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# taz.de -- Journalismus in Grenzregionen: Grüne Grenze des Schweigens
> An den EU-Außengrenzen wird die Pressefreiheit stark eingeschränkt.
> Gerade dort aber ist unabhängige Berichterstattung enorm wichtig.
Bild: Kein Durchkommen: Militär an der polnisch-belarussischen Grenze versperr…
Am Freitag vergangener Woche wird der deutsche Tagesspiegel-Reporter
Sebastian Leber in Kroatien, nahe der bosnischen Grenze, festgenommen.
Leber recherchiert dort zu [1][Pushbacks auf der Balkanroute]. Die Polizei
hält Leber 24 Stunden fest, wirft ihm Menschenschmuggel vor.
Ein Vorwurf, der – wie ein kroatischer Staatsanwalt und eine Richterin
bestätigten – unsinnig ist. Leber hatte zwar die grüne Grenze, also einen
Ort ohne Grenzübergangsstelle, von Bosnien aus übertreten, was in Kroatien
eine Ordnungswidrigkeit ist. Ein Festhalten für einen ganzen Tag ist dafür
jedoch unverhältnismäßig. Leber ist mit einem Ordnungsgeld von 300 Euro
wieder frei und nach Deutschland zurückgekehrt, sagt aber, die Erfahrung
habe ihn psychisch belastet.
Die Tagesspiegel-Chefredaktion verurteilt den Versuch, „unabhängige
journalistische Berichterstattung zu kriminalisieren und somit die
Pressefreiheit einzuschränken“. Der Geschäftsführer von Reporter ohne
Grenzen, Christian Mihr kritisiert, kroatische Behörden hätten „so gut wie
kein Interesse daran, Journalistinnen und Journalisten in den Grenzregionen
unabhängig arbeiten zu lassen“.
Kroatien hatte an seiner Grenze zu Bosnien besonders früh und exzessiv
Pushbacks betrieben – die Öffentlichkeit erfuhr davon überhaupt nur, weil
NGOs und Medien das immer wieder gegen alle Widerstände dokumentierten. Wo
[2][die Fluchtrouten über den Balkan, das Mittelmeer und Osteuropa] die
Außengrenzen der EU kreuzen, wird unabhängige Berichterstattung dringend
gebraucht.
Kroatien hatte zwar im Sommer auf Druck der EU versprochen,
Menschenrechtsverstöße im Grenzgebiet durch ein [3][„Border Monitoring“] …
verhindern. Menschenrechtsorganisationen kritisierten dieses jedoch als
wirkungslos: zu intransparent, zu wenig unabhängig, weil direkt vom
Innenministerium, und ohnehin beschränkt auf offizielle Grenzübergänge –
für die grüne Grenze gilt es nicht. Die Einzigen, die also unabhängige
Informationen über die Lage dort liefern können, sind Reporter:innen
und journalistische Filmteams.
Offizielle Verbote oder Schikanen
Doch diese müssen immer wieder damit rechnen, an ihrer Arbeit gehindert zu
werden. Durch offizielle Verbote – oder Schikanen. Das zeigt sich derzeit
deutlich auch im ostpolnischen Grenzgebiet zu Belarus. Anfang Oktober wurde
dort die Arte-Filmemacherin Ulrike Däßler gemeinsam mit ihrem Kameramann
und einer Stringerin festgenommen. Das Team wurde voneinander getrennt eine
Nacht in Gewahrsam gehalten. „Hier aber wurden wir gar nicht nach unserer
Arbeit gefragt. Es war von Anfang an klar, dass wir etwas verbrochen
hatten“, sagte Däßler später der Deutschen Welle. Die Beamten hätten kaum
Englisch gesprochen, Familie und Vorgesetzte habe sie nicht verständigen
dürfen. „Wir wurden quasi halb ausgezogen und kamen in Einzelhaft in eine
kleine Zelle. Und niemand konnte mir sagen, was als Nächstes passiert.“
Im gegenwärtigen [4][Konflikt zwischen Belarus und der EU über
Migrationsbewegungen in Osteuropa] hat die polnische Regierung eine
sogenannte „Emergency Zone“ definiert. Diese „Notfallzone“, einen drei
Kilometer breiten Landstrich entlang der Grenze zu Belarus, dürfen
Journalist:innen nicht betreten. Däßler war zum Verhängnis geworden,
dass die „Emergency Zone“ nicht ausgeschildert war. An den großen Straßen
sind Polizeisperren, auf Feldwegen ist man hingegen auf Google Maps
angewiesen – doch Handys haben oft keinen Empfang. Die Richterin habe es
letztlich bei einer Ermahnung belassen, nachdem sie die Aufnahmen gesichtet
habe. Däßler will nun wegen „unmenschlicher Behandlung“ klagen.
Über Monate wird die Presse in Ostpolen von einer der größten humanitären
Krisen des Kontinents ferngehalten, weil die polnische Regierungspartei PiS
die Kontrolle über die Berichterstattung behalten will. Ein in dieser
Breite und Dauer beispielloser Angriff auf die Pressefreiheit, der von der
EU-Kommission hingenommen wird. In Kommissionspräsidentin Ursula von der
Leyens Statement zur Krise vom 8. November findet sich zur Pressefreiheit:
nichts.
