# taz.de -- Geflüchtete in Corona-Krise: Integration unmöglich | |
> Beratungsangebote und Sprachkurse fallen aus, Arbeitsverträge werden | |
> gekündigt: Die Krise macht es Geflüchteten schwer, Fuß zu fassen. | |
Bild: Andere Zeiten: Staatsministerin Widmann-Mauz auf Sachsenreise | |
BAMBERG taz | Der Falafel-Imbiss in der bayerischen Provinzstadt hätte | |
eigentlich schon seit einer Viertelstunde geschlossen. Hamza Kabbani wirft | |
die Fritteuse nochmal an, obwohl bereits alles gereinigt war. Nach neun | |
Stunden und diesem letzten Kunden hat der 20-jährige Syrer Feierabend: Es | |
bleibt kaum Zeit und nur noch wenig Kraft, um zumindest online noch etwas | |
Deutsch zu lernen. Der Sprachkurs ist seit zwei Monaten ausgesetzt und die | |
Hoffnung auf eine Ausbildungsstelle damit in völlige Ungewissheit | |
abgerutscht. | |
Es wurde zuletzt viel über die psychischen Gefahren und gesundheitlichen | |
Risiken berichtet, denen [1][Geflüchtete in Sammelunterkünften] sehenden | |
Auges ausgesetzt wurden. Bislang kaum beleuchtet ist dagegen die Misere, in | |
die seit Ausbruch der Pandemie diejenigen Geflüchteten gerieten, die sich | |
hierzulande bereits mühsam aus der existenziellen Unsicherheit gearbeitet | |
hatten und auf dem besten Weg waren, sich ein unabhängiges, | |
selbstbestimmtes Leben aufzubauen. | |
In einem Punkt sind sich Landesflüchtlingsräte, UNO-Flüchtlingshilfe, | |
Beratungsstellen und sogar die Staatsministerin für Migration, Flüchtlinge | |
und Integration Annette Widmann-Mauz (CDU) derzeit einig: Wer nicht schon | |
seit Jahren gefestigt in Deutschland lebt, für den ist Integration unter | |
den aktuellen Umständen noch schwieriger. Angefangen bei Integrations- und | |
Berufssprachkursen über juristische Beratungen, das Fehlen von | |
Rechtsmitteln bis hin zu ersten Arbeitsverträgen bricht den Menschen | |
derzeit vieles weg, was sie benötigen, um festen Boden unter den Füßen zu | |
bekommen, zumal ihr Bleibestatus teilweise nicht anerkannt ist. | |
Hamza Kabbani, der eigentlich anders heißt, hat noch keine Arbeitserlaubnis | |
und geht darum wie so viele andere in seiner Situation einer informellen | |
Beschäftigung nach. Er will in diese Gesellschaft hineinwachsen können, die | |
so viel von ihm fordert, ihn aber so wenig fördert. Zwei Wochen lang hat | |
der junge Mann aus Daraa, jener Stadt, in der der Bürgerkrieg in Syrien | |
seinen Anfang nahm, per Mail noch Aufgaben von seiner Deutschlehrerin | |
erhalten. Sechs Wochen ist das mittlerweile her. Seitdem herrscht Stille. | |
„Auf null geschaltet“ | |
Wie ihm gehe es laut Zahlen der Integrationsbeauftragten der | |
Bundesregierung Widmann-Mauz derzeit 25.000 jungen Schutzsuchenden in | |
ausbildungsvorbereitenden und ausbildungsbegleitenden Förderangeboten. | |
Hinzu kämen 55.000 Menschen mit Fluchterfahrung, deren Ausbildung gerade | |
stagniert. | |
Stephan Dünnwald, Soziologe, Migrationsforscher und Mitarbeiter des | |
Bayerischen Flüchtlingsrates, findet gegenüber der taz klare Worte dafür: | |
„Alles, was Integration bedeutet, ist derzeit auf null geschaltet. In | |
vielen Unterbringungen gibt es nicht einmal WLAN.“ Keine Chance also für | |
Homeschooling, digitale Hilfsangebote und den Aufbau sozialer Kontakte. | |
Wenn sich etwa die gesamte digitale Ausstattung einer Familie auf ein | |
altersschwaches Smartphone reduziert, bedeutet Online-Unterricht teils | |
sogar, dass das Recht auf Bildung nicht bis in die Unterkünfte | |
hineinreicht. | |
Ein Problem, das sich langfristig auf die Chancengleichheit von | |
Schülerinnen und Schülern auswirken wird. Peter Ruhenstroth-Bauer, | |
Geschäftsführer der UNO-Flüchtlingshilfe, betont darüber hinaus, dass | |
Integration immer vom direkten Kontakt lebe. Eine digitale Form könne das | |
flankieren, unterstützen, aber nicht ersetzen. | |
Viele Menschen zwingt die Krise so in die Isolation. Geflüchtete, die trotz | |
