# taz.de -- Kleidung und ihre Produktionsbedingungen: Auf Kante genäht | |
> Textilfabriken in Bangladesch und Pakistan können gefährliche | |
> Arbeitsplätze sein. KiK-CEO Patrick Zahn will das ändern und war vor Ort. | |
> Eine Reportage. | |
Bild: Die Arbeiter:innen dieser Textilfabrik in Dhaka produzieren billige Kleid… | |
Kaum angekommen, stürmt Patrick Zahn die Treppen hoch. Etwas außer Puste | |
tritt der Chef des deutschen Textildiscounters KiK im achten Stockwerk | |
hinaus auf das flache Betondach der Fabrik. Draußen herrschen 35 Grad, die | |
Luft ist feucht, die Sonne scheint grell auf Dhaka, die Hauptstadt von | |
Bangladesch. | |
„Jetzt den Schlauch anschließen“, verlangt ein mitgereister KiK-Manager. | |
„Feuerwehr“ und „Rettung“ steht auf Englisch auf den gelben Westen der | |
beiden Arbeiter, die den Schlauch ausrollen, die Düse aufsetzen, sich in | |
Position stellen. Ein dritter öffnet das Ventil. Meter für Meter schwillt | |
die Leitung an, bis ein armdicker Strahl bräunlichen Wassers über das Dach | |
schießt. Zufriedenheit. Das hat geklappt. | |
Zahn, hellblaues Freizeithemd, hochgekrempelte Ärmel, Sportschuhe, ist auf | |
Kontrollbesuch in Dhaka. Er lässt sich erklären, was die Eigentümer der | |
Fabrik tun, um Brände zu vermeiden und zu bekämpfen. „Nun wollen wir einen | |
elektrischen Schaltschrank sehen“, fordert sein Mitarbeiter. Die 20-köpfige | |
Gruppe steigt das Treppenhaus wieder hinab. | |
In Deutschland ist KiK für sehr günstige Bekleidung bekannt. Eine | |
Herrenhose bekommt man in den Geschäften schon für 6,99 Euro, T-Shirts ab | |
3,99 Euro, Sportschuhe ab 9,99 Euro. Von diesem Billigimage ist nichts zu | |
spüren, als die KiK-Delegation einige ihrer Lieferanten in Asien besucht. | |
Im Gegenteil: Patrick Zahn tritt hier als anspruchsvoller Kunde auf, der | |
Qualität einfordert. Er drängt darauf, dass die Fabriken, die die | |
KiK-Textilien herstellen, Millionen Euro in die Sicherheit ihrer | |
Beschäftigten investieren. | |
Zahn bearbeitet ein Trauma. Vor neun Jahren stürzte die Fabrik [1][Rana | |
Plaza in Dhaka ein]. Mehr als 1.100 Tote. Vor zehn Jahren [2][brannte Ali | |
Enterprises in Karatschi], Pakistan, ab. 259 Tote. Wie ist die Situation | |
heute? Kann das überhaupt zusammenpassen – [3][billige Klamotten und gute | |
Arbeit]? | |
Ventilatoren surren unter den niedrigen Decken. Neonlicht erleuchtet lange | |
Reihen von Nähmaschinen. Dutzende Arbeiter:innen sitzen eng | |
hintereinander, mehrere Herstellungslinien nebeneinander. Dazwischen Berge | |
von Stoffen, Stapel von Einzelteilen, die am Ende zu Kleidungsstücken | |
zusammengefügt werden. Hunderte Male täglich zieht jede:r Beschäftigte | |
dieselben zwei, drei Nähte, gibt die Stücke an die Kolleg:innen weiter, | |
die die nächsten Schritte ausführen. Kurze, präzise Handgriffe, alles geht | |
sehr schnell. Schwere Arbeit, die leicht aussieht. Bis zu elf Stunden | |
täglich, sechs Tage pro Woche. | |
Ein Arbeiter öffnet jetzt den Schaltschrank in einer Ecke des | |
Produktionsgeschosses. Zahns Leute schauen sich die Verdrahtung an. Reicht | |
sie für die Stromstärke, in welchem Zustand sind die Sicherungen? KiK hat | |
von seinen Zulieferern in den vergangenen Jahren verlangt, die Elektrik zu | |
modernisieren, denn Kurzschlüsse können Brände auslösen. Nun wird der Strom | |
im gesamten Stockwerk gekappt. Das Rauschen der Propeller und Maschinen | |
verstummt. | |
