# taz.de -- Pressefreiheit in der Ukraine: Eine Stimme weniger | |
> Nach 26 Jahren wird die „Kyiv Post“ überraschend geschlossen. Sie ist die | |
> wichtigste englischsprachige Zeitung der Ukraine. | |
Bild: Brian Bonner (r.) gemeinsam mit anderen Journalisten im Büro der Kyiv Po… | |
Der vergangene Montag war ein grauer Tag in der ukrainischen Hauptstadt | |
Kiew und ein schwarzer für die Pressefreiheit des Landes. Nach 26 Jahren | |
muss die [1][Kyiv Post], die wichtigste englischsprachige Wochenzeitung der | |
Ukraine, schließen. Rund 50 Angestellte wurden mit sofortiger Wirkung von | |
Verleger Adnan Kiwan, einem Geschäftsmann aus Odessa, entlassen. | |
Das Blatt hat seit seiner Gründung 1995 fünf ukrainische Präsidenten | |
überlebt. Nicht aber den charismatischen Wolodimir Selenski, der 2019 ein | |
beliebter Schauspieler war und heute das Land regiert. „Ironisch, oder?“, | |
fragt Brian Bonner, mittlerweile ehemaliger Chefredakteur und lacht | |
verbittert. Die Selenski-Regierung habe zwar dünnheutig auf Kritik | |
reagiert, sei aber kein Vergleich zu früheren, autoritären Präsidenten wie | |
Leonid Kutschma oder [2][Wiktor Janukowitsch]. „Ich hätte nie erwartet, | |
dass das Aus unter Selenski kommt. Dafür gab es politisch keine Gründe.“ | |
Es ist Dienstag, ein Tag nach der Implosion der Kyiv Post. Bonner, der | |
frühere Chefredakteur, sitzt schlecht rasiert in seinem Büro. Drei gelbe | |
Luftballons hängen in der Ecke, erst vor wenigen Tagen hat er 62. | |
Geburtstag gefeiert. Die Kyiv Post war sein Leben, ihr Ende ist auch sein | |
Ende. | |
Die Entlassung der gesamten Redaktion fällt in eine Zeit, in der | |
Journalisten über zunehmenden Druck klagen. Und sie zeigt, dass sich in den | |
vergangenen Jahren weniger zum Positiven verändert hat, als es manch einer | |
erhofft hatte. Seine schlechte Nachricht an die Redaktion schloss Bonner am | |
Montag mit den Worten: „Zwei Revolutionen und die Scheiße wiederholt sich | |
trotzdem immer wieder.“ | |
Die letzte dieser Revolutionen ist acht Jahre her. Hunderttausende hatten | |
sich damals auf dem Unabhängigkeitsplatz in der ukrainischen Hauptstadt | |
versammelt und für mehr Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und damit auch | |
eine freie Presse demonstriert. Seitdem verfolgt die ukrainische Regierung | |
öffentlich einen proeuropäischen Kurs, wird nicht müde, gemeinsame Werte | |
zu betonen und die EU-Mitgliedschaft zu fordern. Gleichzeitig aber lässt | |
der amtierende Präsident prorussische Fernsehkanäle schließen und laut | |
Kritikern diene das jüngst unterschriebene „Oligarchen“-Gesetz dazu, die | |
von Oligarchen kontrollierte Medien zu attackieren. | |
## Der Besitzer versuchte von Anfang an, Einfluss zu nehmen | |
Seit Jahren missbraucht eine kleine, aber korrupte Elite Massenmedien, um | |
sich wirtschaftlich und politisch Vorteile zu erschaffen. Gleichzeitig | |
gewährt die Konkurrenz der Oligarchen aber ein gewisses Meinungsspektrum, | |
das einige nun gefährdet sehen. Die Kyiv Post stellte in diesem | |
Zusammenhang immer eine Ausnahme dar, galt als außergewöhnlich unabhängig | |
und professionell. | |
Dabei ist es weniger die gesellschaftliche Bedeutung des Blattes, die in | |
ukrainischen Medienkreisen nun einen Schock über die Schließung auslöst, | |
sondern vielmehr seine Historie. Die Kyiv Post hat eine vergleichsmäßig | |
kleine Printauflage von laut eigenen Angaben 10.000 gedruckten Ausgaben, | |
sie wird hauptsächlich von Ausländern, in internationalen Organisationen | |
