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# taz.de -- Essay über Burn-out-Erkrankung: Den Leib zurückerobern
> Die niederländische Journalistin Bregje Hofstede erzählt in ihrem neuen
> Essay, wie sie sich ihrem Körper entfremdete – und ihn sich zurückholte.
Bild: Bregje Hofstede erzählt die Geschichte eines Geistes, der seinen Körper…
Bekanntermaßen wird man sich seines Körpers just in jenem Moment bewusst,
in dem er sich verweigert. Um es mit Martin Heideggers Diktum über die
Technik auszudrücken: Es gibt eine Differenz zwischen dem Vorhanden- und
dem Zuhandensein. Nichts ist schlimmer, als vor einem sperrigen Ding zu
stehen, das zwar vorhanden, aber eben nicht zuhanden ist. Zumal, wenn es
sich dabei um den Körper handelt.
Bregje Hofstedes „Die Wiederentdeckung des Körpers“ handelt von genau
diesem Problem. Der Essay nimmt die Burn-out-Erkrankung der 32-jährigen
Journalistin zum Ausgangspunkt für Überlegungen zum Leibsein in der
Leistungsgesellschaft. Es ist die Geschichte eines Geistes, der seinen
Körper so lange überfordert, bis er den Geist aufgibt. In der Phase der
Rekonvaleszenz muss die Autorin ein Problem lösen: Wie den Körper
wahrnehmen, ohne ihn zu analysieren und zu bewerten?
Hofstede ist es gewohnt, Höchstleistungen zu vollbringen. Als Schreibende,
als Sportlerin. Einmal fährt sie, die aus den Niederlanden stammt – einem
doch recht flachen Land –, eine Radtour über die Alpen. Ohne Vorbereitung.
Weil sie glaubt, auch Berge mit ihrem Geist überwinden zu können.
Der Geist, der Berge versetzen kann, auch das ist ja ein Topos. „Der Geist
ist willig, das Fleisch ist schwach.“ Die abendländische Kultur hat eine
lange Tradition des Denkens in Körper-und-Geist-Dichotomien, die das eine
streng vom anderen scheiden. Der Geist gilt als der große Überwinder. Wer
wirklich will, den kann nichts aufhalten. Der Geist mag uns heute in seiner
Reinkarnation als Psyche wiederbegegnen, aber die Grundmaxime bleibt
dieselbe.
## Gefangen im Überlastungszustand
Burn-out wiederum erscheint uns als psychisches, dezidiert
nichtkörperliches Phänomen. Als Leiden einer Psyche, die in einem
Überlastungszustand gefangen ist. Spa-Retreats, Meditation und andere,
häufig kostspielige Angebote versprechen Heilung von der Überforderung.
Stets gilt es, etwas zu machen. Wehe dem, der den Weg aus der Erschöpfung
mit bloßem Nichtstun geht!
Auch die Autorin probiert es mit Meditation und Yoga, als ihr Körper
versagt. Aber das Ganz-bei-sich-Sein verursacht ihr Augenflimmern. Sie kann
nicht mehr nichts tun. Schließlich verweigert sich ihr Körper vollends, sie
stürzt Treppen herunter und spürt beim Sitzen die Beine nicht mehr.
Daher führt der Weg zurück in ihr normales Leben über diese Beine. Die
Autorin feiert das Spazieren und Joggen als Weg in die geistige Freiheit,
sie zitiert die großen Wanderer als Gewährsmänner ihrer Befreiung stante
pede: Friedrich Nietzsche und Henry David Thoreau. „Der schreibende Leib
ist ein lustwandelnder Leib.“ Interessanterweise lässt sie Rebecca Solnit,
die mit „Wanderlust“ ein ganzes Buch über das Denken auf zwei Beinen
geschrieben hat, unerwähnt. Doch es geht nicht nur inhaltlich ums Wandern.
## Spurensuche in Büchern
Der Text vollzieht in seinem Aufbau nach, was die Autorin beschreibt: das
Abschreiten einer Topografie, ein Be-Schreiben eines geistigen Wegs, der
sie an verschiedene mentale Orte führt; eine Spurensuche in Büchern, die
schließlich in eine tatsächliche Reise mündet, eine Reise nach Jerusalem.
Der Topos ist hier wiederum realer physischer Ort und metaphorische
Verortung im Sinne der antiken rhetorischen Tradition, in der Topoi Orte
der Argumente sind. So ergibt sich ein Text, der ab und an vom Weg abkommt,
weil er an verschiedenen Orten nach Argumenten sucht. Ein Feld wird dabei
völlig übersehen, als Leser erwartet man ständig, dass die Autorin endlich
darauf zu sprechen kommt.
Es kommt ihr erst zum Schluss, auf ihrer Jerusalemreise, in den Sinn: Die
Geist-Körper-Trennung, die völlige Entfremdung des einen vom anderen, ist
die unmittelbare Folge des Frauseins. Schon als Mädchen lernt sie, dass sie
entweder Körper oder Geist sein kann. Books or looks, sie muss sich
entscheiden, das bringt ihr ihre Familie nahe. Ein Körper, der gesehen und
gefühlt wird, der kann keinen Geist haben, so lehrt es die Kultur. „Je mehr
mein Körper wuchs, desto mehr schien meine Welt zu schrumpfen.“
## Belästigung durch Männer
In [1][Susan Sontag] findet Hofstede eine Gewährsfrau der Leibverleugnung,
die zeitlebens daran litt, körperliche und geistige Existenz streng trennen
zu müssen. Hofstede will das nicht. Zugleich wird sie sich bei ihrer Reise,
auf der sie ständig von Männern angesprochen und oft genug belästigt wird,
nur allzu schmerzlich bewusst, dass ihr Körper nicht nur da ist, sondern
auch für andere sichtbar ist.
Übrigens zeigen die Bilder im Text jeweils nur Ausschnitte des Leibes, wie
von einem sezierenden Blick zerlegt. Ihr wird klar, dass der Körper für sie
als Frau ein Problem darstellt in einer Gesellschaft, die sie ständig zur
Vermessung und Beobachtung des Körpers anhält, wobei gilt: Je intensiver
wir unseren Körper skrutinieren, desto fremder wird er uns.
Der Körper ist von Gewicht. Er muss sich Raum verschaffen, um nicht vom
Gewicht der Anforderungen an das Selbst erdrückt zu werden. Burn-out, so
die Pointe des Textes, ist die Folge von Raumverlust. Daher gilt es, Raum
zurückzuerobern. Und das ganz und gar körperlich.
20 May 2020
## LINKS
[1] /Essayband-von-Siri-Hustvedt/!5575579
## AUTOREN
Marlen Hobrack
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