# taz.de -- Sterben zwischen Belarus und Polen: Ignoranz und Resignation | |
> Die Lage an der polnisch-belarussischen Grenze resultiert aus der Idee, | |
> „uns“ an die Brutalität gegen „die“ zu gewöhnen. Es braucht andere | |
> Strategien. | |
Bild: Martialisch: Stacheldraht und Wasserwerfer am Grenzübergang zwischen Bel… | |
Auf Twitter und anderswo im Internet verschicken Menschen seit ein paar | |
Tagen [1][Bilder von anderen Menschen an Flughafenterminals] in der | |
[2][belarussischen Hauptstadt Minsk]. Sie fliegen angeblich zurück in den | |
Irak. Diese Bilder signalisieren: Es könnte vielleicht bald wieder vorbei | |
sein, was da an der polnisch-belarussischen Grenze seit dem Spätsommer | |
passiert und für das die polnische Regierung, europäische | |
Politiker:innen und deutsche Journalist:innen Begriffe wie | |
„Angriff“ oder „[3][Krieg]“ verwendet haben. | |
Zwischen 4.000 und mehreren Zehntausend Menschen wollten in die Europäische | |
Union. Gefördert und zumindest auf den letzten Kilometern Richtung Grenze | |
oft getrieben von dem belarussischen Diktator Alexander Lukaschenko und | |
seinem Polizeiapparat. Und die Repräsentant:innen und ein großer Teil | |
der Öffentlichkeit dieser Union, eine der reichsten Regionen dieser Welt, | |
in der 470 Millionen Menschen leben, hat sich derart in einen Zustand der – | |
tja, was war und ist das eigentlich? – Panik, Schockstarre, aktiven | |
Resignation, mehr oder minder heimlichen Freude versetzen lassen, dass | |
mindestens dreizehn Menschen im polnisch-belarussischen Grenzgebiet | |
gestorben sind. Menschen, die in diesem Geschehen von Politiker:innen | |
und Journalist:innen mal direkter, mal indirekt als „Waffen“ bezeichnet | |
worden sind. | |
Eine Liste dieser Toten, die meine Kolleg:innen Kateryna Kovalenko und | |
Christian Jakob aus in Medien vermeldeten Fällen und anderen Informationen | |
[4][zusammengestellt haben], liest sich so: „19. 9. Zwei Männer aus dem | |
Irak, sollen erfroren sein […], 19. 10. Ahmed al-Hasan, 19 Jahre, ertrunken | |
im Fluss Bug, […] 18. 11., einjähriges Kind, Syrien, Todesursache unklar.“ | |
So martialisch die Worte für den Konflikt an der östlichen Außengrenze der | |
Europäischen Union auch waren und sind, so wenig unabhängig geprüftes | |
Wissen gibt es zugleich darüber. In vielen journalistischen | |
deutschsprachigen Beiträgen findet sich dieser eine Satz oder eine | |
Variation davon: „Polen lässt keine Medien für eine Berichterstattung aus | |
der Grenzregion zu.“ Selbst in Kabul, im Zentrum der Taliban-Herrschaft, | |
arbeiten in dieser Zeit Reporter:innen. | |
## Deutsche Kompliz:innen | |
Deutsche Politiker:innen, die berechtigte polnische Sicherheitsbedenken oft | |
ignorieren, wenn es um aggressive Politik Russlands geht, oder um die | |
Pipeline Nord Stream 2, haben sich ausgerechnet beim Umgang mit frierenden | |
und hungernden Menschen zu einem Komplizen der gewalttätigen Politik der | |
polnischen Regierung gemacht. | |
Sachsens Ministerpräsident [5][Michael Kretschmer beschwor] in der Bild am | |
Sonntag deutsche Herzenshärte: „Wir müssen diese Bilder aushalten und Polen | |
bei der Sicherung seiner EU-Außengrenze helfen.“ 2016 hatte das der | |
österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz schon so ähnlich formuliert: | |
[6][„Es wird nicht ohne hässliche Bilder gehen.“] Das ist der fortgesetzte, | |