monatelanger Ungewissheiten und demoralisierender Zustände in den | |
Unterkünften erstmals Hoffnung auf Sicherheit und Unabhängigkeit schöpften, | |
erleiden derzeit schwere Rückschläge. | |
Unzulässige Kündigungen | |
Günther Burkardt, Geschäftsführer und Mitbegründer von Pro Asyl, umreißt | |
die Konsequenzen ausbleibender Kurse: „Bleiberecht gründet sich oft auf | |
Beschäftigung. Gerade im Bereich ausbildungsvorbereitender Maßnahmen sowie | |
beim Zugang zur Berufsschule besteht darum die Gefahr, dass eine berufliche | |
sowie eine aufenthaltsrechtliche Perspektive verbaut wird.“ | |
Wer beruflich bereits Fuß fassen konnte, ist nicht weniger betroffen. So | |
erklärt Widmann-Mauz gegenüber der taz, dass Erfolge am Arbeitsmarkt unter | |
erheblichen Druck geraten: „Zuletzt waren 359.000 Menschen aus den | |
Asyl-Hauptherkunftsländern sozialversicherungspflichtig beschäftigt. | |
Geflüchtete sind überdurchschnittlich oft in [2][Dienstleistungsbranchen | |
wie dem Gastgewerbe] oder der Zeitarbeit tätig, die derzeit erheblich unter | |
den wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie leiden.“ | |
Nachdem schon vor Wochen zu befürchten war, dass Arbeitgeber darauf mit | |
Kündigungen reagieren könnten, berichtet Jerzy Bohdanowicz, Projektleiter | |
von „Support Faire Integration“, einer bundesweiten Hilfe in arbeits- und | |
sozialrechtlichen Fragestellungen, der taz von vermehrt unfairen Praktiken: | |
„Es wird unzulässig gekündigt, teils sogar nur mündlich. Einige Arbeitgeber | |
gestalten die Arbeitsverhältnisse willkürlich um oder missachten den | |
Arbeits- und Gesundheitsschutz.“ | |
Stephan Dünnwald vom Bayerischen Flüchtlingsrat erläutert außerdem, dass | |
Arbeitsplatzverluste teils als Folge des defizitären behördlichen Umgangs | |
mit Infektionen in Unterkünften auftraten. Wo Menschen in Kettenquarantäne | |
standen, also aufgrund ständiger Neuinfektionen teils sechs Wochen an die | |
Masseneinrichtung gefesselt waren, verloren Geflüchtete ihre Arbeit: „Ein | |
großer Teil der Jobs, denen Geflüchtete nachgehen, sind unqualifizierte | |
Arbeiten. Ganz vielen ist hier gekündigt worden und sie sitzen völlig auf | |
dem trockenen.“ | |
Leitlinien des Integrationsplans ausgehebelt | |
Ohne Beschäftigung und mit finanziellen Nöten sind viele Menschen wieder | |
gezwungen, in defizitären Unterkünften auszuharren. Besonders im ländlichen | |
Raum hemmt das die Integration und führt zu Frustration: Es fehlen | |
Arbeitgeber, es gibt kaum Begegnungsstätten, Hilfseinrichtungen oder | |
Möglichkeiten, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. | |
Integration verlangt jedoch nach Möglichkeiten zur gesellschaftlichen | |
Teilhabe, da sie sonst nichts als eine Anpassungsforderung ohne | |
Entfaltungsräume darstellt. Peter Ruhenstroth-Bauer von der | |
UNO-Flüchtlingshilfe erläutert: „Normalerweise sind es gerade die | |
Volkshochschulen, Musikschulen, Schwimmbäder, Sportvereine oder auch | |
Hebammenpraxen, die Kurse für schwangere Flüchtlingsfrauen anbieten, die | |
der Schlüssel zu einer erfolgreichen Integration sind.“ | |
Wer im Nationalen Integrationsplan blättert und die vereinbarten Maßnahmen | |
zur Verbesserung der Integration studiert, kann kaum umhin, die aktuelle | |
Situation als Aushebelung nahezu aller dort festgeschriebenen Leitlinien zu | |
werten. Auch Helen Deffner vom Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt kommt zu der | |
Einschätzung, dass unter den derzeitigen Umständen „Integration quasi | |
verunmöglicht“ ist. | |
Zu allem Übel erschweren zunehmende Stigmatisierung und Ausgrenzung im Zuge | |
der Pandemie zusätzlich das Ankommen geflüchteter Schutzsuchender. „Einer | |
schwarzen Person kann aktuell zum Beispiel unterstellt werden, dass sie ja | |
bestimmt auch in der Unterkunft lebt und jetzt das Virus in die ganze Stadt | |
trägt“, so Helen Deffner. Das sei in den letzten Wochen vermehrt | |
