# taz.de -- Geflüchtete auf Lesbos: Mahnmal im Mittelmeer | |
> Auf der griechischen Insel Lesbos blickt man ratlos auf den beschlossenen | |
> europäischen Asylpakt. Derweil wird ein Friedhof zum Symbol für | |
> Menschlichkeit. | |
LESBOS taz | Das letzte Grab, Nummer 197, ist noch frisch, ein Haufen | |
brauner Erde im Gras. Eine alte Frau aus Syrien liegt hier begraben, sie | |
floh mit ihrer Familie und starb vor einer Woche. Bald schon wird Sohrab | |
Shirzad ein richtiges Grab daraus machen: heller Beton, weißer Kies, ein | |
Grabstein. So wie bei den anderen 196 Gräbern. Und bei denen, die noch | |
kommen werden. | |
Shirzad floh aus [1][Afghanistan] hierher, ein junger Mann mit schwarzen | |
Locken, breitem Lachen, an diesem Frühlingstag Ende April hat er sein Kind | |
mitgebracht, er trägt es auf den Schultern, läuft zwischen den Gräbern | |
umher und zeigt auf seinem Handy Bilder davon, wie es hier noch vor Kurzem | |
aussah. „Wir mussten alles planieren, das war das Schwerste“, sagt Shirzad. | |
Ein Jahr hat er an diesem Friedhof gearbeitet, hat andere Geflüchtete aus | |
dem Lager auf der Insel hierher gebracht, sie haben gemäht, Schutt | |
abgeräumt, einen Zaun gezogen, Wege angelegt, über jedes Grab eine Platte | |
gegossen. | |
Seit Jahren werden die [2][toten Migrant:innen auf Lesbos] auf diese | |
Lichtung in den weiten Olivenhainen, nahe der Inselhauptstadt Mytilini, | |
gebracht. Es ist nicht lange her, da wurden sie eher verscharrt als | |
bestattet, meist anonym, zwischen Müll und Schutt. Schon nach kurzer Zeit | |
überwucherte das Gras alles, statt Grabsteinen gab es manchmal nur ein mit | |
Filzstift beschriebenes Brett. | |
Ein „Mahnmal für die Menschheit“ soll der Friedhof sein, schreibt der | |
Verein Earth Medicine, der hinter der Umgestaltung steckt. An diesem | |
Mittwoch im April wird er eröffnet, es ist warm, aber der Himmel ist grau, | |
es riecht nach Thymian. Greifvögel kreisen über den Olivenbäumen, etwa 50 | |
Menschen sind gekommen: Helfer:innen, Geflüchtete, Journalist:innen. In | |
einer Kiste liegen Dutzende rote Rosen aus Plastik, die Gäste nehmen sie, | |
laufen umher, legen sie auf den Gräbern ab. „Sie kommen für ein neues | |
Leben, für eine neue Chance“, sagt Shirzad zu Reportern. Es schmerze ihn, | |
dass die Flüchtlinge im Meer ertrinken. | |
In Würde trauern können sei „essenzieller Teil des Menschseins“, sagt eine | |
Rednerin. Wer anderen diese Möglichkeit nehme, „entmenschlicht erst die | |
anderen und dann sich selbst“. Der neue Friedhof, sagt Shirzad, mache ihn | |
glücklich: „Es ist viel besser so.“ | |
Keine griechische Insel liegt näher am türkischen Festland als Lesbos, auf | |
keiner kommen mehr Geflüchtete an. Seit Jahren ist das so, und seit Jahren | |
sterben Menschen auf dem Weg hierher, im letzten Jahr waren es im Schnitt | |
zwei pro Tag. Viele ertrinken, andere sterben im Lager. | |
2017 hat der Mainzer Arzt Gerhard Trabert das Gräberfeld erstmals besucht. | |
Damals lagen hier 87 Menschen „im Nirgendwo verscharrt“, wie Trabert | |
schrieb. Seither arbeitete er mit lokalen Gruppen daran, ihnen eine letzte | |
