, dass sich von den Krankmeldungen eigentlich nicht auf die Zahl
der Betroffenen schließen lasse – man tat es dennoch. Über wesentliche
Verzerrungsfaktoren setzte sich die Analyse hinweg: Wer nach Corona nicht
wieder gesund wird, erhält, wenn überhaupt, oft erst spät die Diagnose Long
Covid – taucht erst einmal also in einer solchen Statistik gar nicht auf.
Die Unsicherheit vieler Ärzte spielt dabei ebenso eine Rolle wie die meist
viele Monate langen Wartezeiten an den Long-Covid-Ambulanzen der Kliniken.
## „Nur die Spitze des Eisbergs“
So gibt es Menschen, die unter Corona-Langzeitfolgen leiden, aber keine
Long-Covid-Diagnose haben, und wohl ebenso Menschen, deren ungeklärte
Beschwerden irrtümlich als Long Covid bescheinigt wurden. Dass [2][die
Datenlage auch jenseits der ärztlichen Diagnosen schlecht ist], hängt mit
einem politischen Versäumnis zusammen. Zu Beginn der Pandemie wurde keine
aussagekräftige Studienkohorte eingerichtet, um bei den Teilnehmenden
Infektionsverläufe, Spätfolgen und Impfstatus zu verfolgen. Damit hätte
sich sehr viel besser sagen lassen, wie viele Menschen wie lange und wie
schwer von Long Covid betroffen sind und welche Rolle die Impfung spielte.
Heute ist es dafür praktisch zu spät. Fast vier Jahre nach Pandemiebeginn
und drei Jahre nach den ersten Impfungen lassen sich kaum noch Gruppen
auseinanderhalten und vergleichen, weil fast jeder mutmaßlich oder
gesichert wenigstens einmal infiziert war und auch die meisten Menschen
geimpft sind. Mit der statistischen Unsicherheit wird man also leben
müssen. Sie lässt Raum für Spekulationen.
Dennoch scheint es paradox: Auf der einen Seite gibt es erste Berechnungen,
die Long Covid [3][mit volkswirtschaftlichen Schäden in Milliardenhöhe]
verbinden – auf der anderen Seite werden die Ausfälle auf dem Arbeitsmarkt
bislang kaum sichtbar. Müssten die Arbeitgeber nicht aufschreien, wenn
ihnen überdurchschnittlich viele Leute ausfielen? Oder anders gefragt: Wo
sind all die Long-Covid-Betroffenen, wenn es sie gibt?
Astrid-Weber, Leiterin der Long-Covid-Ambulanz in Koblenz, begegnet diesen
Fällen in ihrer Sprechstunde. „Viele reduzieren freiwillig ihre Stunden und
gehen in Teilzeit. Andere schleppen sich nur noch zur Arbeit. Das geht
gerade so, aber Hobby, Freizeit und Familie fahren sie auf Null. Es sind
ganz viele, die außer dem Job alles kappen – und die erscheinen in keiner
Statistik“, meint die Ärztin. Über diejenigen, die tatsächlich als
Arbeitsausfall in die Statistik eingehen, sagt sie: „Das ist nur die Spitze
des Eisbergs.“
## Monate später nicht arbeitsfähig
Der Jenaer Psychiatrie-Professor Martin Walter teilt diese Beobachtung.
„Das verdeckt die große wirtschaftliche und gesellschaftliche Dimension,
die wir noch gar nicht verstanden haben“, sagt der Präsident des
Ärzteverbandes Long Covid. Er warnt: „Das postinfektiöse
Krankheitsgeschehen ist nicht vorbei, und im Moment tragen wir dazu bei,
dass wir die Problematik für die Zukunft eher vergrößern.“
Es könne keine Lösung sein, „die gewünschte Leistung aus den Menschen
herauszupressen“. Diese würden dann im Beruf zwar kurzfristig irgendwie
funktionieren, als nachhaltig stuft Walter dies aber nicht ein. Er forderte
zum Beispiel neue Modelle für die berufliche Wiedereingliederung. Es gelte
zu akzeptieren, dass Menschen mit Corona-Langzeitfolgen nur deutlich
langsamer als andere wieder einsteigen könnten, viele zudem auf absehbare
Zeit überhaupt nicht zu ihrer vollen Belastbarkeit zurückfinden. „Wenn wir
das mit Blick auf die wirtschaftliche Entwicklung und den Fachkräftemangel
ignorieren, machen wir das Problem nur noch größer“, sagt Walter.
Wirklich valide Zahlen, wie viele Menschen wie stark betroffen sind, gibt
es derzeit schlichtweg nicht. Jüngere Studien legten zumindest nahe, dass
eher weniger als fünf Prozent der Infizierten an Long Covid erkrankten. Wie
viele von ihnen wie lang und wie schwer, dazu schwanken die
Studienergebnisse. Bei [4][der Epiloc-Studie] beispielsweise, einer
Befragung nachweislich an Covid-19 erkrankter Menschen aus
Baden-Württemberg, litt ein Viertel der Long-Covid-Erkrankten auch nach
sechs bis zwölf Monaten noch unter Symptomen. Das liegt im Bereich
internationaler Auswertungen, denen zufolge rund 20 Prozent der Betroffenen
auch nach einem Jahr mit erheblichen Einschränkungen zu tun hatten.
Eine noch unveröffentlichte Studie der Universität Greifswald verfolgte die
Entwicklung von 200 Patienten, die sich im Schnitt acht Monate nach einer
Corona-Infektion in der dortigen Long-Covid-Sprechstunde vorstellten: Bei
ihrem ersten Termin waren 47 Prozent nicht arbeitsfähig – sechs Monate
später immer noch 33 Prozent. Dass postvirale Erkrankungen nicht spurlos am
Arbeitsmarkt vorbeigehen, ist also anzunehmen.
