# taz.de -- Konzeptalbum über Hafenstadt Odessa: Klangerinnerungen an besonder… | |
> Der ukrainische Jazzpianist Vadim Neselovskyi setzt seiner Heimatstadt | |
> ein musikalisches Denkmal: „Odesa: A Musical Walk Through a Legendary | |
> City“. | |
Bild: Lakonisch und zugleich mit konstant hoher Energie: der ukrainische Pianis… | |
Von Klaus Theweleit kommt die schöne Idee, dass Schallplatten nicht nur | |
Töne abspielen, die auf ihnen gespeichert sind, sondern auch die Emotionen | |
von Hörerin und Hörer aufnehmen. Und damit also eine Art | |
Erinnerungsspeicher sind. Musik, die einen berührt, zeichnet beim Abspielen | |
etwas auf, das von da an wieder abrufbar ist. Hört man Musik wieder, die | |
einen in existenziellen Momenten begleitet hat, kann man erneut spüren, was | |
man damals gespürt hat – als verkörperte Erinnerung, nicht als schlichtes | |
Wiederholen. | |
Der ukrainische Pianist Vadim Neselovskyi spielt auf seinem im Sendesaal | |
Bremen aufgenommenen Album „Odesa: A Musical Walk Through a Legendary City“ | |
eine Musik, die unter anderen von musikalischen Erinnerungen erzählt und | |
diese in die Stücke selbst eingewoben hat. Die Suite für Soloklavier soll | |
die Geschichte der größten Hafenstadt der Ukraine und eines ihrer | |
kulturellen Zentren (seit der Besetzung der Krim der Hauptstützpunkt der | |
ukrainischen Marine) atmosphärisch einfangen. | |
Vadim Neselovskyi hat eine veritable Wunderkindbiografie: Im Alter von 15 | |
Jahren jüngster Student in der Geschichte der Odessa National Music | |
Academy, mit 18 Jahren kam er als jüdischer Kontingentflüchtling nach Unna | |
und studierte später bei dem ebenfalls in Odessa geborenen Komponisten | |
Boris Bloch an der Folkwang Universität der Künste in Essen. | |
## Karriere in den USA | |
Neselovskyi, geboren 1977, ist in Deutschland bisher trotzdem nicht allzu | |
sehr bekannt. Seit 2001 lebt er in den USA und spielte unter anderem mit | |
[1][Herbie Hancock], [2][John Zorn] – für den er eine Folge der „Masada | |
Book“-Serie aufnahm – und dem Vibrafonisten Gary Burton zusammen. Der | |
holte ihn auch ans Berklee College of Music in Boston, wo Neselovskyi | |
heute als Professor lehrt. | |
Sein musikalischer Rundgang durch Odessa ist vor Kriegsbeginn entstanden. | |
Seit dem 24. Februar wird Vadim Neselovskyi immer wieder damit | |
konfrontiert, dass er sich als in der Ukraine geborener Künstler zum | |
russischen Angriffskrieg äußern und seine Musik in politischen Kategorien | |
beschreiben soll. Seine bisherige Arbeit ließ wenige außermusikalische | |
Bezugspunkte erkennen und balancierte mit schöner Leichtigkeit zwischen | |
[3][Jazz] und Neoklassik. | |
Eine wirkliche Entdeckung sind die zusammen mit [4][dem russischen | |
Flügelhornisten Arkadi Schilkloper] aufgenommenen Alben. Auf „Odesa: A | |
Musical Walk Through a Legendary City“ ist nun eine Art Programmmusik zu | |
hören. Mit Kriegsbeginn ist diese Musik zu etwas geworden, das von einer | |
Stadt erzählt, die gerade zerstört zu werden droht. | |
## Lasst es nicht zur Zerstörung kommen! | |
Obwohl sie anders gedacht war, ist es heute kaum möglich, Neselovskiys | |
Klangwandeln zu hören, ohne das, was Odessa möglicherweise bevorsteht, | |
mitzudenken. Was als Erinnerungsmusik gedacht war, wurde mit Kriegsbeginn | |
zum Klangbild eines Ortes, der bald in seiner jetzigen Form verschwinden | |
könnte. Und zugleich zu einer Aufforderung, es nicht so weit kommen zu | |
lassen. | |
Die Musik auf „Odesa: A Musical Walk Through a Legendary City“ entfaltet | |
sich auf mehreren Ebenen, die sich abwechseln und gegenseitig durchdringen. | |
Zum einen funktioniert der Sound als Atmosphärenmusik. Das Stück „Winter in | |
Odesa – Freezing“ ist das, was der Titel verspricht: streng-lakonische | |
Klangbilder eines Spaziergangs durch eine Hafenstadt in eiskalter, | |
glasklarer Luft, die sich auch Robert Schumann hätte ausdenken können; oder | |
auch Max Richter oder Nils Frahm, wären sie nicht solche Kitschnudeln. | |
## Potemkinsche Treppe | |
Andere Stücke beziehen sich auf Orte, „Potemkin Stairs“ etwa, das die durch | |
