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# taz.de -- Roman über Fluchtroute Mittelmeer: Eine Kreuzfahrt mit Folgen
> Frau aus der Mittelklasse trifft Geflüchteten: „Das Meer von unten“ von
> Marie Darrieussecq ist eine große Erzählung über die Bedingungen von
> Mitleid.
Bild: Beschreibt die Ungleichheit der Verhältnisse: Bestsellerautorin Marie Da…
Wer heute „White saviorism“ sagt, hat schon gewonnen. Allzu glatt schlägt
er meist durch, der Vorwurf, Weiße, die Schwarzen helfen, degradierten
diese zu handlungsunfähigen Subjekten, benutzten sie allein zur eigenen
moralischen Überhöhung. In ihrem neuen Roman „Das Meer von unten“ zeigt d…
französische Bestsellerautorin Marie Darrieussecq, wie wohlfeil und
schematisch der Vorwurf oft ist – und wie viel komplexer die Bedingungen
sind, unter denen praktische Solidarität entstehen muss.
Die parabelhafte Ausgangslage von Marie Darrieussecqs Erzählung ist eine
[1][Kreuzfahrt über Weihnachten auf dem Mittelmeer.] Eine Gruppe
Flüchtlinge wird an Bord genommen, die einen Schiffbruch vor Libyen
überlebt haben. Unter ihnen ist ein junger Nigrer namens Younés, unter den
Passagieren die baskische Psychologin Rose. Sie reist mit ihren zwei
Kindern, es ist auch Urlaub vom Ehemann. Rose, geplagt von den Nöten der
Mittelschicht mittleren Alters, ist dem Alkohol nicht abgeneigt und träumt
von amourösen Abenteuern mit den philippinischen Matrosen.
Die Kreuzfahrer glotzen und fotografieren die Schiffbrüchigen, Rose gibt
Younés erst Kaffee aus ihrer Thermoskanne, dann fantasiert sie davon, ihn
zu adoptieren. Sein Anblick lässt sie sich selbst plötzlich als
[2][„Glückspilz auf dem Planeten“] begreifen. Rose klaut ihrem schlafenden
15-jährigen Sohn das Handy und drückt es dem jungen Mann in die Hand, bevor
der auf ein Schiff der Küstenwache Richtung Italien umsteigen muss.
Rose ist in Younés’ Handy als „Mama“, er in ihrem als ihr Sohn Gabriel.
Immer wieder denkt sie, sie müsste Namen und Bild mal ändern, tut es aber
nie. Er ruft sie an, schickt Nachrichten, nennt sie darin die „Mutter, die
Kraft und Zuversicht schickt“, und findet in dieser Vorstellung Halt in
einer Lage, die keinen anderen Halt bietet.
Rose liest die Nachrichten, ortet sein Handy, verfolgt sein Schicksal fast
obsessiv aus der Ferne. Amouröse Gefühle flackern auf, sie läuft ihm
physisch hinterher, als er nach Paris kommt, hofft, dass seine Augen dort
„leuchten vor Freude und Jugend und Abenteuerlust“ – ohne aber je Kontakt
aufzunehmen. Denn: Was würde es sie letztlich kosten, wenn sie erst einmal
anfängt, ihm zu helfen?
## Sie holt ihn in ihr Leben
Fast ein Jahr bleibt es so: Sie sind in ihrer beider Leben eingedrungen,
der eine hofft auf praktische Hilfe, muss sich aber mit der Energie
begnügen, die er aus der Projektion der schützenden Mutter zieht. Die
andere lebt ihr Leben weiter, ihre Gedanken aber sind vom Los des jungen
Nigrers erfüllt.
Schließlich wird aus der imaginären Beziehung eine reale. Younés wurde bei
[3][Zwangsarbeit in Libyen] schwer verletzt, sein Arm heilte nie wieder
ganz. So vermag er sich im nordfranzösischen Calais auf der illegalen
Passage nach England nicht auf einem Lkw zu halten. Er stürzt und verletzt
sich an den Füßen. Helfer:innen bringen ihn ins lokale Krankenhaus, doch
für die langwierige Behandlung hat niemand hier Ressourcen.
Also ruft Younés einmal mehr nach ihr – und Rose setzt sich ins Auto und
holt ihn ab: in ihr Leben in Südfrankreich, in das neu gekaufte Haus der
Familie, mit Garten für Selbstversorgung, das sie auch deshalb gekauft hat,
weil sie ihre Generation „an der Schwelle zur Katastrophe“, dem
Klimakollaps, sieht. Paternalistischer geht es dann kaum: Sie steckt Younés
in ein Kinderzimmer, obwohl sie von einer befreundeten Physiotherapeutin
erfährt, dass ein Röntgenbild seiner Knochen auf ein Alter von Mitte
zwanzig hindeuten dürfte, sie kocht für ihn und fährt mit ihm Hosen kaufen.
Doch die Begegnung verändert Younés und Roses ganze Familie. Ihr Ehemann,
den sie fast nur noch als Trinker wahrgenommen hatte, erweist sich als
respektvoll und unterstützend, während Younés immer längere Monate bleibt.
Ihre Tochter, geplagt von schlimmsten Allergien, findet in Younés trotz
des Altersunterschieds eine Bezugsperson, die sie stützt. Der Sohn Gabriel,
zu Beginn des Romans egoman, handysüchtig und desinteressiert, lernt zu
teilen.
## Geld für die Premium-Schlepper
Und Rose selbst, die als Psychologin zu Beginn strikt rational behandelte,
erfindet sich in Younés’ Vorstellung, sie habe ihm „Kraft geschickt“, ne…
In ihren Therapien setzt sie immer stärker darauf, die Energien der
Patient:innen durch Handauflegen und Gedankenkraft zum Besseren zu
wenden.
Was wie ein Irrweg ins Esoterische anmutet, verschafft Rose jenen Frieden
mit ihrem Leben, der ihr fehlte. Younés wiederum bekommt, was er braucht:
Zeit, um seine Gelenke zu kurieren, und Geld für die Premium-Schlepper, die
ihn über den Ärmelkanal nach England bringen, ohne dass er dabei sein Leben
riskieren muss.
Darrieussecq schildert all das, ohne je blind zu sein für die Eitelkeiten,
die Egoismen, die Einfältigkeiten jener, die besitzen, die alle Rechte
haben, die im Luxus leben, nicht fliehen zu müssen und frei entscheiden zu
können, ob, wann, wie und wem sie helfen. Sie blättert die monströse
Ungleichheit dieses Verhältnisses auf und macht es so in seiner Komplexität
berührbar. So schrieb sie eine große Erzählung zu einer großen Frage
unserer Zeit.
13 Jun 2024
## LINKS
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## AUTOREN
Christian Jakob
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