Ruhestätte zu geben. 2022 war Trabert parteiloser Kandidat für die Linke | |
bei der Wahl des Bundespräsidenten, jetzt steht er auf der Linken-Liste für | |
die EU-Wahl im Juni. Gesundheit, Würde für die Armen, die Ausgegrenzten, | |
das ist sein Thema. Immer wieder ist Trabert auf die Insel gereist, über | |
20.000 Euro an Spenden flossen in das Friedhofsprojekt. Zweieinhalb Jahre | |
haben sie mit der Kommune verhandelt, bevor der Verein ihn umgestalten | |
durfte. Im November widmete die Süddeutsche Zeitung den Schwierigkeiten, | |
die die lokale Verwaltung dabei machte, eine ganze Seite. | |
Jetzt aber liegen auf einem Pult, das auf dem Gräberfeld aufgestellt ist, | |
Kästen aus blauem Samt bereit: kleine Präsente, eines für den Vertreter der | |
Stadt, der auch gekommen ist. Trabert trägt schwarze Hose, schwarzes Hemd, | |
die Ärmel hochgeschlagen. „Die Kommune hat oft keine Aufzeichnungen, wer | |
hier begraben liegt“, sagt er. Sein Verein will nun selber Nachforschungen | |
anstellen und möglichst viele der Identitäten noch klären. | |
Trabert hat einen Posaunisten aus Deutschland eingeladen, am Morgen hat er | |
ihn am Flughafen abgeholt, jetzt stehen sie nebeneinander. Der Posaunist | |
bläst, die Gäste erheben sich zu einer Schweigeminute. | |
Es sei eine Pflicht, Menschen auf ihrer Flucht vor Krieg, | |
Umweltkatastrophen und existenziell bedrohlicher Armut zu schützen, sagt | |
Trabert dann. „Es ist aber auch unsere Pflicht, verstorbenen Flüchtlingen | |
eine respektvolle und würdevolle Bestattung zu ermöglichen.“ Vor wenigen | |
Tagen, erinnert Trabert, [3][hat das europäische Parlament den Asylpakt | |
Geas] beschlossen. Mit der heutigen Gedenkfeier wolle er „ein Zeichen | |
gegen diese unmenschliche Asylpolitik in Europa setzen“. | |
Das Geas zielt vor allem darauf, die Art zu verändern, wie mit den Menschen | |
an den Außengrenzen umgegangen wird. Es soll die Migration in die EU | |
deutlich erschweren. Viele Ankommende sollen interniert und nach | |
Schnellverfahren direkt wieder abgeschoben werden, ohne offiziell überhaupt | |
eingereist zu sein. | |
Wer mit Helfer:innen und Ärzt:innen auf der Insel spricht, hört | |
düstere Prognosen: längere Haft, schlechterer Zugang zu Hilfsangeboten, | |
traumatisierende Bedingungen für Kinder. Was wird sich ändern, auf dieser | |
Insel, die durch ihre Lage eines der wichtigsten Tore für Menschen nach | |
Europa ist? | |
„Ich habe keine Ahnung“, sagt Dimitrios Kantemnidis. Seit zwei Jahren | |
leitet er das Flüchtlingslager Kara Tepe auf Lesbos, ein | |
Ex-Marinekommandant, der auf der Insel geboren ist. „Ich habe die | |
EU-Kommission und unsere Justiziare gefragt, sie sollen uns erklären, was | |
sich durch das Geas ändert“, sagt er. Bisher aber ändere sich nichts. | |
Als er anfing, waren alle paar Tage Journalist:innen oder | |
Politiker:innen da, jetzt hatte er schon über drei Monate keinen | |
solchen Besuch mehr. Ein Berater des Innenministers sitzt während des | |
Interviews mit im Containerbüro. | |
6.500 Menschen leben heute in den grauen Containern auf einem alten | |
Truppenübungsplatz am Südrand der Insel, direkt am Wasser. 85 Prozent von | |
