| # taz.de -- Recht auf Sterbehilfe in Großbritannien: Durchbruch für die Selbs… | |
| > Auf Initiative der Schwester der 2016 vor dem Brexit-Referendum | |
| > ermordeten Abgeordneten Jo Cox stimmte das britische Unterhaus am Freitag | |
| > deutlich für das Recht auf Sterbehilfe. | |
| Bild: Nebeneinander wurde vor dem Parlament in Westminster gegen oder für das … | |
| London taz | Das britische Unterhaus hat am Freitagnachmittag in einem | |
| historischen Votum und mit einer Mehrheit von 23 Stimmen die | |
| Implementierung des Rechts auf Sterbehilfe, zunächst in England und Wales, | |
| in greifbare Nähe gebracht. | |
| Dem „Private Members Bill“, einem Gesetzesantrag, der nicht aus den Reihen | |
| der gegenwärtigen Labour-Regierung kam, sondern der [1][privaten Initiative | |
| der Labour-Hinterbänklerin Kim Leadbeater] – sie ist die Schwester der 2016 | |
| vor dem Brexit-Referendum ermordeten Abgeordneten Jo Cox – entsprang, | |
| stimmten insgesamt 313 Parlamentarier zu, 291 votierten dagegen. Damit | |
| versammelten sich 33 Abgeordnete weniger hinter dem Gesetz als noch bei der | |
| ersten Abstimmung im Herbst. | |
| Beobachter:innen verglichen die Wahl am Freitag mit der Verabschiedung | |
| des Abtreibungsgesetzes oder mit der Abschaffung der Todesstrafe und der | |
| Illegalität von Homosexualität. | |
| Obwohl alle Abgeordneten offen nach eigenem Gewissen statt nach Fraktion | |
| abstimmen durften, sprachen sich insbesondere Labour-Abgeordnete für das | |
| Gesetz aus, inklusive Premierminister Keir Starmer. Während die meisten | |
| Tories, darunter auch Oppositionsführerin Kemi Badenoch, dagegen waren. | |
| Interessanterweise lehnte ausgerechnet Labours Gesundheitsminister Wes | |
| Streeting das Gesetz ab, einer von sechs Mitgliedern des Labour-Kabinetts, | |
| die dies taten. Die Abstimmung folgte einer Prüfung des Gesetzesvorschlags | |
| durch das House of Lords, das britische Oberhaus, und durch einen | |
| Unterhausausschuss, der ihn Wort für Wort prüfte, was zu zahlreichen | |
| Abänderungen und Ergänzungen führte. | |
| Abgestimmt wurde am Freitag über die Ermöglichung der Sterbehilfe einzig | |
| und allein für volljährige Menschen, deren Sterben binnen eines Zeitraums | |
| von sechs Monaten prognostiziert ist. Damit soll diesem Personenkreis das | |
| Recht auf Selbstbestimmung gegeben und unnötiges Leid vermieden werden. Wer | |
| die Sterbehilfe in England und Wales beantragen will, muss mindestens ein | |
| Jahr bei einem britischen Hausarzt registriert sein. Die Antragsteller | |
| müssen eine klare, eindeutige Erklärung frei von Erpressung oder äußeren | |
| Druck abgeben, heißt es im Gesetzestext. | |
| Diese Erklärung muss zweimal und separat vor Zeug:innen geschehen. Zwei | |
| Ärzte müssen ihr zustimmen, ebenfalls unabhängig voneinander und mit einem | |
| Mindestzeitabstand von sieben Tagen zwischen den zwei Erklärungsabgaben. | |
| Sollten Zweifel zur Zurechnungsfähigkeit der Antragssteller bestehen, muss | |
| ein psychiatrisches Gutachten angefordert werden. Dem Antrag muss | |
| letztendlich ein multidisziplinäres Gremium aus rechtlichen und | |
| psychiatrischen Expert:innen und einer/m Sozialarbeiter*in, unter | |
| Vorsitz eines Richters, zugestimmt werden. | |
| Nach der Zustimmung zu einem solchen Sterbehilfeantrag kann diese | |
| frühestens nach Ablauf von 14 weiteren Tagen implementiert werden, im | |
| Beisein einer ärztlichen Kraft mit der dafür ausreichenden Ausbildung. Die | |
| Arznei muss die betroffene Person sich selbst verabreichen. Welche Arznei | |
| dafür infrage kommt, wurde nicht festgelegt. Gesundheitsexpert:innen, | |
| Ärzt:innen, Psychiater:innen, Sozialarbeiter:innen, | |
| Rechtsberater:innen und andere sollen über ihre Teilnahme oder | |
| Nichtteilnahme an der Sterbehilfe selbst entscheiden können und nicht dazu | |
| gezwungen werden. | |
| Noch muss der Gesetzesvorschlag ein weiteres Mal durch das House of Lords | |
| geprüft werden. Abänderungen sind weiter möglich, nicht zuletzt, weil | |
| Gesetzesgegner:innen oder -skeptiker:innen versuchen wollen, | |
| weitere Sicherheitsvorkehrungen einzubauen. Theoretisch könnten sie den | |
| Prozess mit unendlichen Änderungsanträgen sogar derart hinauszögern, dass | |