und Diplomatenkreisen gelesen. Aber sie besteht seit 26 Jahren. Und während | |
es in der Ukraine öfter vorkommt, dass Zeitungen geöffnet, gekauft und | |
urplötzlich wieder geschlossen werden, so passiert dies in der Regel nicht | |
mit einer Institution wie der Post. | |
„Es zeigt erneut, wie zerbrechlich Meinungs- und Pressefreiheit in der | |
Ukraine sind“, sagt Anna Myroniuk, die seit zwei Jahren bei dem Blatt | |
arbeitet. Platz 97 belegt die Ukraine auf [3][der Rangliste der | |
Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen]. Seit der Unabhängigkeit vor 30 | |
Jahren wurden laut dem [4][Komitee zum Schutz von Journalisten] (CPJ) acht | |
Journalisten in der Ukraine ermordet, fünf weitere starben im bis heute | |
andauernden Krieg in der Ostukraine. | |
„Kein Ereignis in der komplizierten Geschichte der Ukraine hat die Zeitung | |
gestoppt, außer Adnan Kiwan“, sagt Anna Myroniuk. Der Bauunternehmer mit | |
syrischen Wurzeln gehört laut Forbes Liste zu den 50 reichsten Ukrainern. | |
Vor drei Jahren kaufte Kiwan das Blatt für über 3 Millionen Dollar. In | |
einem offiziellen Statement am Montag hieß es, die Zeitung werde lediglich | |
temporär geschlossen und solle „größer und besser“ wiedereröffnet werde… | |
Myroniuk und ihre Kollegen bezweifeln das. Im Gegensatz zu früheren | |
Besitzern habe der Verleger von Beginn an versucht, Einfluss auf die Arbeit | |
der Redaktion zu nehmen. | |
## Die Journalisten wollen die Zeitung retten | |
„Schon 2018 hat er mich aufgefordert, meine Kritik an der Regierung zu | |
reduzieren, weil er unter Druck gerate und keine Probleme mit der Regierung | |
haben wolle“, berichtet Reporter Oleg Suchow, der seit 2014 bei der Kyiv | |
Post arbeitet. | |
Ukrainische Kollegen vermuten, auch die Selenski-Regierung habe bei der | |
Entscheidung eine Rolle gespielt. Chefredakteur Bonner bestreitet das. Für | |
die Schließung gebe es vielmehr persönliche Gründe, wie gesundheitliche und | |
familiäre Probleme des Verlegers. | |
Das gefeuerte Team ist sich sicher: Der Verleger wollte unbequeme | |
Journalisten loswerden und die Redaktion neu besetzen mit einem ihm | |
gegenüber loyalen Team. Seit Wochen gibt es Streit zwischen Verlag und | |
Redaktion. Grund waren Expansionswünsche Kiwans, die er vor wenigen Wochen | |
ankündigte. Die Artikel sollten für ein breiteres Publikum geschrieben | |
werden und auch auf Ukrainisch erscheinen. Ein Fernsehkanal solle | |
entstehen. Kiwan besitzt bereits einen Fernsehkanal in Odessa, der laut | |
Suchow lediglich den Interessen des Unternehmers diene. | |
Zwei Monate noch werden die Journalisten bezahlt. Die Zeit will das Team | |
nutzen, um die Kyiv Post zu retten. Bereits wenige Stunden nach der | |
Entlassung machte es dem Verleger ein Angebot: entweder die Zeitung zu | |
verkaufen oder die Marke dem Team zu übergeben, das dann als NGO die Arbeit | |
fortführt. „Ohne dieses Team ist die Zeitung nicht dasselbe“, sagt Anna | |
Myroniuk. Der Verleger habe abgelehnt. „Das zeigt mir, dass er die volle | |
Kontrolle will. Das lassen wir nicht zu.“ | |
Transparenzhinweis: Die Autorin ist derzeit Gastredakteurin bei der „Kyiv | |
Post“ im Rahmen eines IJP-Stipendiums | |
10 Nov 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.kyivpost.com/ | |
[2] /Kommentar-Proteste-in-der-Ukraine/!5050987 | |
[3] /Neue-Rangliste-zur-Pressefreiheit/!5767146 | |
[4] https://cpj.org/ | |
## AUTOREN | |
Rebecca Barth | |
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