## In Fertigungsberufen unterdiagnostiziert
Als das Uniklinikum Jena Ende November unter Leitung des Psychiaters Walter
zum zweiten Mal einen Long-Covid-Kongress für Ärzte und Betroffene
ausrichtete, war Long Covid im Beruf eines der Schwerpunktthemen. Auch bei
Nico Dragano: Der Medizinsoziologe und Arbeitsepidemiologe von der
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf präsentierte ein weiteres Beispiel
für trügerische Statistiken. Seinen Daten zufolge tritt Long Covid nicht
unbedingt dort am stärksten auf, wo es die meisten akuten
Corona-Infektionen gab: „Wir haben sehr viele Jobs, die
unterdurchschnittliche Long-Covid-Raten haben. Wir haben aber auch Berufe
mit sehr hohen Fallzahlen“, so Dragano.
Beim Abgleich von PCR-bestätigten Covid-19-Erkrankungen mit den von
Kassenärzten diagnostizierten Long-Covid-Fällen nach Berufsgruppen hatte er
auffällige Unterschiede bemerkt. Beispielsweise werden in Fertigungsberufen
– man denke an die Masseninfektionen etwa in der Fleischindustrie – weniger
Long-Covid-Fälle festgestellt als aufgrund der Infektionen zu erwarten
gewesen wäre. Erhöhte Fallzahlen zeigten sich hingegen vor allem bei Frauen
in Gesundheits- sowie sozialen und kulturellen Dienstleistungsberufen,
wozu Lehr- und Erziehungsberufe gehören.
Warum es zu diesen Unterschieden kommt, dafür gibt es bislang nur Thesen.
Womöglich sind Long-Covid-Fälle im Gesundheitswesen über-, in
Fertigungsberufen hingegen unterdiagnostiziert. Auch hier gilt: Je
unsicherer Arbeitsplätze sind, umso seltener lassen sich Arbeitnehmer
krankschreiben. Unterschiedliche Regenerationsmöglichkeiten in den
Tätigkeitsfeldern könnten sich ebenso auswirken wie der Umstand, dass zu
den häufigsten Symptomen neurokognitive Erscheinungen wie Konzentrations-
und Wortfindungsstörungen gehören. Für einige Berufe fällt dies weniger ins
Gewicht, während sich ein Lehrer mit Konzentrationsmängeln im Unterricht
besonders schwertut. „Es lohnt sich, hier weiterzuforschen“, sagt Dragano.
Weil so viele Fragen offen, viele Daten so wenig belastbar sind, lädt Long
Covid regelmäßig dazu ein, wilde Thesen zu entwickeln. Manche
Untersuchungen beschrieben das Syndrom bereits als ein Phänomen gebildeter
Weißer, das zudem in reichen Ländern viel häufiger auftrete – was wiederum
als Indiz dafür herangezogen wurde, dass die Beschwerden rein psychische
Ursachen haben müssen. Davon hat sich eine breite Mehrheit in der
Wissenschaft längst verabschiedet, und wer die Berichte von Betroffenen und
behandelnden Ärzten hört, der weiß es eben einzuordnen, warum Long Covid
nicht in allen Berufen gleichermaßen auftritt.
Auch für die regionalen Unterschiede gibt es Erklärungen. Ein Kommentar im
Fachjournal The Lancet wies darauf hin, was die These vom Problem
wohlhabender Gebiete des Globalen Nordens übersieht: Zum Beispiel, dass es
in Ländern mit geringem Wohlstand oft auch weniger Forschung, weniger
Anlaufstellen für die Versorgung und eine schlechtere Datenerfassung gibt.
Eine noch schlechtere, sollte das wohl heißen.
27 Dec 2023
## LINKS
[1] https://www.destatis.de/DE/Themen/Arbeit/Arbeitsmarkt/Qualitaet-Arbeit/Dime…
[2] /Long-Covid-in-Deutschland/!5974019
[3] /Langzeitfolgen-der-Pandemie/!5956714
[4] https://www.epiloc.de/projekt
## AUTOREN
Martin Rücker
## TAGS
Schwerpunkt Coronavirus
Long Covid
Gesundheit
GNS
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Coronavirus
Arbeitsmarkt
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Coronavirus
Epidemiologie
## ARTIKEL ZUM THEMA
Folgen von Long Covid: Verschärfte Armut
Benachteiligte Gruppen haben ein größeres Risiko, Covid-19 zu entwickeln.
Und durch die Erkrankung steigt wiederum die Gefahr, arm zu werden.
Einstellungen zu Long Covid: „Polemiken helfen da nicht“
Alles Faulpelze und Simulanten? Georg Schomerus forscht zur Stigmatisierung
von Menschen, die an den Spätfolgen einer Corona-Erkrankung leiden.
Erwerbstätigkeit 2023 auf Rekordhoch: 45,9 Millionen Menschen im Job
Deutschlands Erwerbstätigkeit hat im Jahr 2023 einen Höchstand erreicht.
Eine Ursache: die Zuwanderung ausländischer Fachkräfte.
Corona-Welle in Deutschland: Pirola auf dem Vormarsch
Die Zahl der Covid-Infektionen in Deutschland steigt wieder. Also zurück zu
Maske und Abstand? Hier die wichtigsten Fragen und Anworten.
Krankenstand in Berlin: Attacke auf die Schleimhaut
Atemwegserkrankungen führen derzeit zu vielen Ausfällen – nicht nur bei der
BVG. Dabei spielt auch Corona wieder eine Rolle.
Infektionsgeschehen um Corona: Bis die Grippe obendrauf kommt
Die Coronazahlen sind so hoch wie lange nicht mehr.
Risikopatient*innen sollten sich mit Masken schützen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.