Eisensteins Film „Panzerkreuzer Potemkin“ legendär gewordenen 192 Stufen | |
der Potemkin’schen Treppe aufruft und Anleihen bei der deutschen | |
Stummfilmmusik der 1910er und 1920er Jahre nimmt. In Neselovskyis | |
Klavierspiel hört man eine am Keith Jarrett der 1970er Jahre geschulte Lust | |
am Improvisieren, aber auch den Spaß am Konzeptuellen und Ironischen, der | |
wiederum an die komponierten Zeitenmischungen des Pianisten Uri Caine | |
erinnert, aber nie in Eklektizismus abdriftet. | |
Zum anderen wurzelt diese Musik im Autobiografischen. Ein weiterer Strang, | |
der in dieser Hommage an eine Stadt und ihre Geschichte immer wieder | |
aufscheint, ist die jüdische Musiktradition. Und zwar nicht plakativ, also | |
nicht mit folkloristischen Anleihen, sondern um die Ecke gedacht. „Jewish | |
Dance“ etwa nimmt die Melodie eines Wiegenliedes auf, das Vadim Neselovskys | |
Mutter bereits von ihrem Vater vorgesungen wurde, und beschleunigt sie, um | |
auf dieser Basis immer wieder zu Improvisationen auszuholen. Hier bricht | |
sich die Musikgeschichte in der subjektiven Erinnerung: Ein Stück mit | |
dieser Melodie ließ sich nicht recherchieren, und so bleibt als einzige | |
Grundlage für all das, was das Stück erzählt, die Erinnerung der Mutter. | |
Andere Anspielungen kann man auch von außen nachvollziehen, etwa wenn in | |
„My First Rock Concert“ die Melodie des Songs „Blood Type“ der | |
New-Wave-Band Kamera anzitiert wird. Es braucht nur ein paar Tastenfolgen | |
auf dem Klavier, um die Ära der Perestroika und die überschaubare | |
sowjetische Popkultur der Achtziger aufzurufen; was für russische und | |
ukrainische Hörer:innen dann natürlich als Erinnerungsspeicher | |
unmittelbarer funktioniert als für zum Beispiel deutsche Ohren. Die meisten | |
Anspielungen hier sind so eingewoben und verborgen in der Musik, dass man | |
sie, wenn überhaupt, nur zufällig entdeckt. | |
## Konstant hohes Energielevel | |
Die Musik auf „Odesa“ wechselt so, bei gleichbleibend hoher Energie, | |
zwischen den Bezugspunkten Stadthistorie und individuelle Erinnerung, | |
zwischen dem Privaten, Besonderen und der Geschichte, die weiter fortwirkt | |
bis in die nachkommenden Generationen. Die Geschichte der großen jüdischen | |
Gemeinde Odessas wird in dem Stück „October 1941 – Prayer“ aufgerufen. D… | |
Titel verweist auf das Datum des Pogroms im Zweiten Weltkrieg, bei dem über | |
30.000 Juden in der Stadt und den umliegenden Gemeinden von rumänischen und | |
deutschen Einsatzkommandos und ukrainischen Kollaborateuren ermordet | |
wurden, und die Musik wechselt zwischen expressionistischer Gewalt, also | |
Fäusten auf dem Klavier, und den stillsten Momenten des Albums. | |
Für das Gefühl, dass hier in vielen Momenten etwas Verlorenes beschworen | |
wird, braucht es die drastische Aufladung durch das Wissen um das aktuelle | |
Kriegsgeschehen nicht. Dass hier etwas bewahrt werden soll als Erinnerung, | |
wiederum mit Höreindrücken und Atmosphären verbunden, ist in die Musik | |
selbst eingeschrieben. Und vielleicht auch schon in ihre Entstehung, die | |
verbunden ist mit einem Abschied. | |
Er habe seinem Vater die ersten Stücke des Albums kurz vor dessen Tod noch | |
vorspielen können, hat Vadim Neselovskyi im Interview mit Radio Bremen Zwei | |
erzählt. Er sei wirklich „die Verkörperung des Geistes von Odessa“ gewese… | |
„Humor, Ironie, Optimismus, Lebensfreude, trotz allem“. Zur Zeit der | |
Entstehung der Musik sei sein Vater schon schwer an Krebs erkrankt gewesen, | |
aber ein paar der Stücke hätte er noch hören können. „Und er hat gesagt, | |
das klingt richtig, das klingt wie Odessa.“ | |
Die Erinnerungen und die Makrogeschichte der Stadt – die Musik Neselovskyis | |
klingt, als wüsste er, dass das eine ohne das andere nicht zu haben ist und | |
beides einander durchdringt. Und dass Musik, die als Erinnerungsspeicher | |
gedacht wurde, also von beidem ausgehen muss. | |
10 Jun 2022 | |
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[4] https://www.youtube.com/watch?v=o6lHHYkjyrQ | |
## AUTOREN | |
Benjamin Moldenhauer | |
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