Leuchten die Schilder über den Notausgängen trotzdem, damit das Personal | |
bei Bränden den Weg nach draußen findet? Und funktionieren die Alarmsirenen | |
in allen Stockwerken? Abgehacktes, lautes Tröten. Okay. Zahn nickt. Hört | |
sich gut an. | |
Weiter zum Check der Feuerlöscher im Erdgeschoss. Vorbei an den Näherinnen | |
und Nähern, die die Fremden fasziniert und ein bisschen ängstlich | |
betrachten, hetzt der Tross. Mit dabei immer ein paar Arbeiter:innen, die | |
eilfertig Papiertücher reichen, wenn den Besucher:innen der Schweiß | |
über die Gesichter rinnt. | |
Die KiK-Leute drängeln. Sie reiten hier ein wie die Herren, geben | |
Anweisungen, setzen die einheimischen Manager unter Druck. Der Besuch war | |
zwar angekündigt, aber erst vor Ort entscheiden Zahn und seine Leute, was | |
genau sie sehen wollen. Die Fabrik soll keine Chance haben zu schummeln. | |
Alle Sicherheitssysteme müssen jederzeit funktionieren. „Wir reden Tacheles | |
und lassen uns nicht einlullen“, sagt der KiK-Chef. „Wir haben die | |
Erfahrung gemacht, dass es der größte Fehler ist, wenn man zunächst mit den | |
Besitzern im Büro plaudert und sich dann erst etwas zeigen lässt.“ | |
Welche Fabriken bei dieser Reise besucht werden, hat KiK ausgesucht. Der | |
journalistische Einblick ist deshalb begrenzt. Denkbar ist, dass alle | |
Firmenvertreter und Beschäftigten ein geschöntes Bild zeichnen. Nicht | |
ausgeschlossen, dass die Arbeitsbedingungen anderenorts schlechter sind, | |
beispielsweise bei den Zulieferern der Zulieferer. | |
Der Korrespondent, der die Reise unter anderem mit Unterstützung der taz | |
unabhängig finanziert, ist der einzige Medienvertreter. KiK-Chef Zahn will | |
demonstrieren, dass sich in seiner Firma etwas verändert hat. | |
Es geht um viel. In dem Fabrikgebäude Rana Plaza, das 2013 einstürzte, | |
waren auch Textilien für KiK hergestellt worden. Über 1.100 Beschäftigte | |
starben, 2.500 weitere wurden verletzt. So etwas soll nicht noch einmal | |
passieren. Damals erst merkten viele Kund:innen in Europa und | |
Nordamerika, unter welch schlechten Bedingungen die Herstellung ihrer | |
Konsumgüter stattfand. | |
Hatte KiK als Textildiscounter in wohlhabenden Bevölkerungsschichten vorher | |
schon keinen guten Ruf, sackte das Image durch Rana Plaza noch weiter ab. | |
„Viele Bürger hatten Bedenken, ob sie unsere Produkte kaufen können“, sag… | |
Zahn [4][2017 in einem taz-Interview]. Und „neue Mitarbeiter zu finden, | |
gestaltete sich zeitweise schwierig, weil Vorbehalte gegen die Firma | |
bestanden“. | |
Auch wegen Rana Plaza beschloss der Bundestag im vergangenen Jahr [5][das | |
Lieferkettengesetz]. Ab Anfang 2023 müssen alle in Deutschland tätigen | |
Unternehmen mit mehr als 3.000 Beschäftigten die sozialen und ökologischen | |
Menschenrechte der Arbeiter:innen ihrer weltweiten Zulieferfabriken | |
schützen – in allen Branchen, nicht nur in der Textilwirtschaft. Und bald | |
dürfte eine EU-Richtlinie folgen, die noch schärfer ausfällt als das | |
deutsche Gesetz (s. Kasten auf Seite 30). Währenddessen hat KiK – als Folge | |
der Rana-Plaza-Katastrophe – einen Teil des Wegs schon zurückgelegt, den | |
die meisten Firmen erst beginnen. | |
Zwei Autostunden von der Zulieferfabrik entfernt sitzt Amirul Haque Amin in | |
einem fensterlosen Besprechungsraum an einem langen, blauen Tisch. Seine | |
Mitarbeiterin bringt Kaffee. Die Wände sind mit farbenfrohen Flugblättern | |
für Demonstrationen, Plakaten, Aufrufen und Zeitungsausschnitten tapeziert, | |
