| # taz.de -- Stress am Arbeitsplatz: Wenn die Nerven dünner werden | |
| > Wächst der Psychostress in der Arbeitswelt? Ein Überblick über den | |
| > Stand der Forschung und vier persönliche Berichte über tägliche | |
| > Belastungen. | |
| Bild: Zu viele und zu schwere Aufgaben, ein schlechtes Betriebsklima, keine str… | |
| Ute, 40, ist Krankenschwester in Berlin und für einige Wochen | |
| arbeitsunfähig geschrieben, wegen eines Burn-outs. In einer | |
| Selbsthilfegruppe in Berlin-Tempelhof redet sie über ihren Arbeitsstress im | |
| Krankenhaus, den Zeitdruck, die Schichtarbeit. „Ich fühlte mich ständig | |
| erschöpft“, sagt sie. Privater Kummer kam hinzu. Ihre Furcht wuchs, sie | |
| könne etwas falsch machen im Job. | |
| Sie meldete sich krank. Doch das hat zwei Seiten. „Arbeiten zu können, ist | |
| auch gut für mich“, sagt sie, die nicht mit ihrem vollen Namen in der | |
| Zeitung stehen will, „nur zu Hause zu sitzen hilft mir auf Dauer nicht | |
| weiter“. | |
| Inwieweit macht Arbeit seelisch krank? Und wann trägt sie dazu bei, dass | |
| sich Menschen stabilisieren und lebendig fühlen? | |
| „Stress gehört zu einem gesunden Leben dazu“, sagt der Psychiater und | |
| Stressforscher Mazda Adli. Er leitet die Fliedner-Klinik in Berlin, eine | |
| Tagesklinik, die viele Berufstätige mit Burn-out behandelt. „Stress | |
| stimuliert uns“, meint er. Aber es gebe den guten und den schlechten | |
| Stress, „akuter Stress schadet uns meist nicht, es ist der Dauerstress, der | |
| chronische Stress, der uns krank macht. Schlechter Stress entsteht vor | |
| allem, wenn wir Dauerstress als unkontrollierbar empfinden“, erklärt der | |
| Psychiater. | |
| Ist die Arbeit immer dauerstressiger geworden? Die Belastung wird vor allem | |
| durch Befragungen ermittelt, und dass die Arbeitswelt im Allgemeinen immer | |
| stressiger wird, lässt sich durch Studien nicht unbedingt untermauern. Der | |
| Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) etwa hat einen sogenannten | |
| Gute-Arbeit-Index aus regelmäßigen Befragungen von Beschäftigten vieler | |
| Branchen entwickelt. Danach sind die Belastungen durch soziale und | |
| emotionale Anforderungen, durch hohe Arbeitsintensität und atypische | |
| Arbeitszeitlagen seit dem Jahr 2012 im Schnitt sogar etwas gesunken und | |
| halten sich in den letzten Jahren mehr oder weniger auf dem gleichen | |
| Niveau. | |
| ## „Holen aus dem Frei“ ist ein maximaler Stressor | |
| Nur: Es gibt große Unterschiede zwischen den Branchen, und das birgt | |
| Sprengstoff. Denn in den „Stressberufen“ herrscht auch wegen der | |
| Bedingungen großer Arbeitskräftemangel. „Die höchsten Belastungen finden | |
| sich im Bereich Erziehung- und Unterricht sowie im Gesundheitswesen, wo | |
| häufig sowohl physische, als auch psychische Belastungen auftreten“, heißt | |
| es im [1][DGB-Jahresbericht 2023] zum Gute-Arbeit-Index. | |
| Was stresst die Psyche besonders? „Als sogenannte Schlüsselfaktoren der | |
| psychischen Belastung gelten die Arbeitsintensität, die Arbeitszeit, | |
| Handlungsspielräume und Führung“, sagt Anika Schulz-Dadaczynski, | |
| Gesundheitsexpertin bei der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und | |
| Arbeitsmedizin (BAuA). | |
| Wer etwa die Arbeitsmenge etwas kontrollieren kann, eine gewisse | |
| Abwechslung bei der Tätigkeit und eine Vollständigkeit der | |
| Aufgabenstellung erfährt, so dass man am Ende auch den Erfolg sieht, der | |
| kann mit den Belastungen durch den Job besser umgehen. Das ergibt sich | |
| aus der Studiensammlung „Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt“ der | |
| BAuA. | |
| Wenn dieser Handlungsspielraum fehlt, weil man zu viele und zu schwere | |
| Aufgaben in zu kurzer Zeit oder auch noch gleichzeitig bewältigen muss, | |
| wenn man vielleicht auch noch häufig bei der Arbeit unterbrochen wird, wenn | |
| man unter einer nichtwertschätzenden Führung und schlechtem Betriebsklima | |
| mit schwierigen Kund:innen leidet, wenn Arbeit und Freizeit nicht streng | |
