| # taz.de -- Impfskepsis bei Geflüchteten: Eine Dosis Vertrauen | |
| > Die Bewohner:innen der Flüchtlingsheime sollten längst gegen Corona | |
| > geimpft sein – doch es geht schleppend voran. Auf Impfberatung in | |
| > Brandenburg. | |
| Bild: Eine Frau hat Bedenken, Lafi Khalil (Mitte) versucht, sie auszuräumen | |
| Seit Wochen ringt die Ukrainerin Tatjana Illjenko mit sich. Soll sie sich | |
| gegen Covid-19 impfen lassen oder nicht? Ihr Mann, ein Tschetschene, hat | |
| sich früh dagegen entschieden, so wie die meisten Tschetschen:innen, die in | |
| der Flüchtlingsunterkunft im brandenburgischen Werder an der Havel gelandet | |
| sind. Auch Tatjana Illjenko, 30 Jahre alt, hat noch Bedenken. Was, wenn der | |
| Impfstoff gar nicht wirkt? Wenn er ihrem Körper nicht nur Nebenwirkungen | |
| zufügt, sondern dauerhafte Schäden? Wenn er gar zu ihrem Tod führt und ihr | |
| vierjähriger Sohn ohne Mutter aufwachsen muss? | |
| Ihre Zweifel sind es auch, die sie an einem heißen Junitag aus ihrer | |
| Wohnung im zweiten Stock der Gemeinschaftsunterkunft hinabsteigen und an | |
| einer Infoveranstaltung zur Coronaschutzimpfung teilnehmen lassen. Illjenko | |
| hat sich dazu auf der ausgedörrten Grünfläche vor dem Gebäude ein | |
| schattiges Plätzchen gesucht. Dort sitzt sie nun in der ersten Reihe auf | |
| einem Plastikstuhl und wartet, in ihrem Schoß die FFP2-Maske, unterm Stuhl | |
| die pinken Sandalen. Neben ihr sitzen Frauen aus Tschetschenien und anderen | |
| Gebieten der ehemaligen Sowjetunion, links die Afghan:innen, rechts die | |
| Syrer:innen. Ein paar Männer lehnen an der Hauswand des klotzartigen | |
| Neubaus, gegenüber parkende Autos und Birken. | |
| Knapp 20 Bewohner:innen der Familienunterkunft sind gekommen, es ist | |
| ein Fünftel der Erwachsenen. Fragt man die Anwesenden, warum sie hier sind, | |
| wird schnell klar, dass Tatjana Illjenko mit ihren Fragen zum Impfen nicht | |
| alleine ist. Dabir Ahmed, ein junger Mann aus Somalia, hat gehört, dass man | |
| nach der Corona-Infektion nur mehr eine Impfdosis braucht. Ali Shaban, 46 | |
| Jahre alt und aus Syrien, hat ein Schreiben von seiner Hausärztin | |
| mitgebracht. Er will sich nach den Nebenwirkungen erkundigen. Seine Frau | |
| schickt ihn, sie selbst ist im Deutschkurs. Tatjana Illjenko, Dabir Ahmed, | |
| die Shabans: Sie alle erhoffen sich von diesem Tag Klarheit über die | |
| Covid-19-Impfung. Klarheit, für die ein Krisenberatungsteam sorgen soll, | |
| das im Auftrag der Landesregierung durch Brandenburg reist. Ihr Ziel: über | |
| die [1][Vorteile des Impfens] aufzuklären. | |
| Wie schleppend die Impfung der Geflüchteten vorangeht, zeigt eine Umfrage | |
| der taz unter den zuständigen Landesministerien. Nur sechs Bundesländer | |
| erreichen aktuell in den Flüchtlingsunterkünften eine Impfquote von 50 | |
| Prozent oder darüber. In Berlin und Nordrhein-Westfalen liegt sie bei rund | |
| 40 Prozent, in Hessen nur unwesentlich höher. Niedersachsen hat in manchen | |
| Unterkünften bis jetzt nur 20 Prozent der Bewohner:innen geimpft. In | |
| vier Bundesländern ist den Ministerien nicht bekannt, wie viele Menschen in | |
| den Sammelunterkünften bereits immunisiert sind. | |
| [2][Betrachtet man die Zahlen, drängt sich der Verdacht auf, dass der Staat | |
| die Fürsorge für seine Schutzsuchenden hintenanstellt]. Schließlich gehören | |
| die Bewohner:innen von Gemeinschaftsunterkünften schon seit Februar zur | |
