# taz.de -- Corona-Impfung von Geflüchteten: Bitte einfach machen! | |
> Eingewanderte und geflüchtete Menschen sind nicht impfwillig? Doch. Sie | |
> brauchen nur einen unkomplizierten, schnellen Zugang zum Piks. | |
Bild: Eine bessere Impfstrategie wäre besser statt kluger Ratschläge | |
Wer in den vergangenen Wochen und Monaten versucht hat, für sich selbst | |
oder für Angehörige einen [1][Impftermin] zu ergattern, wer stundenlang in | |
Hotlines hing oder Impfverordnungen studiert hat, wer versucht hat, | |
Impftermine zu buchen, Seiten wieder und wieder zu aktualisieren, zu | |
verstehen, welcher Code nun aufs Handy kommt, welcher in die E-Mail. Wer | |
gedanklich mithalten wollte beim Verstehen des Wirksamkeitsgrads bestimmter | |
Impfstoffe, der Nebenwirkungen, die sie haben, der Abstände, in denen sie | |
geimpft werden sollen oder nicht, mal über 60-Jährige, mal unter | |
60-Jährige. | |
Wer Atteste von Ärzt*innen besorgen musste, mal dieses, mal jenes, wer | |
nachweisen musste, Kontaktperson einer Schwangeren oder einer zu pflegenden | |
Person zu sein, wer zwischen Ämtern hin und her telefoniert hat. Wer ein*e | |
Hausärzt*in finden musste, weil die eigene Hausärzt*in nicht impft, wer | |
Studien oder Zusammenfassungen von Studien gelesen hat, um zu verstehen, | |
wie die Impfstoffe so schnell entwickelt werden konnten und trotzdem sicher | |
sind. | |
Wer dem Drosten-Podcast gelauscht hat, um Vorzüge und Nachteile der | |
verschiedenen Impfstoffe zu verstehen – kurz, wer sich in den vergangenen | |
Monaten durch Impfchaos und -bürokratie kämpfen musste, weiß, dass es | |
einiges an Voraussetzungen braucht, um erfolgreich zu sein: Zeit, Ausdauer, | |
Technik, Sprachfertigkeiten und Wissen. | |
Dass bei einem solchen Prozess nicht alle Menschen mitkommen, war absehbar. | |
Menschen, die nicht gut Deutsch sprechen zum Beispiel. Menschen, die prekär | |
beschäftigt sind oder im Schichtdienst, die nicht tagelang frei nehmen | |
können, um sich durch die verschiedenen Medienberichte zur Impfsicherheit | |
zu wühlen. Die sie vielleicht sowieso nicht richtig verstehen würden. | |
Menschen, die nicht einmal einen Computer haben, um eine Impfung zu buchen. | |
Die niemanden kennen, die*der ihnen Fragen beantworten oder ihnen Sorgen | |
nehmen könnte. Zu diesen Menschen gehören überdurchschnittlich oft | |
Migrant*innen. | |
## Fehlende Impfstrategien für Geflüchtete | |
Da wundert es nicht, dass sich in letzter Zeit Berichte häufen, nach denen | |
die Zahl der impfwilligen Migrant*innen – Menschen mit | |
Einwanderungsgeschichte und [2][Geflüchtete] – auffällig niedrig sei. | |
Kürzlich sagte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, es sei eine „große | |
Herausforderung“, bei Migrantinnen und Migranten für die Impfung zu werben. | |
Das fällt ihm jetzt erst auf? Oder, anders gefragt: Wenn schon die | |
allgemeinen Zweifel an der Sicherheit der Impfstoffe so groß und Fragen zum | |
Impfprozess so zahlreich sind – wie, dachte die Bundesregierung, soll es | |
dann erst Menschen gehen, die nicht einmal ansatzweise so viele | |
Informationen haben wie wir anderen? | |
Es hätte schon vor Monaten Strategien dafür gebraucht, wie man | |
Eingewanderte und Geflüchtete erreicht – sowohl, um sie mit zuverlässigen | |
Informationen in den jeweiligen Sprachen zu versorgen, als auch, um | |
unbürokratische Wege zu finden, den Impfstoff zu diesen Menschen zu | |
