| # taz.de -- Politischer Streik: Nur mehr Geld macht nicht glücklich | |
| > Das deutsche Streikrecht ist restriktiv, für gesetzliche Regulierungen | |
| > streiken ist illegal. Aber dagegen regt sich jetzt Widerstand. | |
| Bild: Nicht nur in Deutschland streikt das Krankenhauspersonal, sondern auch wi… | |
| Silvia Habekost sieht müde aus. Die Krankenpflegerin setzt sich in ihrer | |
| Berliner Altbauwohnung hin, ein alkoholfreies Radler in der Hand. Gerade | |
| hat die stellvertretende Leiterin der Anästhesie ihre Schicht im | |
| Vivantes-Klinikum im Friedrichshain beendet. Wieder einmal in | |
| Unterbesetzung, erzählt sie, der Personalmangel. Dann beginnt Habekost, von | |
| ihrem Kampf für bessere Pflegebedingungen und gegen die Marktzwänge im | |
| Gesundheitssystem zu sprechen – und wacht dabei schnell auf. Es ist ein | |
| Kampf, den Habekost, Jahrgang 1962, schon ihr halbes Leben führt. | |
| Eines habe sie in dieser Zeit gelernt, sagt Habekost. „Wirklich Macht | |
| ausüben, die Dinge wirklich verändern, das können Lohnabhängige nur durch | |
| den Streik.“ Jahrelang hätten die Pflegenden an die Politik appelliert, | |
| etwas gegen die Zustände in den Kliniken zu tun, die Personal und | |
| Patient:innen gefährdeten. | |
| Sie haben Petitionen geschrieben, protestiert, versucht in der | |
| Öffentlichkeit gehört zu werden. Doch die Politik liefere meist [1][nur | |
| kosmetische Reformen], vieles hätten sich die Beschäftigten [2][selbst | |
| erkämpfen müssen]. „Ohne unsere Streiks wäre überhaupt nichts passiert.“ | |
| Was Silvia Habekost hier so natürlich ausspricht, ist nicht | |
| selbstverständlich. Denn die Organisation des Gesundheitssystems ist eine | |
| politische Frage – und für politische Veränderungen zu streiken, ist in | |
| Deutschland nach herrschender Rechtsauslegung illegal. | |
| Anders als in anderen EU-Ländern wie Frankreich oder Griechenland, wo der | |
| Streik schlicht zur demokratischen Auseinandersetzung dazugehört, ist das | |
| Streikrecht hierzulande stark beschränkt. Gestreikt werden darf nur, | |
| [3][wenn eine anerkannte Gewerkschaft dazu aufruft] und wenn der | |
| Arbeitskampf auf einen Tarifvertrag abzielt, also in der Regel auf bessere | |
| Bezahlung. | |
| ## Streik nur im eigenen Krankenhaus erlaubt | |
| Für Habekost und ihre Kolleg:innen bedeutet das: Sie dürfen für mehr | |
| Geld streiken, aber nur in ihrem eigenen Krankenhaus. Für eine andere | |
| Ausfinanzierung des Gesundheitswesens dürfen sie die Arbeit nicht | |
| niederlegen. Aber egal, ob bei Pfleger:innen, Lehrer:innen [4][oder | |
| Beschäftigten im Nahverkehr]: Die Arbeitsbedingungen hängen oft von | |
| gesetzlichen Rahmenbedingungen ab – gegen die die Beschäftigten nicht | |
| streiken dürfen. | |
| Auf dieses Problem haben kürzlich auch Bus- und Bahnfahrer:innen von | |
| Verdi [5][an einem gemeinsamen Klimastreiktag] mit Fridays for Future | |
| aufmerksam gemacht. Denn natürlich hängen ihre Arbeitsbedingungen auch | |
| davon ab, welche Priorität die Regierung der Verkehrswende einräumt. Um | |
| einen politischen Streik im engeren Sinne handelte es sich aber nicht: Die | |
| Aktionen fanden lediglich zeitgleich statt, nur der Streik der | |
| Klimaaktivist:innen richtete sich direkt gegen die Regierung. | |
| Dennoch hat die Aktion die potenzielle Streikmacht der Beschäftigten | |
| gezeigt, die die Menschen bei Tag und Nacht ans Ziel fahren. Diese | |
| Nachricht ist bei der Gegenseite auch angekommen. Gitta Connemann, die | |
| Vorsitzende der Wirtschaftsunion, warnte sogleich eindringlich davor, dass | |
| sich Streiks jemals gegen die Regierung richten könnten – sonst „gnade uns | |
| Gott“. Gleichzeitig werden aus Union und FDP Stimmen laut, die wegen der | |
| Warnstreiks der Lokführergewerkschaft GDL das Grundrecht auf Streik noch | |
| weiter beschneiden wollen. | |
| Für Christoph Wälz sind die Grenzen des Streikreichts schon jetzt zu eng. | |
| Er ist Lehrer in Berlin und engagiert sich in der Bildungsgewerkschaft GEW | |
| für das politische Streikrecht. Für viele Lehrkräfte sei die Bezahlung | |
| nicht der Knackpunkt. „Da geht es um Arbeitsbelastung, Ausstattung, eine | |
| Begrenzung der Arbeitszeit oder um die Sanierung von Toiletten“, sagt Wälz. | |
| ## In Deutschland regelt kein Gesetz die Streikbedingungen | |
| Doch wieso ist es verboten, die Regierung durch Streik mit solchen | |
| Problemen zu konfrontieren? Eine Antwort darauf ist gar nicht so einfach. | |