| Priorisierungsgruppe zwei – ebenso wie Grundschullehrer:innen, | |
| Polizist:innen und Menschen mit chronischer Lungenerkrankung. So sieht | |
| es die Impfverordnung des Bundes vor. Und das mit gutem Grund: Denn die | |
| Ansteckungsgefahr in den Sammelunterkünften ist nachgewiesen hoch. Nach den | |
| Daten des brandenburgischen Sozialministeriums infizierte sich dort bislang | |
| rund jede:r Zwanzigste. Nichtsdestotrotz hat lediglich Schleswig-Holstein | |
| im März mit dem Impfen in Flüchtlingsunterkünften begonnen, fast die Hälfte | |
| der Bundesländer starteten erst im Mai. | |
| Wieso so spät? Und lässt sich allein damit die niedrige Impfquote erklären? | |
| Um das herauszufinden, hat die taz mit rund einem Dutzend Menschen | |
| gesprochen, die tagtäglich mit dem Alltag in den Sammelunterkünften zu tun | |
| haben. Weil sie dort leben oder arbeiten. Weil sie eine Unterkunft für | |
| Geflüchtete leiten oder als externe Berater:innen dort ein und aus | |
| gehen. Oder weil sie in den Ministerien die Impfkampagnen für Geflüchtete | |
| mit koordinieren. Worin sich alle einig sind: Es läuft längst nicht alles | |
| rund bei den Corona-Impfungen. Und das fängt bei der fehlenden | |
| Einheitlichkeit an. | |
| Wie und wo Geflüchtete geimpft werden und welcher Impfstoff zum Einsatz | |
| kommt, unterscheidet sich von Bundesland zu Bundesland, teilweise sogar von | |
| Unterkunft zu Unterkunft. In Bayern etwa kommen mobile Impfteams nur in die | |
| größeren Einrichtungen. Wer in einer kleinen Unterkunft lebt, muss sich in | |
| der Regel selbst um einen Termin bemühen. Generell gilt: In | |
| Erstaufnahmeeinrichtungen gibt es andere Regeln als in den kommunalen | |
| Unterkünften. Auch in Brandenburg kommen verschiedene Impfstoffe zum | |
| Einsatz: Biontech in den Kommunen, Johnson & Johnson in den | |
| Landeseinrichtungen. Wer selbst wählen möchte, darf aber jederzeit zum | |
| Hausarzt gehen. | |
| Bei der Frage, warum die Impfquoten auch Mitte Juni noch so niedrig sind, | |
| gehen die Meinungen auseinander. Tatsache ist: Im Februar war der Impfstoff | |
| knapp, die Ministerien schickten die mobilen Impfteams erst zu den Alten | |
| und Pflegebedürftigen, später zu Menschen mit Behinderung oder anderen | |
| besonders gefährdeten Menschen. Als es dann endlich losgehen konnte, so | |
| stellen es jedenfalls die Ministerien dar, seien neue Hindernisse | |
| hinzugekommen: die Bürokratie und die niedrige Impfbereitschaft von | |
| Geflüchteten, die von Falschinformationen in den sozialen Netzwerken, | |
| traumatischen Erfahrungen mit Behörden und der zeitlichen Überschneidung | |
| der Impfungen mit dem Fastenmonat Ramadan herrühren sollen. All das hätte | |
| die Impfkampagne erschwert. | |
| Flüchtlingsräte kontern: Es brauche mehr persönliche Beratung. Einfach nur | |
| Informationen des Robert-Koch-Instituts zu verteilen reiche nicht aus. Auch | |
| Tatjana Illjenko sagt: „Ich habe zu wenige Informationen über die | |
| Impfstoffe. Ich will erst einmal abwarten.“ Und sie ist nicht die Einzige. | |
| Als Brandenburg die Impfbereitschaft in den Flüchtlingsunterkünften | |
| abfragte, lag die in manchen Einrichtungen bei nur 5 Prozent. So war es | |
| auch in Werder an der Havel, wo sich zunächst nur einige wenige impfen | |
| lassen wollten. | |
| ## Misstrauen gegen den Staat | |
| Wie sehr die staatlichen Informationen und die Impfbereitschaft der | |
| Geflüchteten miteinander zusammenhängen, lässt sich beim Umgang mit dem | |