rassistisch grundierte Versuch, „uns“ an die Brutalität der Grenze zu | |
gewöhnen. An die Gewalt gegen „die“. | |
Das Weichei Westeuropa, das abgehärtet werden muss, damit es nicht | |
untergeht – das sind Bilder und Begrifflichkeiten, die Anhänger:innen | |
des Autoritären beschwören, beispielsweise Rechtsextreme und die | |
Verkünder:innen des Putinismus in Russland. Wenn man diese | |
Vorstellungswelt übernimmt, erscheint die kühle Abwesenheit von | |
Mitmenschlichkeit tatsächlich als Option des gesunden Menschenverstandes. | |
Man hätte mit einer ebenso demonstrativen Kühle die Menschen an der | |
polnisch-belarussischen Grenze auch nach Deutschland holen können. Dafür | |
gibt es Gründe, die auch Konservativen bedeutsam erscheinen könnten: Je | |
länger sich Bewaffnete in Polen und Belarus an der Grenze gegenüberstehen, | |
desto realer wird nämlich der heraufbeschworene Krieg, ein Warnschuss kann | |
schnell mal jemanden auf der anderen Seite treffen. | |
## Wer sich der Lösung verweigert | |
Selbst nach den Maßstäben des noch amtierenden deutschen Innenministers | |
Horst Seehofer wären bis zu 200.000 Migrant:innen pro Jahr in | |
Deutschland okay, es sind derzeit etwa 100.000, da wäre also noch Platz. | |
Würden dann noch mehr Menschen kommen? Vielleicht. Aber es gäbe auch mehr | |
Zeit, eine politische Lösung zu finden, die den angeblich so zentralen | |
Werten der Europäischen Union eher entspricht. | |
Polen will eine solche Lösung nicht, die [7][stärkste Regierungspartei | |
Recht und Gerechtigkeit (PiS)] ist sehr verliebt in ihre nationalistische | |
Inszenierung eines dräuenden Einfalls von Osten. Die PiS steht wegen | |
Vetternwirtschaft unter Druck, ihre Stärke auf dem Land ist nicht mehr so | |
unangefochten. Aber deutscher und europäischer Wille plus Geld haben schon | |
Autokraten ganz anderen Kalibers überzeugt. Das im Vergleich zu Polen | |
[8][sehr viel kleinere Litauen] hat es, nach allem was bekannt ist, | |
übrigens geschafft, mit den von Lukaschenkos Leuten an die Grenze | |
gepressten Menschen halbwegs im Rahmen gültiger Verfahren umzugehen. | |
Die deutsche Koalition der alternativlosen Härte ist eine große, sie hat | |
auch Platz für Sozialdemokraten: Der noch amtierende Außenminister Heiko | |
Maas sagte im Fernsehen, Deutschland werde diese Menschen nicht aufnehmen. | |
Der wahrscheinlich künftige Kanzler Olaf Scholz kritisierte die polnische | |
Regierung nicht und sagte zu deren Plänen einer befestigten Grenze, es | |
stehe „uns nicht an, zu sagen, sie soll es nicht machen“. | |
## Helfende brauchen Geld und Unterstützung | |
Der Grünen-Spitze fiel dazu ein, man könne Migrant:innen ja besser über | |
die Lage informieren, dann kämen vielleicht nicht noch mehr. Als ob | |
Menschen auf der Flucht weder Wissen noch Netzwerk hätten. Es gibt in | |
Deutschland derzeit keine politische Kraft in den Parlamenten, die sich | |
einer Politik der als Vernunft zelebrierten rassistischen Abwertung | |
geschlossen entgegenstellt. Das ist das eine. | |
Das andere ist die Frage, für wen die Charta der Grundrechte der | |
Europäischen Union eigentlich noch gilt. Diese erlaubt es Geflüchteten, am | |
Ort der Ankunft einen Asylantrag zu stellen. Aber auch da belohnt die EU | |
ausgerechnet diejenigen, die auf ihre angeblich ureigenen Werte wie | |
