# taz.de -- Lockdown in der Flüchtlingsunterkunft: Schulkinder ohne Anschluss | |
> Rafaela kann nur nachts lernen. Drittklässlerin Mina vergisst ihr | |
> Deutsch. Die Bildung vieler geflüchteter Kinder bleibt auf der Strecke. | |
Bild: Das Internet soll die Schule nach Hause bringen. Aber was ist, wenn es da… | |
BERLIN taz | Rafaela kann ihr Glück kaum fassen. Nach einem Jahr in einer | |
Willkommensklasse für zugewanderte Schüler*innen hat sie die | |
Deutschprüfung im Hörverstehen, Lesen und Schreiben bestanden. Das hatte | |
die 14-Jährige nicht erwartet. „Ich dachte, das ist zu schwer für mich“, | |
erzählt Rafaela mit lachender Stimme am Telefon. Wenn sie nach dem Lockdown | |
auch noch die Prüfung im Sprechen erfolgreich absolviert, steht dem | |
Übergang in die Regelklasse nichts mehr im Weg. In die siebte Klasse soll | |
sie gehen. | |
Für die Prüfung lernte Rafaela nachts. Es ist die einzige Zeit, in der sie | |
ihre Ruhe hat. Ihre fünfköpfige Familie teilt sich zwei Zimmer in einer | |
Berliner Geflüchteten-Sammelunterkunft. Im Lockdown-Alltag heißt das: Sie | |
macht Unterricht am Küchentisch, während die anderen dort frühstücken, | |
kochen, spielen. Ihre beiden jüngeren Geschwister sind jetzt auch zu Hause, | |
der Lautstärkepegel steigt. „Sie machen Lärm, sodass ich nach ein paar | |
Stunden alles wieder vergesse, was ich im Unterricht gelernt habe“, sagt | |
Rafaela, deren Nachname hier zu ihrem Schutz nicht auftauchen soll. Ihre | |
Methode: „Wenn sie schlafen gehen, mache ich die Bücher wieder auf und lese | |
weiter.“ | |
## Mangelware Internetzugang | |
Zehntausende Kinder und Jugendliche im Asylverfahren leben wie Rafaela in | |
einer Sammelunterkunft. Geschlossene Schulen im Lockdown bedeuten für sie, | |
das Unmögliche möglich zu machen. Denn eine lernförderliche Umgebung sind | |
die Unterkünfte nicht, wie eine erst im Dezember veröffentlichte Studie des | |
[1][Ifo-Instituts] ergibt. Demzufolge haben nur 56 Prozent der unter | |
18-Jährigen in Sammelunterkünften einen Internetzugang; 40 Prozent Zugang | |
zu einem PC, den aber lediglich 14 Prozent alleine nutzen können. Über | |
einen eigenen Schreibtisch verfügen gerade einmal 32 Prozent der befragten | |
Kinder und Jugendlichen. | |
Hinzu kommt die Enge der Heime. Vielerorts sind die ohnehin raren | |
Gemeinschaftsräume oder Kinderrückzugsräume pandemiebedingt geschlossen. | |
Kommt noch ein Covid-19-Fall in der Einrichtung hinzu, befinden sich | |
schnell alle Bewohner*innen in Quarantäne. | |
„Ich fühle mich hier wie im Gefängnis“, berichtet Samaneh Karimi. Die | |
alleinerziehende Mutter wohnt mit ihren beiden Töchtern Mina und Negar in | |
einer Gemeinschaftsunterkunft in Hannover. Ihren echten Namen und den ihrer | |
Kinder möchte sie nicht in der Zeitung lesen. „Schon sechs Monate war Mina | |
nicht richtig in der Schule“, sorgt sich die Mutter am Ende der | |
Weihnachtsferien. „Mina spricht zu Hause nur Persisch, sie vergisst das | |
Deutsch jetzt wieder.“ „Zu Hause ist es langweilig und ich fühle mich nicht | |
so gut. In der Schule macht es mehr Spaß“, das findet auch Mina. Der | |
Matheunterricht gefällt ihr am besten. Und sie liest gerne, ihr | |
Lieblingsbuch: Anna wünscht sich einen Hund. | |
Jeden Montag bekommt die Drittklässlerin einen Wochenplan. „Manche Aufgaben | |
kann ich nicht lösen“, erzählt Mina, „vielleicht weiß meine Mutter es au… | |
nicht“. „Sowieso weiß ich es nicht“, wirft Samaneh Karimi lachend ein, | |
„Mina hat viele Fragen zu Artikeln, die ich nie beantworten kann, jedes Mal | |
rufe ich jemand an oder gehe zu den Securities.“ Beim Wachpersonal arbeitet | |
eine Frau, die immer sehr nett ist, berichtet Karimi. Jetzt sei sie zur | |
Ansprechpartnerin für Grammatikfragen geworden. Und das Büro der Securities | |
sei der einzige Ort im Heim mit einem Internetzugang. | |
Gerade, als die vierjährige Negar sich an die Kita gewöhnt und Karimi eine | |
Deutschschule für sich gefunden hatte, kam der Lockdown. Jetzt bleibt Negar | |