Ein Bild der Willkür
Der Journalist Krzysztof Boczek hat für das polnische Magazin Oko die
bislang umfassendste Sammlung von Aussagen von Reporter:innen
zusammengetragen. Sie zeichnen ein Bild der Willkür. Mit zunehmender Dauer
der Krise gibt es auch immer mehr Übergriffe auf Journalist:innen, die gar
nicht in der „Emergency Zone“ waren.
Vor zehn Tagen etwa wurden die drei Fotojournalisten Maciej Nabrdalik (New
York Times), Maciej Moskwa (Testigo, Fotograf des Bilds auf dieser Seite)
und Martin Diviska (European Pressphoto Agency) von Soldaten aus dem Auto
gezerrt und mit Handschellen gefesselt. Sie mussten die Händen erhoben
halten, ihr Gepäck wurde durchsucht, obwohl sie angaben, Reporter zu sein,
ihre Aufnahmen wurden gesichtet. Der Vorfall ereignete sich an einem
Checkpoint an der Grenze zur Roten Zone. Der Aufenthalt dort ist legal.
Vor zwei Wochen wurde laut Oko ein französisches Fernsehteam auf einer
öffentlichen Straße vor der Grenzwache in Michałówo angehalten. Ein
uniformierter Mann ohne Identifikation an der Uniform habe sich genähert,
das Kennzeichen aufgeschrieben und sie aufgefordert zu verschwinden, so
berichten es die Franzosen gegenüber dem Magazin. Auf den Hinweis, dass es
sich um eine öffentliche Straße handele, habe der Mann geantwortet:
„Deshalb ist es kein Befehl, sondern eine Aufforderung, hier wegzufahren.
Und wenn nicht, übergebe ich ihre Daten an den „Służba Kontrwywiadu
Wojskowego (SKW)“, (Militärischen Abschirmdienst Polens, Anm. d.
Redaktion).“ Der habe „seine Methoden, um euch die Arbeit zu erschweren“.
Anderen Reporter:innen wurde angedroht, ihre Autos auf eigene Kosten
abschleppen zu lassen; es wurde behauptet, dass sie per Haftbefehl gesucht
würden; so genannte IMEI-Nummern von Handys wurden notiert, mit denen sich
die Geräte orten lassen; oder es wurde behauptet, TV-Teams seien in die
Rote Zone eingedrungen, obwohl sie sich außerhalb befanden. Die Behörden
„schüchtern Journalisten ein und erpressen sie – auch außerhalb der Roten
Zone“, ist Boczeks Fazit.
Situation in Griechenland
Schikane, Willkür und Versuche, Pressearbeit zu kriminalisieren, kennen
Journalist:innen, die von den griechischen Ägäisinseln berichten, schon
lange. Im Oktober 2020 zum Beispiel wurde [5][auf Samos ein deutsches
Filmteam] sieben Stunden ohne konkrete Vorwürfe festgehalten, obwohl man
sich als Presse ausgewiesen hatte. Ein Fall von vielen, die Presse- und
Menschenrechtsorganisationen dort seit Jahren dokumentieren. Ohnehin wird
Berichterstattung aus bestimmten Bereichen wie den „Hotspots“ genannten
Aufnahmelagern offiziell verhindert. Presse wird dort nur zu bestimmten
Anlässen Zugang gewährt.
Die Reporterin Franziska Grillmeier, die auch schon für die taz aus
Griechenland berichtet hat, sagt: „Eine würdevolle und unabhängige
Berichterstattung ist im griechischen Grenzgebiet nicht möglich.“ Die
Sicherheit und Bewegungsfreiheit von Journalist:innen sei zuletzt noch
einmal dramatisch eingeschränkt worden. „Wie in anderen EU-Grenzregionen
soll es nicht zur Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen kommen“,
sagt Grillmeier. Die Grenzgebiete seien fester Bestandteil des sogenannten
„Migrationsmanagements. Deshalb ist auch die Einschränkung der
Pressefreiheit zur neuen Normalität in Europa geworden.“
Der EU-Abgeordnete Erik Marquardt (Grüne), der regelmäßig Grenzgebiete
besucht, sagt: „An den EU-Außengrenzen in Polen, Kroatien und Griechenland
findet eine massive Einschränkung der Pressefreiheit statt, die nicht mit
den europäischen Werten vereinbar ist.“ Die EU-Kommission sei
verantwortlich, die Mitgliedsstaaten zum Einhalten der europäischen
Grundsätze zu verpflichten. „Hier passiert leider zu wenig. Viele
Mitgliedsstaaten und politische Parteien in Europa dulden den täglichen
Rechtsbruch an unseren Außengrenzen, weil ihnen Abschottung wichtiger ist
als Rechtsstaatlichkeit.“
In Griechenland arbeiten örtliche und internationale Journalist:innen
nun an einem Flyer mit den wichtigsten juristischen Infos für
Kolleg:innen, die aus der Grenzregion berichten wollen.
Sicherheitstipps, Adressen für rechtlichen Beistand. Vernetzung soll der
Willkür etwas entgegensetzen. Das ist auch in den Grenzregionen Osteuropa
und Balkan längst notwendig.
26 Nov 2021
## LINKS
[1] /Pushbacks-an-der-kroatischen-Grenze/!5804286
[2] /Interaktive-Grafik/!5304188
[3] https://balkaninsight.com/2021/10/12/croatias-new-border-monitoring-mechani…
[4] /Sterben-zwischen-Belarus-und-Polen/!5814280
[5] https://www.ecpmf.eu/concern-over-german-documentary-crew-detained-in-greec…
## AUTOREN
Christian Jakob
Peter Weissenburger
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