auf vielen ist Amin, der Boss, zu sehen. Er leitet die Nationale | |
Textilarbeiter-Gewerkschaft von Bangladesch – die größte und älteste | |
derartige Organisation, wie er sagt. Amin reicht nicht, was KiK tut. Ja, | |
das Leben der Beschäftigten sei nun besser geschützt. Was aber ist mit dem | |
Lohn? | |
8.000 Taka beträgt der staatlich festgesetzte Mindestlohn, erklärt der Mann | |
mit den kurzen, grauen Haaren, umgerechnet rund 82,50 Euro für einen Monat | |
Arbeit. Erstaunlich wenig, Hartz-IV-Empfänger bekommen in Deutschland das | |
Zehnfache. Aber Bangladesch ist ein armes Land. Dort leben doppelt so viele | |
Menschen wie hier, und ihnen steht nur etwa ein Zehntel unseres Wohlstandes | |
zur Verfügung. Also sind die Löhne viel niedriger. | |
In einem armen Land produzieren lassen, in einem reichen verkaufen – das | |
ist ein Mechanismus der Globalisierung. Auch seine 100 Zulieferer im Land | |
zahlen den Mindestlohn, erklärt KiK, plus Zuschläge für höhere | |
Qualifikation und Überstunden. So erhalten viele Arbeiter:innen | |
Monatsverdienste von bis zu 13.000 Taka, ungefähr 136 Euro. „Aber das ist | |
nicht genug“, schimpft Amin nun, „es müssten mindestens 20.000 sein.“ | |
An seinem einzigen freien Tag ist ein Arbeiter zu Amin ins Büro gekommen – | |
extra, um mit dem Journalisten zu sprechen. Hossain, 25 Jahre, ist Näher in | |
einer der KiK-Fabriken. Mit Vater, Mutter, Schwester und Bruder lebt er in | |
einer Zwei-Zimmer-Wohnung. Der Vater arbeitet auf dem Bau, Hossain selbst | |
bringt 13.000 Taka nach Hause. Er rechnet vor: Die Miete kostet fast | |
10.000, die Lebensmittel für einen Monat 15.000. | |
Damit seien die beiden Einkommen nahezu aufgebraucht, mit den täglichen | |
Busfahrten, Kleidung und Hygieneartikeln wird es schon knapp. | |
Beispielsweise für Arztbesuche bleibe nichts übrig. Als sein Bruder krank | |
wurde, berichtet Hossein, habe er einen Kredit für die Behandlung | |
aufgenommen, den er bis heute abbezahle. Eine öffentliche | |
Krankenversicherung gibt es nicht. | |
Existenzsicherndes Einkommen, „living wage“, heißt das Konzept, das | |
Gewerkschafter wie Amin dieser kargen Realität entgegensetzen. Für | |
Bangladesch sollte es zwischen dem Zweieinhalb- und Fünffachen des | |
Mindestlohns liegen, je nach Berechnung verschiedener Organisationen. Und | |
wie ließe sich das finanzieren? „KiK könnte seinen Lieferanten höhere | |
Einkaufspreise zahlen“, schlägt Amin vor. | |
Diese Prämie müssten die Fabriken dann an ihre Beschäftigten weiterreichen. | |
Heute sei das Gegenteil die Regel: Die europäischen und amerikanischen | |
Firmen würden ihre Lieferanten in Bangladesch gegeneinander ausspielen, | |
deren Preise drücken und so verhindern, dass die Gehälter der | |
Arbeiter:innen steigen. Amins Kollegin Kalpona Akter sieht es ähnlich: | |
„Zusammen mit anderen Auftraggebern sollte KiK vorangehen“ und Prämien üb… | |
den zu niedrigen Mindestlohn hinaus zahlen. | |
Patrick Zahn ist auf dem Weg zur nächsten Fabrik. Der Chauffeur lenkt. Man | |
sitzt klimatisiert auf der Rückbank des geräumigen Toyota-SUVs. Reisezeiten | |
von zwei Stunden für 15 Kilometer sind keine Seltenheit. Außerhalb der | |
getönten Scheiben spielt sich das tägliche Gewühl der | |
18-Millionen-Einwohner-Stadt Dhaka ab. Hitze, Staub, Stau, alle hupen. Wo | |
immer eine Gasse entsteht, quetschen sich Motorrikschas und Mopeds | |
hindurch, auf denen manchmal ganze Familien sitzen. | |