zu Hause. Mutter Karimi sorgt sich um ihre kleine Tochter, die starke | |
Hautprobleme hat. Das sei der Stress, da könne man nichts machen, außer aus | |
dem Heim auszuziehen, riet ihr der Hautarzt. Der Arzt solle dem Kind | |
Medikamente verschreiben, erwiderte das Sozialamt. | |
## Folgen: depressive Symptome und aufbrechende Traumata | |
Wie weitreichend die Konsequenzen der Pandemie für die Gesundheit der | |
Kinder in Sammelunterkünften sind, davon erzählt auch Psychotherapeutin | |
[2][Janina Meyeringh]. Sie beobachtet, dass depressive Symptome zunehmen | |
und Traumata wieder aufbrechen. „Gerade in der Therapie | |
schwersttraumatisierter Kinder arbeiten wir viel damit, Strukturen zu | |
finden: Wie kann ich damit umgehen, wenn Gedanken hochkommen? Das | |
funktioniert ganz viel über Ablenkung“, erklärt sie. Wenn mit den | |
Schulschließungen die Tagesstruktur wegbreche und plötzlich ganz viel Zeit | |
übrig sei, falle diese Möglichkeit weg. Schon in normalen Ferien brächen | |
viele Kinder zusammen. | |
Als Orte, an denen sehr viele Menschen unfreiwillig auf wenig Raum und ohne | |
Privatsphäre und Rückzugsmöglichkeit zusammenleben, wirkten | |
Sammelunterkünfte auch ohne Pandemie konflikt- und gewaltfördernd, | |
konstatiert Laura Müller vom [3][Flüchtlingsrat Niedersachsen]. Seit Jahren | |
fordern Geflüchtete und NGOs deshalb eine dezentrale Unterbringung in | |
Wohnungen. In der Pandemie spitzt sich die Situation zu: Derzeit | |
berichteten Sozialarbeiter*innen aus den Einrichtungen, dass | |
familiäre Konflikte und häusliche Gewalt zunähmen, so Müller. | |
Auch zeigt sich während der Pandemie, wie sehr das Schulsystem auf | |
Lehrkräfte, Ehrenamtliche und engagierte Geflüchtete setzt, um | |
Bildungsungerechtigkeit zu mindern. Zum Beispiel auf Menschen wie die | |
20-Jährige Alyamama. Sie ist mit ihrer Familie aus Syrien geflohen, seit | |
drei Jahren lebt sie in Deutschland. Die Asylanträge der Familie wurden | |
positiv entschieden, doch die Wohnungssuche war bislang erfolglos. So leben | |
sie weiterhin im Heim in Berlin, zu acht in zwei Zimmern. | |
## Ein iPad für vier Geschwister | |
Alyamama möchte ihr Abitur nachholen und später Medizintechnik studieren. | |
Unterstützt wird sie darin vom Beratungs- und Betreuungszentrum für junge | |
Geflüchtete und Migrant*innen in Berlin. Jetzt, wo die Bibliotheken | |
geschlossen sind und ihre vier jüngeren Geschwister im Homeschooling | |
betreut werden müssen, lernt Alyamama dann, wenn die Familie schon schläft. | |
Tagsüber begleitet sie Angehörige zum Arzt, hilft bei Mathe-Übungen und | |
kompliziert formulierten Arbeitsblättern. Denn wie in vielen anderen | |
Unterkünften fallen hier Unterstützungsangebote wie die | |
Hausaufgabenbetreuung pandemiebedingt weg – entweder, weil die häufig | |
ehrenamtlichen Rentner*innen selbst zur Risikogruppe gehören oder sie | |
die Unterkünfte nicht mehr betreten dürfen. | |
Das einzige iPad der Familie wird gerecht aufgeteilt: Jedes Kind darf eine | |
Stunde damit lernen, dann ist der nächste dran. „Wenn einer von uns | |
Onlineunterricht hat, sind alle anderen ganz still, so einfach“, erklärt | |
Alyamama. Aber auch: „Es ist sehr schwer, ich bin sehr müde“. | |
Nicht jedes Kind kann auf Hilfe aus der Familie setzen. „Ohnehin | |
benachteiligte Schüler*innen werden einfach abgehängt“, konstatiert | |
Laura Müller vom Flüchtlingsrat Niedersachsen. Eine Umfrage unter Berliner | |
Lehrer*innen von Willkommensklassen nach dem ersten Lockdown ergab, dass | |
sie die Kinder zwar erreichten, Unterricht aber nicht möglich war. Maximal | |
konnten Arbeitsblätter ausgegeben oder zu den Unterkünften gebracht werden. | |
Schon im Juli forderten die Lobbyverbände die Landesregierungen dazu auf, | |
die digitale Infrastruktur in den Unterkünften auszubauen sowie geeignete | |
Lernräume und Unterstützungsangebote zu schaffen. | |
Einige Länder, darunter Berlin, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, | |
Baden-Württemberg und Hessen erklärten in einer taz-Umfrage, dass sie das | |