bringen. Stattdessen sagte Jens Spahn Ende April, er setze auf „die direkte | |
Ansprache von Migranten als Teil des nächsten Kampagnenschritts“. Als Teil | |
des „nächsten“ Kampagnenschritts? Wann? Wenn alle anderen geimpft sind? | |
Man könnte diese Probleme rasch angehen. Die Stadt Köln hat es vorgemacht: | |
Dort wurde vor ein paar Wochen ein mobiles Impfzentrum in einen Teil der | |
Stadt gebracht, in dem Menschen in engen Wohnverhältnissen leben, darunter | |
viele Migrant*innen. Es sprach sich schnell in der Nachbarschaft herum, | |
dass man sich einfach impfen lassen könne – ohne Voranmeldung, ohne | |
Nachweis. Hunderte Menschen stellten sich in die Schlange. Menschen, die | |
ansonsten vielleicht gar nicht oder erst sehr viel später geimpft worden | |
wären. | |
Es muss bundesweite, flächendeckende und vielsprachige Kampagnen geben, um | |
eingewanderte Menschen zu erreichen. Und man bräuchte mehr mobile | |
Impfzentren. Stattdessen wurde das Projekt in Köln wieder auf Eis gelegt, | |
weil das Bundesland Nordrhein-Westfalen keine Impfstoffe mehr dafür | |
liefert. Es ist offensichtlich keine Frage des Könnens, sondern der | |
Priorität. | |
Anstatt ein Programm wie in Köln bundesweit einzuführen und mit | |
zivilgesellschaftlichen Organisationen zusammenzuarbeiten, die die | |
Bedürfnisse der unterschiedlichen Gruppen kennen, gibt es kluge Ratschläge | |
von oben. Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann sagte Anfang Mai, | |
„insbesondere“ Menschen mit Migrationshintergrund seien „immer noch“ | |
skeptisch gegenüber Impfungen. Sein Rat: „Lassen Sie sich nicht von Fake | |
News verunsichern. Die zugelassenen Impfstoffe sind sicher und wirksam.“ | |
Selbst wenn jemand der Angesprochenen den über die Deutsche Presse-Agentur | |
verbreiteten Aufruf gelesen oder gehört haben sollte – das ist kaum ein | |
kluger Weg, Menschen zu überzeugen. | |
## Impfkampagne wird Umständen nicht gerecht | |
Viel wird zurzeit über eine vermeintlich große Impfskepsis unter | |
Migrant*innen diskutiert und geschrieben. Zweifel und der Glaube an | |
Falschnachrichten und Verschwörungen seien unter Eingewanderten besonders | |
groß, weil sie sich über fremdsprachige Kanäle informierten und | |
Falschnachrichten aus ihren Herkunftsländern glaubten. Fakt ist: Es gibt | |
keine Daten, die belegen würden, dass „insbesondere“ Menschen mit | |
Migrationshintergrund der Corona-Impfung skeptisch gegenüberstünden. | |
Es ist nun einmal so: Lebens- und Arbeitsverhältnisse, Strukturen, | |
Gewohnheiten, Bedürfnisse verschiedener Gruppen einer Gesellschaft | |
unterscheiden sich. Die Impfkampagne ist so konzipiert, dass sie den | |
Umständen vieler Menschen nicht gerecht wird – dazu zählen nicht nur | |
Migrant*innen, sondern auch Wohnungslose, von Armut Betroffene, Menschen | |
mit niedrigem Bildungsstand und prekären Jobs oder sozial isolierte | |
Menschen. Diese Menschen und eben auch Migrant*innen haben nicht mehr | |
oder weniger Zweifel als alle anderen – aber sie müssen auf anderen Wegen | |
angesprochen werden und brauchen vielleicht einfach mehr Hilfe und | |
Unterstützung. | |
Sind das wieder Abwehrreaktionen? Um nicht über die schlechte Integration | |
von Migrant*innen sprechen zu müssen, wie [3][Ahmad Mansour] kürzlich in | |
einem Beitrag für die taz schrieb? Es sei tabu, so Mansour, offen darüber | |
