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# taz.de -- Engagement für Flüchtlinge: Verwurzelung mit Hindernissen
> Der Härtefallantrag einer Familie wird abgelehnt, weil sie angeblich
> keine Integrationsbemühungen zeigt. Das stimmt nicht, sagen
> Unterstützer*innen.
Bild: Deutsch lernen gilt als oberste Integrationspflicht. In der Pandemie ist …
Berlin taz | Wie bemisst man Integration? Wie soll eine alleinerziehende
Mutter dreier Kinder erfolgreich [1][einen Sprachkurs abschließen mitten in
der Pandemie]? Wie soll man heimisch werden, wenn man andauernd umziehen
muss? Wie kann man eine Frau in ein Land abschieben, in dem ihre Kinder
durch Blutrache bedroht sind?
Der Fall der Familie Llapushi aus Albanien bewegt gerade viele Menschen in
dieser Stadt. Einige Dutzend Bürger*innen haben Briefe an Innensenator
Andreas Geisel (SPD) geschrieben, der es trotz einhelligen Votums der
Härtefallkommission abgelehnt hat, der Familie aus humanitären Gründen
Aufenthalt zu gewähren. Eine Unterstützer*innengruppe hat eine
Webseite eingerichtet ([2][bleiberechtllapushi.wordpress.com]), um über
Brunilda Llapushi und ihre Kinder sowie den Fortgang der
Bleiberechts-Kampagne zu berichten.
Monika Kadur, die seit Jahrzehnten in der Flüchtlingshilfe tätig ist und
den Fall in die Härtefallkommission einbrachte, hat Anfang der Woche gegen
Geisels Ablehnung remonstriert, also Einwände vorgebracht, um ihn doch noch
umzustimmen. Für sie bestehe kein Zweifel, dass es sich hier um einen
berechtigten Härtefall handelt, so Kadur zur taz. „Die Frau wurde von
Kindheit an von Gewalt verfolgt.“
Brunilda Llapushi wurde seit ihrem 11. Lebensjahr von der Mutter
missbraucht, mit 14 zur Heirat gezwungen. So erzählt es ihre Freundin
Courtney O’Connell, die drei Jahre lang Kinder- und Jugendbetreuerin in
einer Gemeinschaftsunterkunft in Karow war, wo sie Llapushi kennenlernte.
„Brunilda hat schnell Englisch gelernt, so konnten wir uns unterhalten,
auch ihre Kinder waren sehr aufgeschlossen.“ Aus dem Betreuungsverhältnis
sei bald Freundschaft geworden, sagt O’Connell, die sich seit 2015 mit
ihrem Verein „Schön dass Ihr da seid!“ für Flüchtlinge engagiert und nun
die Kampagne für die Llapushis organisiert.
## Sohn mit Blutrache gedroht
2006, mit 17 Jahren, zog Llapushi mit ihrem Mann nach Griechenland, brachte
drei Kinder zur Welt. Mutter und Kinder seien wiederholt physischer Gewalt
durch den Mann ausgesetzt gewesen, so O’Connell. 2015 ermordete der Ehemann
einen Mann. Brunilda kooperierte mit der Polizei, sodass ihr Mann verhaftet
werden konnte, aber die Familie des Mordopfers drohte ihrer Familie, vor
allem dem Sohn, mit Blutrache.
„Brunilda hatte in Griechenland Aufenthaltsrecht und Arbeit, sie wollte
dort nicht weg! Aber sie mussten fliehen, weil ihre Kinder wiederholt auf
dem Schulweg verfolgt wurden, sie selbst wurde verprügelt“, erzählt
O’Connell. Sie sei nach Deutschland geflohen, „weil sie dachte, dass dieses
Land die Menschenrechte respektiert und eine Infrastruktur hat, die einer
alleinerziehende Frau mit drei Kindern unter 12 Schutz bieten kann“.
Im Juni 2019 kam die Familie über Frankfurt/Main nach Berlin. Seither
musste sie fünf Mal umziehen, vom Ankunftszentrum in Reinickendorf nach
Kreuzberg, wo die Kinder eingeschult wurden, dann nach Lichtenberg,
schließlich nach Karow, wo sie 14 Monate bleiben konnten. „Die Kinder
fuhren Monate lang weiter nach Kreuzberg, weil sie die Schule dort so
geliebt haben“, erzählt O’Connell, schließlich seien sie aber doch
umgemeldet worden.