ihnen kommen aus nur drei Ländern: Afghanistan, Eritrea und Syrien. „300 | |
Ankommende schaffen wir pro Tag, in Krisenzeiten können wir auf 500 | |
hochfahren“, sagt Kantemnidis. Im vergangenen Sommer gab es einen „extremen | |
Anstieg“, derzeit aber kämen kaum Menschen an. | |
Liegt es an den Pushbacks der Küstenwache, die NGOs wie Ärzte ohne Grenzen | |
(MSF) und viele andere seit Langem anprangern? | |
„Das kann ich nicht kommentieren, ich spreche für den Staat, nicht für | |
MSF“, sagt Kantemnidis. Werden die Flüchtlinge auf dem Meer öfter | |
abgedrängt, um das Lager nicht wieder voll werden zu lassen? „Über so etwas | |
Hypothetisches kann ich nicht reden“, sagt er. | |
Die türkische Regierung ist etwas offenherziger. Auf der Website der | |
türkischen Küstenwache ist zu lesen, wie viele Boote Richtung Griechenland | |
sie aufhält – fein aufgeschlüsselt nach Tagen. 410 Boote waren es allein in | |
den ersten drei Aprilwochen. Die Spannungen zwischen der Türkei und | |
Griechenland, die sich zuletzt Ende 2022 im Konflikt um Gasfelder zwischen | |
Libyen und Kreta zugespitzt hatten, haben sich wieder beruhigt. Und wie zu | |
hören ist, hat Deutschland bei den Vermittlungen eine zentrale Rolle | |
gespielt. Jetzt jedenfalls kooperiert Ankara zumindest in Migrationsfragen | |
und stoppt viele Flüchtlingsboote. | |
NGOs wie das Border Violence Monitoring Network berichten von physischer | |
Gewalt bei den Pushbacks, allerdings vor allem durch die griechische | |
Küstenwache. Flüchtlinge berichteten demnach, dass ihnen alle | |
Habseligkeiten gestohlen oder sie gar auf Schwimmkörpern auf dem Meer | |
ausgesetzt wurden und die Küstenwächter danach Wellen erzeugten, so dass | |
sie zu kentern drohen. | |
Sicherheitsdienste und Polizei bewachen das Camp in Kara Tepe, zwei Dutzend | |
NGOs dürfen drinnen Projekte betreiben. „Sie sind wirklich eine große | |
Hilfe“, sagt Kantemnidis, der Lagerleiter. Psychologische und | |
Schwangeren-Versorgung, Unterkünfte, Wasser, Duschen, um all diese Dinge | |
kümmern sich in Kara Tepe auch private Helfer:innen. „Das Einzige, was wir | |
noch bräuchten, wäre eine NGO für LGBTIQ-Support“, meint Kantemnidis. Doch | |
viele der Helfer:innen finden schon jetzt, dass sie Lücken füllen | |
müssen, für die eigentlich der Staat zuständig ist. | |
Kantemnidis erzählt, wie er dafür sorgen will, dass die Kinder im Camp mehr | |
Unterricht bekommen. Er berichtet von Jobmessen, die er im Lager | |
veranstaltet. Zwei Monate nach Ankunft in Griechenland dürfen die | |
Asylsuchenden arbeiten. „In den Hotels und bei den Olivenbauern gibt es | |
eine riesige Nachfrage“, sagt Kantemnidis. Ein Hotelmanager allein habe gar | |
400 Arbeitskräfte gesucht. „Wir brauchen hier viel mehr Qualifizierung“, | |
sagt er. | |
Schon bald aber könnte es viel schwieriger werden, auf Lesbos Flüchtlinge | |
einzustellen. Das Lager Kara Tepe ist offen, die Menschen dürfen raus. Der | |
europäische Asylpakt soll das bald ändern. | |
Kara Tepe ist ein Provisorium. Der Vorgänger war ein Lager namens Moria, | |
eröffnet 2014 und schon bald darauf ein Symbol für alles, was in Europas | |