| Denn es gibt in Deutschland kein Gesetz, das Streiks eindeutig regelt. | |
| Artikel 9 des Grundgesetzes regelt lediglich das Recht, Gewerkschaften zu | |
| gründen. Alles Weitere beruht nicht auf Gesetzen, sondern auf Richterrecht, | |
| also vor allem auf vergangenen Urteilen des Bundesarbeitsgerichts. | |
| In der Geschichte dieser Urteile ist ein Name besonders relevant: Hans Carl | |
| Nipperdey. Nipperdey war von 1954 bis 1963 erster Präsident des | |
| Bundesarbeitsgerichts und hat in dieser Funktion das deutsche Streikrecht | |
| entschieden geprägt. Doch Nipperdeys Karriere begann nicht erst in der | |
| Bonner Republik, sondern bereits im Nationalsozialismus. Da hatte er | |
| entscheidend daran mitgewirkt, das Weimarer Arbeitsrecht im Sinne der | |
| Naziideologie umzuschreiben – also die Arbeiter:innen als | |
| „Gefolgschaft“ dem „Betriebsführer“ bedingungslos unterzuordnen, wie e… | |
| Nazisprech hieß. | |
| Für Theresa Tschenker ist das keine Randnotiz. Die Juristin hat zur | |
| Geschichte des politischen Streikrechts promoviert. Sie sieht in Nipperdeys | |
| Rechtsprechung einen ideologischen „NS-Kern“. „Nipperdey hat argumentiert, | |
| dass Streiks auch schlecht für Beschäftigte seien, weil sie die florierende | |
| Volkswirtschaft beschädigten“, erklärt Tschenker. | |
| Wie in der Naziideologie würde damit der Interessenkonflikt ökonomischer | |
| Klassen ignoriert, indem auf das gemeinsame Schicksal als Volk verwiesen | |
| wird. Nipperdey habe den Streik als unerwünschtes Ereignis begriffen und | |
| damit die Eingrenzung des Streikrechts begründet. | |
| Mit dem Geist des Grundgesetzes habe das wenig zu tun, sagt Tschenker. Sie | |
| hat die Diskussionen des Parlamentarischen Rats von 1948 und 1949 | |
| analysiert, in dem das Grundgesetz entworfen wurde. Dabei habe sie keine | |
| Hinweise auf einen nötigen Tarifbezug des Streiks gefunden. „Alle waren | |
| sich einig, dass es das Streikrecht als Lehre aus der NS-Zeit geben muss“, | |
| sagt sie. Ein Streik gegen den Staat in einer Branche, in der die | |
| Arbeitsbedingungen stark von staatlichen Entscheidungen abhängen, könne | |
| deshalb schon heute vom Grundgesetz abgedeckt sein. Das Richterrecht könne | |
| revidiert werden, sagt sie. | |
| Silvia Habekost und die Berliner Krankenhausbewegung haben es bereits | |
| innerhalb des bestehenden Rechts geschafft, im Streik die Frage der | |
| Krankenhausfinanzierung zu thematisieren. 2015 erstritten die | |
| Pfleger:innen der Berliner Charité vor Gericht, dass auch | |
| Personalstandards zum Gesundheitsschutz zählen und ein tarifvertraglich | |
| regelbares Streikziel sind – ein Wendepunkt. | |
| Dieser juristische Erfolg war die Basis für die bundesweiten | |
| Krankenhausstreiks, die seither [6][von Stadt zu Stadt] ziehen. In Berlin | |
| erkämpfte die Bewegung 2021 einen [7][„Tarifvertrag Entlastung“], dank dem | |
| Pfleger:innen Freischichten erhalten, wenn die im Vertrag festgelegten | |
| Mindestbesetzungen unterlaufen werden. Silvia Habekost sagt, so würde nicht | |
| nur ökonomischer Druck auf die Klinikleitungen aufgebaut, mehr Personal | |
| einzustellen – auch der Druck auf die Politik steige, die öffentlichen | |
| Kliniken angemessen zu finanzieren. Also „waren die Krankenhausstreiks | |
| bereits politische Streiks“, sagt sie – und klingt dabei ein bisschen | |
| stolz. | |
| Bis sich aber ein Streik wirklich direkt an die Regierung richtet, könnte | |
| es noch einige Zeit dauern. „Die Drohkulisse ist einfach zu groß“, sagt | |
| Lehrer Wälz. Für den Fall, dass der Streik nicht als Streik anerkannt wird, | |
| fürchten Gewerkschaften Schadensersatzforderungen, für die Beschäftigten | |
| steht ihr Job auf dem Spiel. Und auch innerhalb der Gewerkschaften gebe es | |
| Widerstände. „Der Tarifbezug verschafft Gewerkschaften ja auch eine | |
| Machtposition“, erklärt Wälz. Sie dürfen Tarifverträge verhandeln, müsst… | |
| dafür aber garantieren, dass die Beschäftigten nicht streiken, solange der | |
| Tarifvertrag noch gültig ist. | |
| Christoph Wälz findet trotzdem, dass die Gewerkschaften sich mehr trauen | |
| und „mehr auf Gegenmacht setzen können.“ Gut möglich, dass auf diesem Weg | |
| auch die Reform des Gesundheitssystems schneller vorangetrieben werden | |
| könnte und Silvia Habekost etwas weniger mit Müdigkeit zu kämpfen hätte. | |
| 16 Mar 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Timm Kühn | |
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