| Impfstoff von Johnson & Johnson beobachten. Die Länder hatten bei den | |
| Impfungen in den Sammelunterkünften fest darauf gebaut. Weil der Impfstoff | |
| bereits nach einer Dosis seine volle Wirkung entfaltet, wäre er eigentlich | |
| ideal für die Sammelunterkünfte mit ihrer hohen Fluktuation gewesen. Doch | |
| dann zog die Ständige Impfkommission Anfang Mai die altersunabhängige | |
| Empfehlung für Johnson & Johnson zurück, wie sie es zuvor auch schon bei | |
| Astrazeneca getan hatte. Plötzlich konnten Personen unter 60 Jahren den | |
| Impfstoff nur mehr nach einer ärztlichen Beratung bekommen. Manche | |
| Bundesländer zweifelten daran, dass sie die Ressourcen für derartige | |
| Beratungen überhaupt aufbringen konnten, also wechselten sie zu Biontech. | |
| Andere blieben bei Johnson & Johnson, wieder andere überließen den | |
| örtlichen Impfzentren die Entscheidung. | |
| Kritiker:innen sagen: Bei so viel Hin und Her ist es nicht | |
| verwunderlich, dass sich die Geflüchteten wie Versuchskaninchen vorkommen. | |
| Dass sie damit nicht gerade zur Vertrauensbildung beigetragen haben, wissen | |
| auch die Ministerien. Schließlich gab es ja auch schon davor genügend | |
| Gerüchte unter den Geflüchteten. Etwa dass Geimpfte leichter abgeschoben | |
| werden können oder dass die Impfung unfruchtbar macht. | |
| Olaf Jansen, 61 Jahre alt und Jurist, hat schon viele solcher Geschichten | |
| gehört. Er ist als Leiter der Zentralen Ausländerbehörde in Brandenburg für | |
| die Erstaufnahmeeinrichtung des Landes verantwortlich und damit für den | |
| Impferfolg bei rund 1.300 Menschen. „Und der“, sagt Jansen am Telefon, | |
| „stellt sich nur ein, wenn die Leute Ihnen vertrauen.“ Um dieses Vertrauen | |
| zu gewinnen, setzt Jansen auf Mentor:innen. Seine Mitarbeiter:innen | |
| sprechen gezielt die Personen an, von denen sie glauben, dass sie Einfluss | |
| auf die jeweiligen Communities nehmen können. „Das klappt ziemlich gut“, | |
| sagt Jansen. Nur bei Menschen aus dem Kaukasus, Russland oder | |
| Tschetschenien bliebe die Skepsis oft trotz vieler Gespräche hoch. „Bei | |
| Menschen aus dieser Region ist das Misstrauen in den Staat besonders stark | |
| ausgeprägt“, hat er beobachtet. | |
| Dennoch: Während sich zum Impfstart in der Erstaufnahmeeinrichtung Anfang | |
| Mai nur etwa jede:r Dritte impfen lassen wollte, liegt die Impfquote laut | |
| Jansen heute bei 70 bis 75 Prozent. Dazu habe aber sicherlich auch noch ein | |
| anderer Umstand beigetragen, glaubt Jansen. In der kleinen Turnhalle, in | |
| der drei Mal die Woche geimpft wird, stünden Geflüchtete, Wachschutz und | |
| Mitarbeiter:innen gemeinsam in der Schlange. „Wenn die sehen, dass | |
| sich auch alle anderen mit dem gleichen Stoff impfen lassen, haben wir | |
| gewonnen.“ | |
| ## Die Impfbereitschaft steigt | |
| In gewisser Weise spiegelt Jansens Erstaufnahmeeinrichtung die gesamte | |
| Gesellschaft wider. Ein kleiner Teil schließt eine Covid-19-Impfung | |
| kategorisch aus – der Großteil entscheidet sich aber dafür, wenn sich auch | |
| Personen aus dem eigenen Umfeld impfen lassen. Umfragen wie das | |
| Impfmonitoring des Robert-Koch-Instituts belegen, dass das Vertrauen in den | |
| Impfstoff steigt. Laut ARD-Deutschlandtrend hat sich der Anteil derer, die | |
| sich „auf jeden Fall“ impfen lassen wollen, zwischen November und Mai | |
| verdoppelt. | |
| Auch Ali Shaban, ein höflicher Mann mit grauen Schläfen, war zunächst | |