Flüchtlingspolitik falsch läuft: Moria war überfüllt, chaotisch, | |
gefährlich, menschenunwürdig. Es gab Tote und immer wieder Feuer, bis das | |
Lager vor knapp vier Jahren, im September 2020, in einer einzigen Nacht | |
niederbrannte und die 13.000 Insass:innen nach Kara Tepe, in das Lager | |
von Dimitrios Kantemnidis, umgesiedelt werden mussten. | |
„Moria ist eine deutliche Mahnung“, sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula | |
von der Leyen (CDU). Eine von ihr eigens eingesetzt Taskforce werde auf | |
Lesbos ein „Pilotprojekt für ein Aufnahmezentrum errichten“ und zeigen, | |
dass „Europa die Migration auf humane und effektive Weise steuert“. | |
Auf den Trümmern von Moria sollte also ein Modellprojekt für das Geas | |
entstehen. Doch dazu kam es bisher nicht. Fast eine Autostunde über | |
Buckelpisten entfernt baut die Regierung seit Jahren am neuen Camp Vastria: | |
Ein Internierungslager, das ist dieses „Aufnahmezentrum“ de facto, mitten | |
im Wald. Sieben Stunden sind es zu Fuß nach Mytilini. Längst hätte das eher | |
provisorische Kara Tepe geschlossen und durch das neue Hochsicherheitslager | |
Vastria ersetzt werden sollen, um Geas möglichst bald nach dem Beschluss im | |
EU-Parlament, der schließlich am 10. April auch erfolgte, umzusetzen. | |
## 120.000 Haftplätze europaweit | |
Doch die Eröffnung des neuen Lagers wurde immer wieder verschoben. Wasser | |
und Elektrizität machen Probleme, vor allem aber ist es wohl der Unwille | |
der Inselbevölkerung. So bleiben die Menschen in Kara Tepe, und alles | |
bleibt beim Alten. Das Problem wird die EU noch öfter bekommen: Große | |
Internierungslager – 120.000 Haftplätze EU-weit sind für das Geas geplant �… | |
stoßen fast immer auf lokalen Widerstand. | |
Und so gehen die Dinge in Kara Tepe weiter ihren Gang. Die Asylinterviews | |
laufen meist per Videotelefonat. Der griechische Staat hat die Anhörungen | |
an Beamte der EU-Asylagentur EUAA ausgelagert. Sie empfehlen der | |
griechischen Asylbehörde ein Votum, diese entschiedet nach Aktenlage. | |
Früher haben die Menschen Jahre auf diese Entscheidungen gewartet, heute | |
sind es meist Monate. „Die meisten wollen von hier nach Norden. Wenn sie | |
Papiere bekommen, reisen sie direkt mit dem Flieger von der Insel zu ihren | |
Angehörigen“, sagt Kantemnidis. „Vorher hat es Jahre gedauert, jetzt sind | |
sie oft in 40 Tagen durch.“ | |
Doch das gilt bei Weitem nicht für alle. Wer über die Türkei nach | |
Griechenland kommt – und das sind fast alle –, dessen Asylantrag wird in | |
vielen Fällen abgelehnt. Die Türkei gilt als „sicher“, man habe dort Schu… | |
suchen können, so die Begründung. So sieht es auch das Geas vor. | |
Tatsächlich schiebt die Türkei Menschen in großer Zahl nach Afghanistan, | |
nach Syrien und in andere Konfliktregionen ab. | |
Wer in Griechenland abgelehnt wird, kann Widerspruch einlegen. Doch er | |
verliert nach kurzer Zeit die Ansprüche auf Lebensmittel, Wasser, das | |
Taschengeld von 75 Euro im Monat und auf Gesundheitsversorgung. Die | |
Abgelehnten werden komplett sich selbst überlassen, die griechische | |