vorgekommen. | |
Hamza Kabbani ist in der Lage, sich zu behelfen. Dank seiner Arbeit im | |
Imbiss hat er täglich Kontakt zu Menschen. Zwischen Bestellungsaufnahme und | |
Kassieren wird gescherzt, gelacht, geplauscht. Die Studenten kennen ihn, | |
sagen, Hamza gehöre längst zur Stadt. Er lernt in dem Imbisswagen mehr, als | |
jeder Integrationskurs ihm vermitteln könnte. Eigentlich dürfte er das | |
alles aber gerade gar nicht tun, und für die bürokratischen Hürden hin zum | |
Arbeitsmarkt werden ihm diese Integrationserfolge nicht behilflich sein. | |
18 May 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Schutz-vor-Corona-fuer-Gefluechtete/!5673786 | |
[2] /Gastronomie-in-der-Coronakrise/!5681457 | |
## AUTOREN | |
Selmar schülein | |
## TAGS | |
Geflüchtete | |
Integration | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Flüchtlinge | |
Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF) | |
Schwerpunkt Flucht | |
Schwerpunkt Flucht | |
Volkshochschule | |
Migration | |
Asyl | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Impfskepsis bei Geflüchteten: Eine Dosis Vertrauen | |
Die Bewohner:innen der Flüchtlingsheime sollten längst gegen Corona | |
geimpft sein – doch es geht schleppend voran. Auf Impfberatung in | |
Brandenburg. | |
Engagement für Flüchtlinge: Verwurzelung mit Hindernissen | |
Der Härtefallantrag einer Familie wird abgelehnt, weil sie angeblich keine | |
Integrationsbemühungen zeigt. Das stimmt nicht, sagen Unterstützer*innen. | |
Flüchtlingskinder im Homeschooling: Digitales Lernen ausgeschlossen | |
Homeschooling ist für Flüchtlingskinder besonders hart: Nur wenige haben | |
Computerzugang, viele Heime noch immer kein oder zu schwaches Internet. | |
Im Arbeitsmarkt angekommmen: Chemie als Chance | |
Für Sajid aus Bangladesch war das Jahr 2015 eine Chance, in das Berufsleben | |
zu starten. Jetzt denkt er sogar darüber nach, zu studieren. | |
Geflüchtete auf dem Arbeitsmarkt: Waleed macht jetzt Wasser | |
Der Pakistani Waleed Asif arbeitet nun bei den Wasserwerken. Tina | |
Brockstedt von der Arbeitsagentur ist daran nicht unbeteiligt. | |
Volkshochschulen und Corona: Ohne Kurs nix los | |
VHS-Dozent*innen in Berlin dürften nun wieder unterrichten. Doch viele | |
Kurse fallen weiter aus, weil die Bezirke die Organisation verschlafen | |
haben. | |
Migration und Fachkräftemangel: Was immer ihn glücklich macht | |
Ein junger Vietnamese bekommt in Thüringen die Chance, Elektroniker zu | |
werden. Nach drei Monaten schmeißt er hin. Die Story eines | |
Missverständnisses. | |
Religiöse Identität und Asyl: Ist der Glaube auch stark genug? | |
Verwaltungsgerichte dürfen prüfen, ob der Glaube von Asylbewerbern an das | |
Christentum „identitätsprägend“ ist, entschieden die Verfassungsrichter. | |
Corona in Flüchtlingsunterkünften: Dem Virus wehrlos ausgeliefert | |
In mindestens sieben Flüchtlingsheimen in NRW grassiert das Coronavirus. | |
Das Ansteckungsrisiko ist dort noch größer als auf Kreuzfahrtschiffen. | |
+++ Corona News am Dienstag +++: Über die Hälfte für Vermögensabgabe | |
Laut einer Umfrage wollen 51 Prozent der Deutschen, dass Reiche für die | |
Kosten der Pandemie aufkommen. Die Nachrichten zum Coronavirus im | |
Live-Ticker. | |
Corona in Flüchtlingsunterkünften: „Die Leute haben Angst“ | |
„Durchseuchung wird in Kauf genommen“: Pro Asyl, Landesflüchtlingsräte und | |
Seebrücke-Bewegung fordern Auflösung der Flüchtlingsunterkünfte. | |
Geflüchtete fürchten Ansteckung: Auf der Flucht vor Corona | |
Geflüchtete demonstrierten in Hamburg gegen die Unterbringung in | |
Gemeinschaftsunterkünften. Die Stadt hat neue Kapazitäten für Erkrankte | |
geschaffen. | |
Corona und Geflüchtete: Zur Quarantäne in den Knast | |
Sechs coronainfizierte Asylsuchende aus Bielefeld wurden im Abschiebeknast | |
Büren isoliert. Obwohl sie nicht abgeschoben werden sollen. |