| unentschlossen. Er lebt mit seiner Familie seit nicht mal zwölf Monaten in | |
| Deutschland, momentan in der Flüchtlingsunterkunft in Werder an der Havel. | |
| Zuvor arbeitete er als Schuhmacher in der kurdischen Provinz Afrin im | |
| Norden Syriens. Ali Shaban kennt die Bundesrepublik nur im Krisenmodus der | |
| Pandemie. Er hat zwar immer noch Fragen zu den Impfstoffen, doch seine | |
| anfängliche Skepsis ist verschwunden, seitdem sich der Bruder seiner Frau | |
| impfen ließ. Das war im März. Daraufhin ist er zur Hausärztin gegangen und | |
| habe Impftermine für sich, seine Frau Hanifa und den ältesten Sohn Mohammed | |
| ausgemacht. „Wir wollen kein Corona bekommen“, sagt er. Mittlerweile | |
| vertraue er den Impfstoffen. | |
| Doch nicht alle können ihre Skepsis so einfach ablegen. Tatjana Illjenko | |
| fällt das schwer, obwohl sie schon viel länger in Deutschland ist als Ali | |
| Shaban. Seit sechs Jahren lebt sie in Werder, hierher kam sie, weil sie als | |
| konvertierte Muslimin in der Ukraine Ausgrenzung und Hass erfuhr. Heute | |
| sitzt sie im Landkreis Potsdam-Mittelmark im Integrationsbeirat und | |
| vertritt die Interessen der ausländischen Bürger:innen. Ihr Sohn geht in | |
| die Kita, ihr Mann stellt für Amazon Päckchen zu. Das Misstrauen gegen den | |
| Staat aber ist geblieben – auch nach dem Besuch des Krisenberatungsteams. | |
| Der deutschen Presse gegenüber scheint Tatjana Illjenko hingegen weniger | |
| misstrauisch zu sein. Sie bittet die taz zum Gespräch in ihre | |
| Zwei-Zimmer-Wohnung. Auf Fotos möchte sie aber nur so drauf sein, dass ihr | |
| Gesicht nicht zu erkennen ist. Sie hat es sich auf der breiten Couch neben | |
| der geöffneten Balkontür bequem gemacht, ihre pinken Sandalen liegen auf | |
| dem riesigen Teppich. An ihre frühere Heimat erinnern nur die Buchrücken | |
| mit kyrillischer Schrift. | |
| Tatjana Illjenko stammt aus einem Dorf in den Karpaten. Und ihre alte | |
| Heimat hat viel mit der anhaltenden Skepsis vor dem Staat zu tun. So | |
| erzählt sie von russischen Impfstoffen, die die Kinder im Dorf krank | |
| gemacht hätten. „Pobotschnoje dejstwije“, sagt sie mehrfach – | |
| „Nebenwirkungen“. Und „Insult“ – „Schlaganfall“. Sie spricht gut … | |
| für diese Begriffe fehlt ihr aber die Übersetzung. Und nachprüfen lassen | |
| sich ihre Behauptungen nicht. Zumal sie nicht sagen kann, bei welchen | |
| Impfungen die Schlaganfälle aufgetreten sein sollen. | |
| Fragt man bei Menschen nach, die sich gut mit der Ukraine und Russland | |
| auskennen, hört man aber, dass solche Nebenwirkungen nicht ausgeschlossen | |
| sind. Vor allem bei älteren Generationen in den Post-Sowjet-Staaten hätten | |
| russische Impfstoffe nicht den besten Ruf. Und das hat auch Folgen für die | |
| Impfkampagne in Deutschland. Denn das Angebot der brandenburgischen | |
| Landesregierung hat Tatjana Illjenko bislang ausgeschlagen. | |
| Und damit gehört sie zur Zielgruppe von Angela Bernasch. Die Referentin ist | |
| im brandenburgischen Sozialministerium für Migrationssozialarbeit | |
| zuständig. Seit der Pandemie besteht ihre Arbeit vor allem darin, die | |
| Kommunen bei Corona-Ausbrüchen zu unterstützen – oder diese besser gleich | |
| zu verhindern. Also hinfahren, zuhören, informieren, auf | |
| Schutzmöglichkeiten hinweisen. Dafür hat Bernasch im April 2020 ein | |
| Krisenberatungsteam aus Ärzt:innen, psychosozialen Berater:innen und | |
| Sprachmittler:innen aufgebaut. 59 Mal rückte das Team bis Ende des | |