Rechtsstaatlichkeit pfeifen. Sie akzeptiert faktisch die Pushbacks, also | |
dass polnische Uniformierte Menschen, die sie auf dem Boden der | |
europäischen Union abfangen, wieder zurück nach Belarus schicken. | |
Damit verraten Politiker:innen in Deutschland und EU nicht nur das, | |
was sie oft zu vertreten vorgeben, sondern auch die Organisationen in | |
Polen, die den Menschen an der Grenze helfen und die [9][dafür dort auch | |
bedroht] werden. Sie [10][heißen PCPM] oder [11][Grupa Granica]. Verzagen | |
wäre spätestens an dieser Stelle des Textes verständlich, es nutzt aber | |
niemandem. Diese Helfer:innen brauchen Geld und anderweitige | |
Unterstützung. | |
## Solidarität und Grenzen | |
Eine weitere Möglichkeit, politisch aktiv zu handeln, wäre mehr | |
zivilgesellschaftlicher Druck. Für solidarische Städte, die Geflüchtete | |
aufnehmen wollen, zum Beispiel. Die Grünen könnten daran erinnert werden, | |
sich in den Koalitionsverhandlungen um ein Aufenthaltsgesetz zu bemühen, | |
das den Bundesländern mehr Spielraum beim Aufnehmen von Menschen gibt. Das | |
sind eher längerfristige Strategien, aber die sind auch notwendig. Die | |
brutalisierte Grenzpolitik wird nämlich auch im Osten der EU nicht mit | |
Twitterbildern vom Minsker Flughafen aufhören. | |
Manche wollen die Grenzen gegen Bezahlung auslagern: [12][Gerald Knaus, | |
einer der Ideengeber] für den sogenannten Flüchtlingsdeal [13][mit der | |
Türkei], hat schon Lager für Geflüchtete auf dem Gebiet der Ukraine | |
vorgeschlagen. Der [14][SPD-Außenpolitiker Nils Schmid] tat das ebenso. Die | |
Ukraine ist ein Land im Krieg, mit je nach Quelle 730.000 bis 1,5 Millionen | |
Binnenflüchtlingen. Es ist eine Demokratie, die durch russische Aggression | |
bedroht wird und mit reichen Oligarchen zu kämpfen hat. | |
Das Talent der EU, in Libyen, anderen Staaten Afrikas und der Türkei genau | |
den falschen Leuten Geld für den Umgang mit Geflüchteten zu geben und dabei | |
Rechtlosigkeit und Elend zu exportieren, ist beeindruckend. Es muss | |
verhindert werden, dass die EU dieses Talent auch noch in osteuropäischen | |
Gesellschaften zeigen darf, die mit weniger Mitteln weit mehr Probleme zu | |
lösen haben als sie. | |
19 Nov 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://twitter.com/BarzanSadiq/status/1461267623459569665?s=20 | |
[2] https://twitter.com/hebelowski/status/1461248493033598981 | |
[3] /Autorinnen-fordern-Handeln-wegen-Belarus/!5814488 | |
[4] /Flucht-ueber-Belarus-in-Richtung-EU/!5810970 | |
[5] https://www.bild.de/politik/inland/politik-inland/michael-kretschmer-die-4-… | |
[6] https://www.welt.de/politik/ausland/article150933461/Es-wird-nicht-ohne-hae… | |
[7] https://www.kas.de/de/laenderberichte/detail/-/content/die-halbzeitshow-der… | |
[8] https://zeitschrift-osteuropa.de/blog/waffen-die-keine-sind/ | |
[9] https://twitter.com/kapturak/status/1459821359589117952?s=20 | |
[10] https://pcpm.org.pl/en/about-us/organizational-structure | |
[11] https://www.medico.de/granica | |
[12] https://www.derstandard.de/story/2000131116207/die-teuflische-falle-aus-mi… | |
[13] https://rp-online.de/politik/eu/der-merkel-berater-und-migrationsforscher-… | |
[14] https://www.spiegel.de/ausland/ukraine-lehnt-unterbringung-von-migranten-a… | |
## AUTOREN | |
Daniel Schulz | |
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