„Ich will mit gutem Gewissen ins Bett gehen können“, sagt der 45-jährige | |
Zahn. Seit 2016 führt er KiK im Auftrag der Eigentümer, der | |
Tengelmann-Gruppe. Zuvor leitete er dort den Vertrieb. Die Katastrophen in | |
den Fabriken Rana Plaza und Ali Enterprises, die Toten und das Leid der | |
Hinterbliebenen hätten ihn „tief angetrieben, das Unternehmen zu | |
verändern“. Wenn er hinzufügt „Das haben wir geschafft“, wirkt er im Re… | |
mit sich. Was aber ist mit den miesen Löhnen in den Textilfabriken? Deren | |
Existenz lässt sich kaum bestreiten. | |
Zahn zählt Argumente auf. Erstens: Die Fabriken gehören nicht KiK, sondern | |
selbstständigen Unternehmern in Bangladesch. Zahn zahlt Preise für | |
Lieferungen, nicht Löhne für Beschäftigte. Für Letztere sei nicht er als | |
Auftraggeber verantwortlich. Sondern, zweitens, unter anderem die Regierung | |
von Bangladesch, die den Mindestlohn festlege. Dieser ist seit seiner | |
Einführung im Jahr 2013 von 3.000 Taka auf mittlerweile 8.000 Taka | |
gestiegen. | |
Weitere Erhöhungen dürften folgen. Drittens will Zahn nicht andere Firmen | |
wie Aldi, Lidl, Pepco oder Inditex (Zara) subventionieren, die teilweise in | |
denselben Zulieferfabriken produzieren lassen. Zahlte KiK einseitig höhere | |
Preise, hätten diese Konkurrenten einen Kostenvorteil, weil sie sich nicht | |
beteiligen. | |
Aber kann der Discounter leicht höhere Einkaufspreise nicht verschmerzen, | |
wenn er sie an seine Kund:innen in den Geschäften weiterreicht? | |
Schließlich beträgt der Anteil des Arbeitslohns, der beispielsweise in | |
einer Zehn-Euro-Jeans steckt, nur wenige Prozent, sodass schon ein | |
Aufschlag von etwa 50 Cent im Endkundenpreis ausreichen müsste, um die | |
Verdienste der Zulieferbeschäftigten etwa zu verdoppeln – wenn sie diese | |
Prämie ausgezahlt bekämen. | |
„Kunde ist König“ – dafür steht die Abkürzung KiK. Vergleichsweise arme | |
Leute können sich beim Discounter für rund 40 Euro von den Schuhen bis zur | |
Jacke einkleiden. Wer Hartz IV bezieht oder einen Niedriglohn – das | |
betrifft in Deutschland etwa ein Fünftel der Bevölkerung – spüre einen | |
Preisaufschlag von 50 Cent pro Kleidungsstück durchaus und gehe dann | |
mitunter lieber zur Discount-Konkurrenz, sagt Zahn. | |
KiK verliert dann Marktanteile, fürchtet er. Ein schwieriges Argument: | |
Niedrige Löhne in Deutschland begründen so niedrige Löhne in Bangladesch. | |
Armut rechtfertigt Armut. | |
In der nächsten Fabrik erwarten Zahn mit Gewehren bewaffnete | |
Sicherheitsleute vor dem Metalltor. Die beiden dicken Limousinen rollen auf | |
den Hof, der Firmenbesitzer, seine Tochter plus Untergebene begrüßen den | |
Kunden aus Deutschland, dann startet der Sicherheitscheck. Auf dem Weg | |
begegnet Zahn sich selbst. Er lächelt von einem großformatigen | |
Begrüßungsfoto, das im Treppenhaus hängt, daneben der Plan der Fluchtwege. | |
Hier verlangen die KiK-Leute auch, Interviews mit dem Beschäftigten-Komitee | |
zu führen, das Beschwerden der Arbeiter:innen bearbeiten soll. Ein | |
tiefgekühlter Besprechungsraum, glänzende Bodenfliesen, dunkler | |
Schreibtisch. Vertreter der Zulieferfirma sind nicht anwesend. Der junge | |
Arbeiter – barfuß, Corona-Maske über dem schwarzen Bart – ist | |
Vize-Vorsitzender des Komitees. Unter anderem berichtet er, dass er | |
regelmäßig 11 Stunden täglich an der Nähmaschine sitze, zu den 8 regulären | |
kämen 3 Überstunden. Macht 66 Arbeitsstunden wöchentlich. | |