Regierung will sie so dazu drängen, das Land zu verlassen. Die | |
EU-Kommission duldet diesen vollständigen Entzug der Sozialleistungen. | |
Eigentlich müssen die Abgelehnten auch ihren Schlafplatz im Camp räumen, | |
doch teils werden sie weiter dort geduldet. | |
Einer von ihnen ist Mohamut, ein junger Somali. Er ist lang aufgeschossen, | |
er spricht gutes Englisch, in Mogadischu hat er seiner Mutter geholfen, | |
Milch auf der Straße zu verkaufen. 2020, mit 18 Jahren, floh er gemeinsam | |
mit seiner Frau Kifah. Ihre Familien waren mit der Beziehung der beiden | |
nicht einverstanden. Von der Türkei aus versuchten sie, nach Griechenland | |
zu gelangen. Vier Mal schleppten Grenzschützer ihr Boot zurück. „Wir | |
mussten schwimmen, haben alles verloren, auch unsere Pässe“, sagt Mohamut. | |
Im Februar 2021 schließlich kamen sie auf Lesbos an, nur wenige Monate | |
später wurden ihre Asylanträge gemeinsam abgelehnt. Kifah war da gerade mit | |
dem ersten Kind schwanger. Im Dezember 2021 verloren sie die Ansprüche auf | |
Versorgung. Sie durften weiter im Camp schlafen, aber bekamen kein Geld, | |
kein Essen, kein Wasser mehr. | |
Eine österreichische Hilfsorganisation verteilt an Menschen wie sie ein Mal | |
pro Woche Lebensmittelrationen: ein Kilo Tomaten, Zwiebeln, zwei Kilo Reis, | |
zwei Kilo Nudeln. Eine andere Organisation verteilt Essen für Babys, | |
„manchmal packen sie etwas für Erwachsene dazu“, sagt Mohamut. Aber das | |
reiche nicht. | |
Mohamut läuft deshalb jeden Tag eine Stunde zu einem Sozialzentrum namens | |
Paréa, das der in Deutschland ansässige Verein Europe Cares nahe Mytilini | |
betreibt. Hier gibt es ein Mittagessen, Mohamut isst und lässt sich dort | |
die Portionen für seine Frau und die Kinder einpacken. Im Dezember immerhin | |
konnte die Familie aus dem Camp ausziehen. Das Welcome Office, eine lokale | |
NGO, mietete ein Apartment für die Familie. | |
Sie haben keine Pässe, deshalb kann Griechenland sie nicht abschieben. Die | |
Behörden haben ihnen nahegelegt, sich von der UN-Migrationsagentur IOM in | |
die Türkei oder zurück nach Somalia fliegen zu lassen. Aber sie fürchten | |
den langen Arm der Familie. „Wir können nicht zurück, das ist zu | |
gefährlich“, sagt Mohamut. | |
Auch Hasan W. und Sayed M. wollen nicht zurück. Sie gehören zu einer Gruppe | |
von sechs jungen Afghanen, denen die Behörden vorwerfen, Feuer in Moria | |
gelegt zu haben. Sie wurden im Juni 2021 in erster Instanz wegen | |
Brandstiftung mit Gefährdung von Menschenleben zu zehn Jahren Haft | |
verurteilt, obwohl der angebliche Kronzeuge nicht auffindbar war. | |
Dokumente, die ihre Minderjährigkeit zum Tatzeitpunkt belegten, wurden | |
nicht berücksichtigt. Erst in einem Berufungsverfahren räumte die Justiz | |
kürzlich die Relevanz dieses Umstands ein. Ein neues Verfahren vor dem | |
Jugendgericht soll nun folgen. | |
Und so sitzen Hasan W. und Sayed M. nun in einem kleinen Raum des Welcome | |
Office, eine Straße entfernt vom Hafen von Mytilini, und berichten von | |
ihrem Leben. Sie sprechen Dari, gehören der afghanischen Minderheit der | |