| er scheitern könnte. Allerdings soll im britischen Parlament der nicht vom | |
| Volk gewählte Teil, also das House of Lords, nicht den Willen des gewählten | |
| Unterhauses brechen. | |
| Bei Änderungen muss der Gesetzesentwurf unter Umständen auch noch mal | |
| durchs House of Commons, generell aber wird angenommen, dass das Gesetz mit | |
| der Entscheidung vom Freitag so gut wie verabschiedet ist, auch wenn sich | |
| die letztendliche Form noch ändern könnte. | |
| Bis das Gesetz Realität wird, kann es also noch dauern. Gerechnet wird | |
| damit, dass es frühestens im Herbst in Kraft treten wird. Womöglich wird | |
| danach weitere Zeit vergehen, bis überhaupt die notwendige Infrastruktur | |
| zur sicheren Implementierung der Sterbehilfe geschaffen worden ist. Die | |
| Regierung hat dafür eine Frist von spätestens vier Jahren gesetzt. | |
| Palliative und psychiatrische Dachvereine waren einige der Stimmen, die | |
| davor gewarnt hatten, dass derzeit für diese Leistung noch keine | |
| ausreichende Kapazität bestehe. | |
| Bei den Abgeordneten, die sich während der Gesetzesdebatte im Unterhaus | |
| gegen die Sterbehilfe aussprachen, bestand größtenteils keine generelle | |
| Stellung gegen das Anliegen, sondern eher eine Besorgnis über mangelnde | |
| Absicherungen und Kapazitäten. Labour-Hinterbänklerin Naz Shah sah dies | |
| insbesondere für Menschen mit Magersucht gegeben, da diese sich in einen | |
| Zustand bringen könnten, bei der ihre Lebenserwartung auf sechs Monate | |
| schrumpfe, obwohl mit ausreichender Hilfe diese weit über diesen Zeitraum | |
| hinaus gehen könnte. | |
| Auch Diane Abbott, die sogenannte Mutter des Hauses, also die dienstälteste | |
| Abgeordnete, äußerte sich gegen das Sterbehilfegesetz. Sie sei in die | |
| Politik gegangen, um stimmlosen Menschen eine Stimme zu geben. „Wer hat | |
| weniger Stimme als Personen im Krankenbett, die glauben, dass sie | |
| sterben?“, fragte sie und fügte hinzu, dass unter jenen, die durch die | |
| Sterbehilfe ihr Leben verlieren könnten, die Verletzlichsten und | |
| Marginalisiertesten der Gesellschaft sein könnten. | |
| Nicht nur Abbott, sondern auch Vertreter:innen von Menschen mit | |
| schweren Behinderungen geben zu bedenken, dass ohne weitverbreitete | |
| hervorragende palliative Einrichtungen, nicht wirklich eine richtige Wahl | |
| zwischen palliativer Versorgung bis zum Lebensende und einem früheren | |
| Lebensende mit Sterbehilfe möglich sei. | |
| Der konservative Abgeordnete James Cleverly gab an, dass Patient:innen | |
| womöglich die Annahme einer Erwartung des medizinischen Personals spüren | |
| könnten, welche ihre Entscheidung beeinflusse, während derzeit | |
| medizinisches Personal nur für Lebensbewahrung stehe. | |
| Der Labour-Abgeordnete David Burton-Sampson ist aufgrund seines | |
| christlichen Glaubens eigentlich gegen die Sterbehilfe. Er stimmte dennoch | |
| dafür, nachdem er von betroffenen Personen aus seinem Wahlkreis | |
| angeschrieben wurde. Darunter von einer Frau namens Emma, ebenfalls | |
| ursprünglich keine Sterbehilfe-Befürworterin, deren krebskranke Mutter | |
| Cheryl jedoch einen derart qualvollen Tod erleiden musste, dass sie ihn | |
| bat, dass Sterbehilfe zukünftig möglich sein müsse. Er tue das im Interesse | |
| vieler, die er vertrete, so Burton-Sampson. Viele Abgeordnete wiederholten | |
| derartige Beispiele. | |
| Nach der Abstimmung sagte Kim Leadbeater gegenüber der BBC, sie sei „over | |
| the moon“, weil sie wisse, was die Billigung des Gesetzesvorschlags für | |
| todkranke Menschen und ihre Angehörigen bedeute. Als die Entscheidung fiel, | |
| waren vor dem Westminster Parlament hunderte Vertreter:innen beider | |
| Seiten versammelt. Während einige Betroffene und ihre Angehörige sich | |
| erleichtert gaben, erklärten andere, dass man noch auf Änderungen hoffe. | |
| Schottland und Nordirland gehen durch eigene legislative Prozesse zur | |
| Sterbehilfe. Die Entscheidung von Freitag ist jedoch auch für diese | |
| britischen Nationen zumindest richtungsweisend. | |
| 21 Jun 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Daniel Zylbersztajn-Lewandowski | |
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