Abendessen im Hotel. Zahn, unrasiert, Hemd zerknittert, plaudert. Er ist | |
ein nahbarer Typ, interessiert sich für Erfahrungen und Meinungen anderer | |
Leute. Manager-Arroganz ist kaum zu spüren. Wobei er einräumt, eine „kurze | |
Lunte“ zu haben. | |
Als er jetzt eher nebenbei von der langen Arbeitszeit in der Fabrik | |
erfährt, sackt seine Laune schlagartig unter null. 66 Stunden pro Woche | |
widersprechen dem Verhaltenskodex von KiK, der in den Zulieferfirmen | |
aushängt. Dieser orientiert sich auch am deutschen Arbeitszeitgesetz: 60 | |
Stunden wöchentlich sind Obergrenze. | |
Noch beim Essen ordnet Zahn eine Untersuchung an. Er will wissen, ob die | |
Zeitüberschreitung eine Ausnahme oder Alltag ist. Sein Mitarbeiter windet | |
sich: Das könne immer mal vorkommen, gleiche sich im Verlauf von Monaten | |
aber aus. | |
„Wenn diese Information stimmt, dann geht das so nicht und wir schicken | |
morgen unsere Agentur hin“, befiehlt Zahn. KiK arbeitet mit einheimischen | |
Vermittlern zusammen, die das tägliche Geschäft zwischen Lieferant und | |
Kunde koordinieren, aber auch unangemeldete Kontrollvisiten durchführen. | |
Am nächsten Abend ist das Ergebnis da: Zu lange Arbeitszeiten kommen in der | |
Firma bei 10 Prozent des Personals vor. KiK gibt dem Management nun einige | |
Wochen Zeit, den Fehler abzustellen. Bei einem weiteren Besuch werden die | |
beauftragten Kontrolleure das überprüfen. | |
Zahn ärgert sich. Wer ist denn Mitglied im „Accord on Fire and Building | |
Safety in Bangladesh“ und wer nicht? Das ist ein Vertrag zwischen | |
internationalen Auftraggebern und Gewerkschaften, erstmals abgeschlossen | |
2013 als Reaktion auf die Rana-Plaza-Katastrophe. Rund 1.700 Textilfabriken | |
in Bangladesch werden regelmäßig kontrolliert, ob sie baulich stabil und | |
gegen Feuer geschützt sind. Fast 200 global agierende Unternehmen machen | |
mit – aus Deutschland unter anderem Adidas, Aldi, Esprit, Hugo Boss, Lidl, | |
Rewe. Und KiK. Händler wie New Yorker, Tedi, Woolworth oder auch Pepco aus | |
Polen fehlen dagegen auf der Liste. | |
„Wir haben einige Wettbewerber, die niedrigere Standards praktizieren als | |
KiK und von unseren Anstrengungen profitieren“, sagt Zahn. Für Kritik solle | |
man sich doch in erster Linie diese Firmen vorknöpfen und nicht ständig in | |
seinem Unternehmen nach Problemen suchen. Er fühlt sich ungerecht | |
behandelt. | |
Zur Wahrheit gehört jedoch auch: In der Lohnfrage bewegt sich so gut wie | |
nichts. Gezahlt werden meist nur die von den Regierungen der | |
Produktionsländer festgesetzten Mindestlöhne plus Überstunden. Wobei die | |
Untergrenze bloß bei einem Drittel oder Viertel dessen liegt, was | |
Organisationen wie die Asia Floor Wage Alliance, ein Zusammenschluss von | |
Aktivisten, Gewerkschaftern und Wissenschaftlern, als existenzsichernde | |
Bezahlung errechnen. Ausnahmen praktizieren allenfalls kleine Unternehmen, | |
die sich an Fairtrade-Standards orientieren – wobei deren Marktanteil über | |
eine Nische im Textilhandel bisher nicht hinauskommt. | |
Dieser Stillstand liegt auch an KiK, aber nicht nur. Auch die anderen | |
europäischen und nordamerikanischen Auftraggeber bewegen sich nicht. Bei | |
den Lohnkosten schlagen sich die großen Marken insgesamt in die Büsche. | |
Die Löhne der Lieferanten machen einen kleinen, doch relevanten Posten in | |
den Kalkulationen der Unternehmen aus. Wächst dieser, wird es auf die eine | |