Hazara an. Beide weisen den Vorwurf, Feuer gelegt zu haben, kategorisch | |
zurück. | |
Hasan W. kam allein im September 2019 nach Lesbos, 16 Jahre war er da alt. | |
Ein Jahr lebte er im Camp, allein in einem Zelt, wie Tausende damals | |
außerhalb des eigentlichen Lagergeländes. „Am Abend des Brandes habe ich | |
mit meiner Schwester in Afghanistan telefoniert, etwa bis Mitternacht“, | |
sagt er. Dann habe er die Rufe gehört: „Komm raus“. Er sah das Feuer, habe | |
seine Sachen zusammengesucht, einer Nachbarsfamilie geholfen. | |
Sechs Tage sei er dann in Paréa gewesen, Tausende der | |
Lagerbewohner:innen flohen vor den Flammen dorthin. Am sechsten Tag | |
hätten Polizisten ihn auf die Wache gebracht. „Ich war dort mit vier oder | |
fünf Beamten plus einem Dolmetscher in einem Raum. Sie haben gesagt: ‚Es | |
gibt einen Zeugen, der hat gesehen, wie du das Feuer gelegt hast‘“, | |
berichtet Hasan W. | |
Er habe gefragt: „Wo ist er? Ich will wissen, wer das ist.“ Aber er habe | |
den Zeugen bis heute nie gesehen. Die Polizisten hätten ihm gedroht: „Gib | |
uns fünf, sechs Namen. Dann bekommst du eine geringere Strafe. Sonst musst | |
du 40 Jahre ins Gefängnis, wenn du uns Namen gibst, nur 20 Jahre.“ | |
## Hasan W. unterschrieb das Papier auf der Polizeiwache | |
Das Ganze habe etwa eine halbe Stunde gedauert, die Polizisten hätten ihn | |
geschlagen, er sollte ein Papier unterschreiben, auf Griechisch, erzählt | |
Hasan W. Er habe nicht gewusst, was darin stand. „Am Ende tat mir alles | |
weh.“ Hasan W. unterschrieb. Von dem Papier hat er bis heute nie wieder | |
gehört. | |
Sein Freund, Sayed M., berichtet exakt dasselbe: Auch er sei Tage nach dem | |
Brand auf der Insel von der Polizei aufgegriffen und auf der Wache | |
aufgefordert worden, andere Lagerbewohner zu beschuldigen. Man habe ihn | |
geschlagen und am Ende mit Gewalt gezwungen, ein Papier zu unterschreiben, | |
dessen Inhalt er nicht kannte. | |
Beide kamen in das Gefängnis von Avlona im Norden Athens, zusammen mit vier | |
anderen Beschuldigten. Insgesamt waren sie mit 25 Gefangenen in einer | |
Gemeinschaftszelle. | |
Einmal kam sein Anwalt zu Besuch, berichtet Hasan W. Die Familie schickte | |
einen Ausweis, der belegte, dass er zum Tatzeitpunkt minderjährig war. Doch | |
das Gericht erkannte das Dokument nicht an. Im Juni 2021 fiel das Urteil: | |
Zehn Jahre Gefängnis. | |
Hasan W. wurde in ein Gefängnis nahe Thessaloniki verlegt. Er musste | |
arbeiten, in einer Bäckerei, in der Küche. „Für jeden Tag Arbeit wurde | |
meine Haftstrafe um 3 Tage reduziert.“ | |
Insgesamt vier Mal hörte das Gericht sie an. „Letztlich wurde unser | |
Widerspruch vom Gericht akzeptiert“, sagt W. „Unsere Haftstrafe wurde | |
aufgehoben, es wurde anerkannt, dass wir damals minderjährig waren.“ | |
Im März 2024 wurde er entlassen und kam mit Sayed M. nach Lesbos. „Wir | |
müssen uns ein Mal pro Woche auf der Polizeistation melden, dürfen die | |
Insel nicht verlassen“, sagt er. Nun warten sie auf einen neuen | |
Gerichtstermin. | |
Bevor Dimitrios Kantemnidis, der Kommandant, das Lager auf der Insel | |
übernahm, promovierte er am Europäischen Sicherheits- und | |