WLAN-Netz in den von ihnen betriebenen Unterkünften seit Pandemiebeginn | |
ausbauen oder dessen Ausbau anstreben. Bundesländer wie etwa Thüringen, | |
Schleswig-Holstein, Berlin oder Mecklenburg-Vorpommern hätten ihre | |
Unterkünfte mit Wlan versorgt, so die zuständigen Ministerien und | |
Landesämter – allerdings nicht überall im Wohnbereich. | |
Für die Unterbringung von Familien mit minderjährigen Kindern sind in den | |
Flächenländern allerdings nach spätestens sechs Monaten die Kommunen | |
zuständig. Wie es in deren Sammelunterkünften mit der WLAN-Versorgung | |
aussieht, konnten die meisten von ihnen auf taz-Anfrage nicht beantworten. | |
Lediglich in Sachsen-Anhalt weiß man, dass ganze 5 der 30 Sammelunterkünfte | |
über WLAN verfügen. | |
Von einer flächendeckenden WLAN-Versorgung sind die deutschen | |
Sammelunterkünfte in jedem Fall weit entfernt. Laut Informationen der | |
Flüchtlingsräte existiert WLAN in vielen Heimen wenn, dann nur in | |
Gemeinschaftsräumen oder an einigen Hotspots. So etwa in Baden-Württemberg | |
– allerdings nur, weil Ehrenamtliche mobile Freifunk-Router installiert | |
hätten. Auch in Hessen und Niedersachsen komme in den bekannten | |
Unterkünften bisher nichts von etwaigen Ausbauplänen an. In | |
Mecklenburg-Vorpommern gebe es zwar in allen Unterkünften vom Bundesland | |
finanziertes WLAN, in manchen jedoch nur in Gemeinschaftsräumen, was | |
wiederum für Homeschooling im Lockdown nur bedingt hilft. Zudem würden | |
anerkannte Geflüchtete, die noch keine eigene Wohnung gefunden haben, | |
häufig in Obdachlosenunterkünften untergebracht, so der Berliner | |
Flüchtlingsrat. In Berlin gebe es dort meist kein Wlan. | |
## Bundestagsabgeordnete fordern Hilfen | |
„Dass Menschen in Gemeinschaftsunterkünften auch 2021 noch keinen Zugang zu | |
stabilen Internetverbindungen haben, ist ein genauso unhaltbarer Zustand | |
wie die Ausstattung in vielen Schulen selbst“, konstatiert [4][Filiz | |
Polat], Sprecherin für Migrations- und Integrationspolitik der Grünen im | |
Bundestag. „Wer keinen Zugang zu funktionsfähigen PCs oder Tablets hat, | |
sollte entsprechende Leihgeräte zur Verfügung gestellt bekommen“, fordert | |
Polat. Der Bund müsse Länder und Kommunen adäquat unterstützen. | |
Es sei „ein Unding“, dass Probleme wie fehlender Zugang zu WLAN noch immer | |
bestünden, kritisiert auch [5][Ulla Jelpke], innenpolitische Sprecherin der | |
Linken. „Ich erwarte von den Ländern, dass sie Abhilfe schaffen, indem | |
Unterkünfte für Geflüchtete endlich flächendeckend mit WLAN ausgestattet | |
und den Schülerinnen und Schülern notwendige Arbeitsgeräte und | |
Infrastruktur zur Verfügung gestellt werden“, so Jelpke. Solange es kein | |
WlAN gebe, müssten die betroffenen Kinder SIM-Karten mit ausreichendem | |
Guthaben erhalten. | |
Doch selbst wenn WLAN und digitale Endgeräte zur Verfügung stehen – die | |
Enge der Unterkünfte wird das nicht nehmen. „Ich wünsche mir, dass wir | |
nicht mehr im Heim leben“, sagt die achtjährige Mina. Ein Wunsch, den | |
Alyamama und Rafaela nur allzu gut nachvollziehen können. „Wir haben immer | |
im Heim gewohnt“, sagt Rafaela, „Ich hatte noch nie ein eigenes Zimmer, | |
aber ich wünsche es mir so sehr“. Ihre Mutter ist jetzt schwanger. „Ich | |
hoffe so sehr, dass das Baby nicht im Heim aufwachsen muss.“ | |
Anmerkung der Redaktion: Seit dem 1.2.2021 sind die Jobcenter und | |
Sozialämter von der Bundesagentur für Arbeit angewiesen, Mehrbedarfe für | |
digitale Endgeräte für den Schulunterricht zu bewilligen. Zwei betreffenden | |
Absätze zur vorherigen Situation, die in einer früheren Version dieses | |
Textes standen, wurden deshalb entfernt. | |
2 Feb 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.ifo.de/ | |
[2] https://xenion.org/janinameyeringh/ | |
[3] https://www.nds-fluerat.org/ | |
[4] https://www.filiz-polat.de/ | |
[5] https://www.ulla-jelpke.de/ | |
## AUTOREN | |
Franziska Schindler | |
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