oder andere Art teurer, etwa in Gestalt einer geringeren Gewinnmarge, | |
höherer Endkundenpreise oder eines sinkenden Marktanteils. Und das wollen | |
alle vermeiden. | |
Inmitten seines Fabrikareals hat der Besitzer sich und seinen | |
herausgehobenen Gästen eine kleine Oase in dem grauen, lauten und wühligen | |
Industriegebiet von Dhaka eingerichtet: Ein künstlicher Weiher, am Rand | |
stehen Mangobäume, der Meeting-Pavillon ist über einen hölzernen Steg zu | |
erreichen. Die Küche ist ausgestattet mit High-end-Haushaltselektronik aus | |
Europa, man reicht Pizza, Obst und Chickenwings, scharf gewürzt. Kunde und | |
Lieferant plaudern übers Geschäft. | |
Der Eigentümer erwähnt, dass die Preisvorstellung von KiK seine Gewinnmarge | |
gegen null drücke. Das lässt sich bezweifeln, wie der Ort des Gesprächs | |
zeigt. Gegenfrage: Würde er die Löhne der Arbeiter:innen erhöhen, wenn | |
der deutsche Auftraggeber die von den Gewerkschaften geforderte Prämie | |
zahlte? Es folgen Ausflüchte und Umschweife. Angeblich steigen die Löhne | |
sowieso, weil es schwer sei, Personal zu bekommen. | |
Das Hin- und Hergeschiebe der Verantwortung geht beim Verband der | |
Textilindustrie von Bangladesch weiter. Bessere Gehälter für die | |
Beschäftigten? Wären die ausländischen Konzerne großzügiger, ließe sich | |
vielleicht etwas machen, heißt es. Aber die Arbeitnehmer:innen sollten | |
bitte auch etwas bescheidener sein. Schließlich verdienten sie schon jetzt | |
mehr als die Lehrer:innen an staatlichen Schulen. | |
Sie geht Patrick Zahn auf die Nerven, die ständige Debatte über die zu | |
niedrigen Löhne. Trotzdem scheint er nicht ganz untätig bleiben zu wollen. | |
Nach einigen Tagen Fabrik-Hopping formuliert er eine Idee: Ließe sich der | |
Bangladesch Accord nicht um eine soziale Säule erweitern? | |
Könnten Kunden, Lieferanten und Gewerkschaften nicht gemeinsame | |
branchenweite Lohnerhöhungen vereinbaren, mit dem großen Vorteil, dass sie | |
für die Mehrheit der Firmen gleichermaßen gelten würden? Einzelne | |
Unternehmen liefen so nicht Gefahr, die Kosten alleine zu tragen und ihre | |
Marktposition zu verschlechtern. Ein wesentliches Argument Zahns gegen | |
auskömmliche Verdienste in der Lieferkette fiele damit weg. | |
Gewerkschafter Amin kann der Idee etwas abgewinnen – grundsätzlich. Im | |
nächsten Moment ist er skeptisch: „Wollen die das wirklich?“ Oder ist es | |
wieder nur ein Vorschlag, um Zeit zu gewinnen? Das lässt sich | |
augenblicklich schwer sagen. Wobei der Accord in der nächsten Zeit | |
eigentlich anderes auf dem Programm hat. Ein weiteres Land, zum Beispiel | |
Pakistan, soll aufgenommen werden. Dann würden alle Ressourcen zunächst | |
dafür verwendet, die Sicherheit Tausender zusätzlicher Fabriken auf den | |
nötigen Stand zu heben. Schneller ginge es wohl, wenn KiK mit anderen | |
Konzernen ein Pilotprojekt zum Existenzlohn in einigen Zulieferfirmen | |
startete. | |
Auch Zahns Reise führt ihn nach Pakistan, das Land ist für KiK heikler als | |
Bangladesch. Ohne ein Abkommen wie den Accord machen die Marken und ihre | |
Zulieferer, was sie wollen. Zuletzt klagten Hunderte Arbeiter:innen | |
einer Textilfabrik in Faisalabad darüber, [6][mehrere Monate nicht von den | |
britischen Auftraggebern bezahlt worden zu sein] und deshalb teils um Essen | |
betteln zu müssen. | |
Und für Patrick Zahn ist das Desaster, das sich in Pakistan vor zehn Jahren | |