| vergangenen Jahres aus, 29 Mal wegen eines Corona-Ausbruches. Wenn es Ärger | |
| gab, dann meistens wegen der Pauschalquarantäne für die ganze Unterkunft, | |
| die Gesundheitsämter bei Corona-Ausbrüchen verhängen. In so einer Situation | |
| hätten die Landkreise und zuständigen Behörden alle Hände voll zu tun, da | |
| bleibe für die individuellen Sorgen und Ängste der Bewohner:innen nur | |
| wenig Zeit, sagt Bernasch. „Manchmal mussten wir vor Ort erst mal die | |
| Gemüter beruhigen.“ | |
| Doch seitdem die Fallzahlen gesunken sind, haben Bernasch und ihr Team Zeit | |
| für eine neue Aufgabe: die Geflüchteten über die Vorteile der | |
| Corona-Impfung aufzuklären. 39 solcher Einsätze haben sie in diesem Jahr | |
| schon gehabt. An einem Donnerstag Mitte Juni folgt mit der | |
| Infoveranstaltung in Werder an der Havel Einsatz Nummer 40. | |
| Geleitet wird der Einsatz von Lafi Khalil, einem Sozialarbeiter aus Berlin. | |
| So wie seine anderen Kolleg:innen musste auch er drei Kriterien | |
| erfüllen, um beim Krisenberatungsteam mitmachen zu können: eine eigene | |
| Einwanderungsbiografie besitzen, für Flüchtlingseinrichtungen relevante | |
| Sprachkenntnisse aufweisen und bei einem Träger arbeiten, mit dem die | |
| Behörde sowieso zusammenarbeitet. Lafi Khalil spricht Deutsch und Arabisch. | |
| Geboren wurde er in Jerusalem, seit 30 Jahren arbeitet er mit Arbeitslosen | |
| und Jugendlichen, seit einigen Jahren über den Verein „Inter Homines“ auch | |
| mit traumatisierten Geflüchteten. Bei Bernaschs Krisenberatungsteam war er | |
| von Anfang an dabei. | |
| „Heute ist mein 31. Einsatz“, sagt er und man hört ihm an, dass er stolz | |
| darauf ist. Vor der Infoveranstaltung sitzt er im Büro der Heimleitung und | |
| trinkt noch schnell eine Tasse Kaffee. Wenn er auf Fragen antwortet, | |
| versteht man, warum die Menschen schnell Vertrauen zu ihm fassen. Lafi | |
| Khalil hat eine beruhigende Art. „In Werder war ich noch nie“, sagt er. | |
| „Ich bin schon gespannt, was alles zur Sprache kommt.“ Kurz darauf tritt er | |
| ins Freie und berichtet den Bewohner:innen von den Vorteilen einer | |
| Impfung. Er erklärt, warum das Virus immer aggressiver wird, wenn man | |
| nichts dagegen tut. Warum die Impfungen nicht nur einen selbst, sondern | |
| auch Verwandte, Freunde und Nachbarn schützen. Warum man keine Angst vor | |
| den Nebenwirkungen haben muss. „Wenn man Fieber bekommt, ist das ein gutes | |
| Zeichen“, ruft er in die Runde. „Dann weiß ich, dass der Körper | |
| funktioniert.“ Ein Dolmetscher übersetzt ins Russische, eine Bewohnerin in | |
| Dari. Arabische Zwischenfragen beantwortet Khalil direkt auf Arabisch. | |
| Durch die Übersetzungen zieht sich das Gespräch in die Länge. Die Sonne ist | |
| nach Süden gewandert, die Bewohner:innen der Familienunterkunft sitzen | |
| mittlerweile in der prallen Sonne. Dennoch bleiben alle geduldig bis zum | |
| Schluss – und auch die Fragen reißen nicht ab. Ob es stimme, dass Geimpfte | |
| nach zwei Jahren sterben?, will eine Frau aus Syrien wissen. Das habe sie | |
| in einer libanesischen TV-Sendung aufgeschnappt. Eine andere fragt, ob sie | |
| sich impfen lassen kann, wenn sie Hepatitis C hat. Auch Tatjana Illjenko | |
| stellt eine Frage: „Wie kann es sein, dass Corona-Impfstoffe in nur einem | |
| Jahr entwickelt wurden?“ So, wie sie ihren Satz betont, klingt es beinahe | |
| vorwurfsvoll. | |
| ## Gerüchte und Falschmeldungen | |
| Auf seinen Einsätzen begegneten ihm immer wieder ähnliche Ängste und | |