Verteidigungskolleg in Brüssel, einer EU-Militärakademie. Wie der | |
Klimawandel Krisen und Flüchtlingswellen nach sich zieht – das war sein | |
Thema. „Wir diskutieren, als ob wir noch nicht verstanden haben, wie der | |
Klimawandel unser Leben verändern wird“, sagt Kantemnidis heute. Er glaubt, | |
dass die Migration nicht aufzuhalten sei. Das Beste, was man tun könne, sei | |
vor Ort, in den Herkunftsländern, möglichst umfassend zu helfen. „Wenn sie | |
zu Hause ‚bye bye‘ sagen und sich auf den Weg machen, kümmert sie nicht, | |
was der griechische Staat, die EU-Kommission oder ein Parlament beschlossen | |
haben oder ob wir Zäune aufstellen. Sie wollen einfach überleben.“ | |
Diese Recherche wurde von der Rosa-Luxemburg-Stiftung unterstützt. | |
24 Apr 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Schwerpunkt-Afghanistan/!t5008056 | |
[2] /Nach-Bootsunglueck-vor-griechischer-Kueste/!5938713 | |
[3] /Abstimmung-in-Bruessel/!6003964 | |
## AUTOREN | |
Christian Jakob | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Flucht | |
Asylpolitik | |
Abschiebung | |
Lesbos | |
Moria | |
Ursula von der Leyen | |
Literatur | |
Schwerpunkt Flucht | |
Schwerpunkt Europawahl | |
Großbritannien | |
Frontex | |
Ruanda | |
Schwerpunkt Flucht | |
Migration | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Roman über Fluchtroute Mittelmeer: Eine Kreuzfahrt mit Folgen | |
Frau aus der Mittelklasse trifft Geflüchteten: „Das Meer von unten“ von | |
Marie Darrieussecq ist eine große Erzählung über die Bedingungen von | |
Mitleid. | |
Weltflüchtlingsbericht des UNHCR: Fast 120 Millionen auf der Flucht | |
Der Bericht des UNHCR konstatiert für 2023 erneut stark gestiegene Zahlen | |
von Geflüchteten. Die Weltgemeinschaft hat keine Strategie, um diese | |
Zustände zu überwinden. | |
EU-Paket zur Asylpolitik: Reform für mehr Abschreckung | |
Jahrelang rang die EU um eine neue Asylpolitik. Menschenrechtler rechnen | |
mit mehr illegalen Pushbacks und einem kruden Geflecht an Sonderregeln. | |
Asylstreit zwischen Dublin und London: Zurück ins sichere Britannien | |
Seit dem britischen Ruanda-Plan suchen immer mehr Asylbewerber Zuflucht in | |
Irland. Die irische Regierung will das ändern – und legt sich mit London | |
an. | |
Wegen Verbrechen gegen Menschlichkeit: Klage gegen Ex-Frontex-Chef | |
Menschenrechtsorganisationen verklagen den Ex-Frontex-Mann und | |
Rassemblement-National-Politiker Fabrice Leggeri. Grund: seine Rolle bei | |
Pushbacks. | |
Reform des EU-Asylsystems: Drittstaaten-Deals und Abschreckung | |
Gegen Migration setzt die EU auf Lager an den Außengrenzen und | |
Kooperationen mit Transitländern. Manchen geht das nicht weit genug. | |
EU-Einigung auf Asylreform: Die grüne Flucht nach rechts | |
Die Neuordnung des EU-Asylsystems bedeutet für Flüchtlinge Inhaftierung und | |
mögliche Abschiebung in Kriegsgebiete. Es zwingt die Grünen zu | |
Verrenkungen. | |
Abstimmung in Brüssel: EU-Parlament stimmt für Asylreform | |
Lange war in der EU über die Reform gestritten worden. Jetzt sollen | |
schnellere Asylverfahren an den Außengrenzen kommen. Und ein | |
Solidaritätsmechanismus. |