zutrug, zudem noch mehr mit dem Namen seiner Firma verbunden als der | |
Einsturz von Rana Plaza. Beim Brand der Textilfabrik Ali Enterprises 2012 | |
starben 259 Beschäftigte. KiK zahlte Schadensersatz. Jahrelang verhandelte | |
das Landgericht Dortmund über die Klage von Opfern und Angehörigen auf | |
zusätzliches Schmerzensgeld. Es war ein Präzedenzfall, wenngleich KiK wegen | |
Verjährung ohne Urteil davonkam. | |
Bei den Besuchen der KiK-Zulieferer in Karatschi, einer Hafenstadt am | |
Indischen Ozean, schwingt die Erinnerung an Ali Enterprises mit: Bei den | |
Befragungen durch die KiK-Leute definieren manche Arbeiter:innen ihre | |
Wohnorte, indem sie die Entfernung zum Ort der Katastrophe angeben. | |
Von seinem Verdienst bei einem der dreißig KiK-Zulieferer könne er aber | |
ganz gut leben, sagt der Arbeiter im hellblauen Salwar Kameez, dem | |
knielangen Hemd, das hier viele Männer tragen. Ungefähr 20.000 Rupien (etwa | |
95 Euro) bringe ihm die Arbeit an der Nähmaschine monatlich ein, etwas mehr | |
als den Mindestlohn von 19.000. Und reicht das für einen erträglichen | |
Lebensstandard? Ja, lautet die Antwort, schließlich lebe er im | |
Familienverband, Vater und Bruder verdienten ebenfalls. So könne man auch | |
etwas Geld zurücklegen. | |
Ähnliches berichtet eine Arbeiterin im schwarzen Schleier. Auch sie komme | |
mit dem Mindestlohn einigermaßen zurecht, wobei sie als Alleinverdienerin | |
vier minderjährige Kinder und ihre Mutter mitfinanziere. | |
„Das kann nicht stimmen“, sagt dazu Nasir Mansoor, der den pakistanischen | |
Gewerkschaftsbund leitet. Er rechnet vor, dass allein die Miete und die | |
wegen der Inflation stark steigenden Lebensmittelpreise den Mindestlohn | |
auffräßen. Seine Erklärung: Wahrscheinlich berichteten die | |
Arbeiter:innen geschönte Versionen ihrer Lebensumstände, da sie damit | |
rechneten, dass der Inhalt der Gespräche den Arbeitgebern zugetragen werde. | |
Wenn KiK Wert auf wahrheitsgemäße Aussagen lege, müssten die Interviews | |
außerhalb der Fabriken und anonym stattfinden, rät Mansoor. Er sagt: „Seit | |
Ali Enterprises gab es in den Firmen nur kosmetische Verbesserungen.“ Für | |
KiK sind solche Informationen der Beschäftigten dagegen Bestätigung, dass | |
die Gewerkschaften die Bedeutung der angeblich zu schlechten Bezahlung | |
hochspielten. | |
Patrick Zahn konzentriert sich auf die Sicherheit. Ein weiterer | |
Fabrikbesuch in Karatschi, Probealarm im zweiten Stock: Das Licht geht aus, | |
die Maschinen verstummen. Und jetzt? Ein paar Arbeiter schlendern zum | |
Treppenhaus, viele bleiben, quatschen, scherzen. Einer der KiK-Mitarbeiter | |
verlangt lautstark, die Fabrik endlich zu räumen. Schließlich sind alle | |
draußen – viel zu langsam, falls es wirklich brennt. Im Gebäude fehlen | |
außerdem Brandschutztüren, und die Verdrahtung der Rauchmelder ist marode. | |
„Heute Abend fliege ich zurück“, wendet sich Zahn an den Besitzer, als sie | |
wieder im Büro sitzen, „Bei Ihrer Fabrik sehe ich noch diverse Baustellen“. | |
18 Jun 2022 | |
## LINKS | |
[1] /1-Jahr-nach-Fabrikeinsturz-in-Bangladesch/!5043819 | |
[2] /Textil-Discounter-Kik/!5083762 | |
[3] /Nachhaltige-Mode/!5814378 | |
[4] /KiK-Chef-Patrick-Zahn-ueber-faire-Loehne/!5416442 | |
[5] /Bundestag-beschliesst-Lieferkettengesetz/!5774706 | |
[6] https://www.theguardian.com/global-development/2022/jun/12/missguided-colla… | |
## AUTOREN | |
Hannes Koch | |
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