zu sprechen, dass Menschen mit Migrationshintergrund häufiger an Covid | |
erkranken, unter anderem weil sie in engen Familienstrukturen lebten und | |
damit oft von der Gesellschaft abgeschnitten seien. | |
Niemand traue sich zu sagen, dass Migrant*innen unter anderem wegen | |
eines Misstrauens gegenüber dem Staat für die Gesellschaft schlechter | |
erreichbar seien. Mansours Fazit: „Es geht offenbar nicht darum, diese | |
Menschen zu schützen, sondern nur um die Bestätigung der eigenen Ideologie, | |
um moralische Überlegenheit und obsessiv eingeforderte politische | |
Korrektheit.“ | |
Und da sind wir wieder an einem Punkt, der letztendlich alles zum | |
Stillstand bringt und vor allem eines erreicht: dass nicht das Problem | |
gelöst wird, sondern dass ideologisch diskutiert wird. Ob höhere | |
Erkrankungsraten bei Migrant*innen oder niedrigere Impfraten – bei so | |
vielen Themen landen wir immer und immer wieder bei „Tabus“ und | |
„politischer Korrektheit“. Dabei ist die einzig wichtige Frage: Wie lassen | |
sich Probleme am sinnvollsten lösen? | |
## Mehrsprachige Kanäle für Geflüchtete | |
Gehen wir davon aus, dass, ja, unter Migrant*innen eine größere | |
Impfskepsis herrscht. Nehmen wir an, dass Eingewanderte über ausländische | |
Chats eine Vielzahl an Falschinformationen bekommen und diesen in höheren | |
Raten glauben und dem Staat gegenüber misstrauischer sind, als es bei nicht | |
Eingewanderten der Fall ist. (Warum es ein Tabu sein soll, das zu sagen, | |
keine Ahnung.) Ändert es etwas daran, wie man dieses Problem löst? Ändert | |
es etwas daran, dass es dann erst recht mehrsprachige Kampagnen und eine | |
direkte Ansprache über vertraute Organisationen braucht? Ändert es etwas | |
daran, dass der beste Weg, Impfstoff zu diesen Menschen zu bringen, der | |
direkte Weg über mobile Impfzentren ist? | |
Klar, wir können weiter darüber diskutieren, wie impfskeptisch | |
Migrant*innen sind. Wir können weiter über ideologische Fragen reden. | |
Dann kriegen wir aber Ratschläge wie die von Joachim Herrmann: Jetzt | |
glaubts halt dem Verschwörungsschmarrn nicht und lassts euch impfen. Das | |
wird uns nur kaum weiterbringen. | |
Es geht nicht nur darum, dass eine Herdenimmunität erst erreicht ist, wenn | |
etwa 80 Prozent der Menschen geimpft sind. Dazu gehören auch eingewanderte | |
Menschen. Es geht vor allem darum, dass auch Migrant*innen ein Recht auf | |
Freiheiten haben – die Freiheit, andere Menschen zu treffen, die Freiheit, | |
zu reisen, die Freiheit, ihre Kinder sorgenlos in Schulen und Kitas zu | |
schicken. | |
Die Situation, in der wir gerade sind, kann entweder eine sein, in der wir | |
uns weiter voneinander entfernen und polarisierte Debatten führen. Oder wir | |
konzentrieren uns darauf, was uns verbindet: der Wunsch, dass wir alle bald | |
wieder in Freiheit und Würde leben können. Dazu sind wir alle aufeinander | |
angewiesen. Nur so versteht es vielleicht auch ein | |
Bundesgesundheitsminister, dass es nicht der „nächste“ Schritt sein kann, | |
Migrant*innen in die Impfkampagne miteinzubeziehen. Sondern dass es | |
eigentlich vorgestern hätte passieren müssen – aber spätestens jetzt. | |
Bitte keine Debatten mehr. Einfach machen. | |
16 May 2021 | |
## LINKS | |
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## AUTOREN | |
Gilda Sahebi | |
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