| getrennt sind, man vielleicht auch noch volle Schichtarbeit macht – dann | |
| kann der Job zur Hölle werden. | |
| In der Pflege zum Beispiel haben die Beschäftigten oftmals keinen | |
| Handlungsspielraum, wenn sie trotz erkrankter Kolleg:innen die volle | |
| Versorgung bringen müssen. Pflegekräfte werden überdies häufig in ihrer | |
| Freizeit, auch am Wochenende gebeten, kurzfristig einzuspringen, wenn eine | |
| Kolleg:in erkrankt ist. Dieses „Holen aus dem Frei“ ist ein maximaler | |
| Stressor in der Branche. | |
| ## Umgang mit Stress ist abhängig von der Persönlichkeit | |
| Wenn zu solchen Zwangslagen im Job noch viel Interaktions- und damit auch | |
| Emotionsarbeit kommt, steigen die psychischen Belastungen. | |
| „Emotionsarbeit“ ist das, was viele Beschäftigte in | |
| Dienstleistungsberufen leisten müssen, wenn sie etwa eine gezwungene | |
| Freundlichkeit, ein „Surface-Acting“ zeigen sollen. | |
| In einer Erhebung der BAuA gab ein gutes Fünftel der Befragten an, dass sie | |
| bei der Arbeit häufig ihre Gefühle verbergen müssten, [2][wobei dies bei | |
| Frauen überproportional oft der Fall war]. Wer im Kulturbereich, im | |
| Gesundheitswesen, im Gastgewerbe und – interessanterweise – auch im | |
| Autohandel oder in Autowerkstätten arbeitet, müsse dabei besonders viel | |
| „Emotionsarbeit“ leisten, so die BauA-Erhebung. | |
| Die „Emotionsarbeit“ ist Teil der „Interaktionsarbeit“, [3][so wie sie … | |
| auch Lehrer:innen machen]. „Interaktionsarbeit“ mag einerseits aufbauend | |
| sein, denn der Kontakt mit Menschen, mit Kund:innen, Patient:innen oder | |
| Schüler:innen kann Freude und Befriedigung bringen. Aber es kann daraus | |
| negativer Stress erwachsen, wenn etwa das positive Feedback von | |
| Schüler:innen fehlt. „Misslingende Schülerkooperation“ werde aus | |
| Lehrersicht als „der stärkste Belastungsfaktor“ wahrgenommen, schreibt | |
| [4][die Sozialforscherin Bärbel Wesselborg] in der Zeitschrift Prävention | |
| und Gesundheitsförderung. | |
| Nach Wesselborgs Erkenntnissen sind die „soziale Unterstützung des | |
| Kollegiums“ und einer guten Schulleitung dann wichtige Resilienzfaktoren, | |
| die dazu beitragen, den Job durchzuhalten. „Gesunde Führung“ fokussiere | |
| „insbesondere auf soziale Aspekte wie Wertschätzung, Rücksichtnahme und | |
| Beteiligung der Mitarbeiter und trägt damit – als Ressource – zur | |
| Gesundheit positiv bei“, heißt es auch in der BAuA-Schrift. Mobbing im | |
| Lehrerzimmer hingegen ist der Killer für das Schulklima. „Oft sind es die | |
| Arbeitsbedingungen mit wenig Anerkennung, wenig Einfluss oder mit | |
| Teamkonflikten, unter denen die Patientinnen und Patienten leiden, die zu | |
| uns kommen“, sagt Stressforscher Adli. | |
| Aber der Umgang mit Stress sei auch sehr abhängig von der Persönlichkeit | |
| der Beschäftigten, meint der Psychiater. Die Therapeut:innen in der | |
| Klinik bringen den Hilfesuchenden bei, weniger perfektionistisch zu sein, | |
| eigene Bedürfnisse besser zu formulieren, möglicherweise in ihrem Job die | |
| Position oder das Team zu wechseln, vielleicht die Arbeitsstunden zu | |
| reduzieren oder auch in eine andere Branche zu gehen. 80 Prozent der | |
| Patient:innen der Tagesklinik kehrten nach ihrer Krankheitsphase wieder | |
| in ihre Beschäftigung zurück, sagt Adli. | |
| Auch Ute aus der Selbsthilfegruppe in Berlin-Tempelhof will wieder anfangen | |
| im Krankenhaus, erst mal mit reduzierter Stundenzahl. „Es hilft mir, wenn | |
| ich am Morgen wie alle anderen zur Arbeit fahren kann“, sagt sie, „schon in | |
| der U-Bahn mit den vielen Leuten spüre ich diese Energie.“ | |
| 30 Apr 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://index-gute-arbeit.dgb.de/++co++5d56994c-6390-11ee-b880-001a4a160123 | |
| [2] /Frauenpolitik-und-Personalmangel/!5973679 | |
| [3] /Gewalt-und-Burn-out-an-Schulen/!6003482 | |
| [4] https://www.researchgate.net/publication/361050559_Belastungs-_und_Resilien… | |
| ## AUTOREN | |
| Barbara Dribbusch | |
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