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# taz.de -- Im Arbeitsmarkt angekommmen: Chemie als Chance
> Für Sajid aus Bangladesch war das Jahr 2015 eine Chance, in das
> Berufsleben zu starten. Jetzt denkt er sogar darüber nach, zu studieren.
Bild: Sajid kommt von der Schicht bei Evonik im Chemiepark Marl
Aus Sorge vor Repressionen seitens politischer Gegner seiner Familie will
der 24-Jährige Sajid auch nach acht Jahren in Deutschland weder seinen
Nachnamen noch seinen Wohnort in der Zeitung sehen. Und das, obwohl er
sagt: „2015 habe ich eine echte Chance bekommen.“
Sajid ist bei dem Chemieparkbetreiber Evonik in das Programm „Start in den
Beruf“ eingestiegen – heute arbeitet er nach dreieinhalbjähriger Ausbildung
am Standort Marl in Festanstellung als Chemielaborant.
In dem sechs Quadratkilometer großen Chemiepark mit seinem 55 Kilometer
langen Straßen- und 1.200 Kilometer umfassenden Rohrleitungsnetz ist der
junge Mann mit den dunklen Haaren Qualitätssicherer: „Wir analysieren die
Produkte, überwachen, dass sie gut genug sind“, erzählt er am Telefon –
wegen Corona gelten strenge Sicherheitsbestimmungen: Externe dürfen den
drittgrößten Industrie-Cluster der Bundesrepublik aktuell nur in
Ausnahmefällen betreten.
## Gutes Geld in der Chemieindustrie
Sajid und seine Eltern sind [1][2012] aus Bangladesch nach Deutschland
geflohen. Heute verdient der Sohn in Marl gutes Geld: In
Nordrhein-Westfalens Chemieindustrie wird im ersten Jahr nach der
Ausbildung ein Brutto-Mindestgehalt von rund 3.000 Euro gezahlt, dazu kommt
ein 13. Monatsgehalt und Urlaubsgeld. „Der Chemietarif ist sehr gut“, sagt
er nur – und klingt zufrieden.
Einfach war der Weg dorthin aber nicht. „Als Aufenthaltsort ist uns 2012
eine Stadt im nördlichen Ruhrgebiet zugewiesen worden“, erzählt der in
Bangladesch Geborene. Weder er noch seine Eltern oder sein jüngerer Bruder
hätten auch nur ein Wort Deutsch gesprochen. „Am ersten Tag haben wir ohne
Salz gekocht – niemand von uns wusste, dass ‚Salt‘ auf Deutsch Salz heiß…
erinnert er sich.
Danach besuchte der damals 16-Jährige eine Hauptschule in Recklinghausen,
wo zeitweise rund 300 der etwa 360 Schüler*innen die Biografie von
Geflüchteten hatten. „Das waren Klassen für Menschen, die aus anderen
Ländern kamen“, erinnert sich Sajid, „wir haben vor allem Deutsch und
deutsche Grammatik gelernt – aber natürlich auch Mathe und andere wichtige
Fächer.“ Nach einem Praktikum beim Chemiegrundstoff-Hersteller Ineos Phenol
absolvierte er schließlich noch die 10. Klasse auf einem Berufskolleg in
Marl.
Am liebsten wäre Sajid direkt eine Lehrstelle als Chemikant bei Evonik im
Chemiepark Marl gewesen. „Das hat im ersten Anlauf jedoch nicht geklappt“,
berichtet er, inzwischen nahezu perfekt und akzentfrei Deutsch sprechend.
Das Chemieunternehmen Evonik, das 2007 aus dem „weißen“ Bereich der RAG
Aktiengesellschaft sowie der Degussa hervorgegangen ist und an dem die
RAG-Stiftung noch heute mehr als 58 Prozent hält, ist einer der größten
Ausbilder in der Region.
Allerdings kam mit der Absage auch ein Angebot, nämlich an dem
achtmonatigen Programm „Start in den Beruf“ bei Evonik teilzunehmen.
„Dessen Ziel ist es, Jugendliche, die als nicht ausbildungsreif gelten, für
eine Ausbildung fit zu machen“, erklärt der Leiter der Evonik-Ausbildung,
Hans-Jürgen Metternich. Schon Ende 2014 habe sich ein Geflüchteter im
Chemiepark Marl gemeldet und sei kurzfristig in das Projekt eingestiegen.
Im Jahr 2015 seien dann neben den 50 regulären Plätzen zusätzlich 30
weitere für Schutzsuchende geschaffen worden, 2016 bis 2019 konnten an dem
Programm sogar insgesamt jeweils 90 junge Menschen teilnehmen. Der Anteil
der geflüchteten Jugendlichen beträgt aktuell rund 25 Prozent.
## 700 Auszubildende im Chemiepark
Neben der Ausbildungsabteilung von [2][Evonik] unterstützt auch die Jugend-
und Auszubildendenvertretung die Maßnahme „Start in den Beruf“. Noch heute
treten fast alle Auszubildenden in die Industriegewerkschaft Bergbau,
Chemie, Energie (IG BCE) ein. „Natürlich sollen auch Geflüchtete bei ‚Sta…
in den Beruf‘ dabei sein“, sagen Laura Hafkemeyer und Nina Strojek,
Sprecherinnen der etwa 700 Auszubildenden im Chemiepark Marl. „Für uns ist
das gelebte Solidarität.“
„‚Start in den Beruf‘ war super“, findet auch Sajid, der heute selbst in
der Jugend- und Auszubildendenvertretung aktiv ist. „Wir haben die Labore,
Metall- und Elektrowerkstätten und Büros kennengelernt“, sagt er. „Außer…
wurde denen, die nicht so gut Deutsch konnten, ermöglicht, an einem
intensiven Sprachunterricht teilzunehmen.“
Mehr als 70 Prozent der insgesamt rund 400 Teilnehmer*innen der Jahre 2015
bis 2019 erhielten das Angebot, eine Lehre zu machen. Irgendwann auch
Sajid. Bei Evonik werden die „Starter“ unter anderem zu Chemikant*innen und
in Metall-, Elektro- oder kaufmännischen Berufen ausgebildet. Andere
entscheiden sich für Ausbildungen bei Partnerfirmen jenseits der chemischen
Industrie: „Hier reicht die Vielfalt von der Landschaftsgärtnerei über alle
Berufsbilder im Handwerk bis hin zu den Pflegeberufen“, so Ausbilder
Metternich.
Sajid wurde Chemielaborant und hat neben seiner Ausbildung auch noch
Fachabitur gemacht. „Jetzt denke ich darüber nach, Techniker oder Meister
zu werden“, sagt er – „aber vielleicht studiere ich auch noch
Verfahrenstechnik.“ Wenn er deshalb gefragt wird, ob Kanzlerin Merkel mit
ihrem Satz „Wir schaffen das“ also recht hatte, stutzt er nur kurz.
„Natürlich“, sagt er dann schnell: „Was denn sonst?“
9 Aug 2020
## LINKS
[1] /Proteste-vor-Wahlen-in-Bangladesch/!5051812/
[2] https://jobs.evonik.com/key/start-in-den-beruf-evonik.html?locale=de_DE
## AUTOREN
Andreas Wyputta
## TAGS
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