| Vorbehalte, sagt Lafi Khalil. Manche hätten mit der eigenen Gesundheit zu | |
| tun, ein großer Teil aber stamme aus Gerüchten und Falschmeldungen. „Ich | |
| frage deshalb auch immer, wo sie das herhaben“, erzählt er. Die Quellen | |
| müssten die Geflüchteten ihm dann zeigen. Manchmal, sagt Khalil lachend, | |
| glichen seine Einsätze einer Social-Media-Fortbildung. Es mache ihm | |
| trotzdem Spaß. Denn oft sehe er einen unmittelbaren Erfolg, auch wenn nur | |
| wenige Menschen zu den Veranstaltungen kommen. Und dann sagt Khalil, der | |
| Berater, etwas ganz Ähnliches wie Jansen, der Leiter der | |
| Erstaufnahmeeinrichtung. Es gehe um Multiplikator:innen, die in ihre | |
| Community hineinwirken. Manchmal melden sich dann plötzlich alle zusammen | |
| zum Impfen an. Er habe normalerweise immer eine Liste dabei, in Werder | |
| hängt sie im Büro der Heimleitung. | |
| Wie notwendig solche Veranstaltungen sind, habe sich schon früh | |
| abgezeichnet. „Als wir im Februar auf unseren Einsätzen die | |
| Impfbereitschaft in den Gemeinschaftsunterkünften abgefragt haben, waren | |
| wir schon etwas enttäuscht“, sagt Angela Bernasch aus dem | |
| Sozialministerium. Was erschwerend hinzukommt: dass sie im Ministerium so | |
| gut wie keine Daten aus den kommunalen Gemeinschaftsunterkünften kennen. | |
| Von den Impfteams des Deutschen Roten Kreuzes weiß Bernasch zwar, wie viele | |
| Geflüchtete in 13 von 18 Kreisen Brandenburgs ihre erste Corona-Impfung | |
| erhalten haben: 2.450 von 6.383 gemeldeten impfberechtigten Personen | |
| nämlich und damit etwa 39 Prozent. Doch wer unter den „Ablehnern“ | |
| vielleicht bereits geimpft war oder wegen einer ausgestandenen | |
| Corona-Infektion als genesen gilt, ist nicht bekannt. Die Impfquote der | |
| Kommunen lasse sich so jedenfalls nicht abschließend bestimmen, sagt sie. | |
| „Wahrscheinlich ist sie aber um einiges höher, als wir denken.“ | |
| Stimmen Bernaschs Schätzungen, wäre die Impfbereitschaft unter Geflüchteten | |
| im Endeffekt doch nicht so niedrig, wie die Daten aus den Ländern es | |
| suggerieren. Dafür spricht noch ein anderer Umstand: Auch Geflüchtete, die | |
| sich nachträglich für eine Impfung entscheiden und zum Hausarzt gehen, | |
| fallen aus der Statistik. So wie Ali Shaban aus Werder an der Havel, der ja | |
| jetzt auch Impftermine für sich und seine Familie ausgemacht hat. | |
| Wenige Tage nach dem Besuch des Krisenberatungsteams kommt Ali Shabans | |
| 18-jähriger Sohn Mohammed aus der Arztpraxis und hält den Daumen hoch. Er | |
| hat soeben seine erste Covid-19-Impfung erhalten. Wie zum Beweis zückt er | |
| seinen Impfausweis. Ein Sticker mit der Aufschrift Comirnaty® prangt in der | |
| untersten Zeile, er hat eine Dosis von Biontech/Pfizer erhalten. Mitte Juli | |
| bekomme er die zweite, sagt er. Kurz darauf kommt auch seine Mutter aus der | |
| Praxis. Sie sei wegen ihrer körperlichen Beschwerden erst mal nicht geimpft | |
| worden, sagt Hanifa Shaban. Sie solle wiederkommen, wenn die vorbei sind. | |
| Und ihr Mann? Lässt der sich nicht impfen? „Der ist für ein paar Tage in | |
| Bremen“, sagt sie. Er suche Arbeit. | |
| Tatjana Illjenko schreibt eine Woche nach dem taz-Besuch eine SMS. Sie | |
| bittet, ihren wirklichen Namen nicht zu verwenden. Die Frage, ob sie sich | |
| eine Impfung mittlerweile vorstellen könne, lässt sie unbeantwortet. | |
| 28 Jun 2021 | |
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