In Karow sei die Familie „sehr gut integriert“ gewesen, habe sich mit
anderen Familien befreundet und die sozialen Angebote – von Ausflügen über
Computerkurse bis zum Frauen- und Sprachcafé – sehr begeistert
wahrgenommen. Auch lernte Brunilda einen neuen Mann kennen, der ihren
Kindern, so O’Connell, „wie ein Vater ist und der Familie eine nie
dagewesene Stabilität gibt“.
## Homeschooling im Container
„Sie waren sehr glücklich“, erzählt die US-Amerikanerin. Aber dann wurde
das Heim geschlossen, fast alle Familien kamen in ein neues Heim nach
Weißensee, nur die Llapushis nicht, sie mussten nach Hohenschönhausen. Für
die Kinder ein Schlag, so O’Connell, „sie vermissten ihre Freunde und
sollten wieder die Schule wechseln“.
Dazu kam der Lockdown ab März 2020: Brunildas Deutschkurs, in dem sie laut
ihrer Freundin schnell Fortschritte machte, brach ab, [3][die Kinder
mussten ins Homeschooling], was in einem Container mit einer Wohnfläche von
15 Quadratmeter wirklich eine Herausforderung sei, betont O’Connell.
„Trotzdem hat die älteste Tochter Risida die Deutschabschlussprüfungen der
Willkommensklasse bestanden“, erzählt sie.
Doch in der Zwischenzeit wurde der Asylantrag von Brunilda Llapushi
abgelehnt. Albanien gilt als „sicheres“ Herkunftsland, da haben Anträge so
gut wie keine Chance. Ihre Geschichte sei nicht geglaubt worden, sagt
Monika Kadur. „Dabei ist Blutrache eine gängige Form der Auseinandersetzung
in Albanien, und die Behörden sind offenbar machtlos dagegen.“
Für Llapushi, die unter einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet
mit extremen depressiven Episoden und deswegen in Therapie ist, ein harter
Schlag. Zumal ihr Freund Aaron, von dem sie inzwischen ein Kind erwartet,
selber nur eine Duldung hat und die Familie bei einer Abschiebung nicht
begleiten könnte.
## Unrealistische Forderung
O’Connell und andere Unterstützer*innen reichten im Oktober eine
Petition im Abgeordnetenhaus ein, als die abgelehnt wurde, stellte Kadur
den Härtefallantrag. Den lehnte Geisel am 8. Februar ab. Begründung: „Die
psychisch kranke, erneut schwangere Mutter von 3 minderjährigen Kindern hat
während ihres sehr kurzen Aufenthalts von 1 ½ Jahren im Bundesgebiet keine
Integrationsbemühungen oder auch nur -ansätze nachweisen können.“ Wegen der
kurzen Zeit habe auch keine „Verwurzelung der Kinder“ stattgefunden.
Eine „Beleidigung“ sei diese Antwort, findet O’Connell. Die Familie habe
trotz aller Widrigkeiten mit ständigen Umzügen, Schulwechseln und Lockdown
„sehr viel erreicht“, die Kinder gingen mit Erfolg zur Schule, die Mutter
besuche einen Sprachkurs, sei Mitglied einer Kirchengemeinde geworden,
helfe, wo sie könne. Sie fragt: „Mit welchem Maßstab wird Integration
gemessen? Die Familie will Teil dieser Gesellschaft sein, warum lässt man
sie nicht?“
Auch Kadur findet Geisels Argument „unrealistisch“, wie sie sagt.
„Integrationsbemühungen bedeutet nach deutschem Maßstab dokumentierte
Bemühungen, also ein Sprachkurs-Zertifikat. Aber wie hätte sie das
erreichen können?“ Die Kurse seien ja zwischenzeitlich geschlossen gewesen,
zudem habe Brunilda nur wenige Jahre Schulbildung genossen. „Aber laut
ihrer Lehrerin versucht sie sehr engagiert zu lernen.“
Auch die Kinder, findet Kadur, „haben gut eingeschlagen in der Schule trotz
der vielen Wechsel und damit hohe Anpassungsfähigkeit und Flexibilität
gezeigt“. Zudem habe die Familie trotz ihrer relativ kurzen Zeit in Berlin
offenkundig viele Freunde und Unterstützer gefunden, die sich für ihr
Bleiben engagieren. „Das sollte auch zu denken geben.“
4 Mar 2021
## LINKS
[1] /Gefluechtete-in-Corona-Krise/!5685897
[2] https://bleiberechtllapushi.wordpress.com/
[3] /Lockdown-in-der-Fluechtlingsunterkunft/!5748266
## AUTOREN
Susanne Memarnia
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