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# taz.de -- Geflüchtete auf Lesbos: Mahnmal im Mittelmeer
> Auf der griechischen Insel Lesbos blickt man ratlos auf den beschlossenen
> europäischen Asylpakt. Derweil wird ein Friedhof zum Symbol für
> Menschlichkeit.
Lesbos taz | Das letzte Grab, Nummer 197, ist noch frisch, ein Haufen
brauner Erde im Gras. Eine alte Frau aus Syrien liegt hier begraben, sie
floh mit ihrer Familie und starb vor einer Woche. Bald schon wird Sohrab
Shirzad ein richtiges Grab daraus machen: heller Beton, weißer Kies, ein
Grabstein. So wie bei den anderen 196 Gräbern. Und bei denen, die noch
kommen werden.
Shirzad floh aus [1][Afghanistan] hierher, ein junger Mann mit schwarzen
Locken, breitem Lachen, an diesem Frühlingstag Ende April hat er sein Kind
mitgebracht, er trägt es auf den Schultern, läuft zwischen den Gräbern
umher und zeigt auf seinem Handy Bilder davon, wie es hier noch vor Kurzem
aussah. „Wir mussten alles planieren, das war das Schwerste“, sagt Shirzad.
Ein Jahr hat er an diesem Friedhof gearbeitet, hat andere Geflüchtete aus
dem Lager auf der Insel hierher gebracht, sie haben gemäht, Schutt
abgeräumt, einen Zaun gezogen, Wege angelegt, über jedes Grab eine Platte
gegossen.
Seit Jahren werden die [2][toten Migrant:innen auf Lesbos] auf diese
Lichtung in den weiten Olivenhainen, nahe der Inselhauptstadt Mytilini,
gebracht. Es ist nicht lange her, da wurden sie eher verscharrt als
bestattet, meist anonym, zwischen Müll und Schutt. Schon nach kurzer Zeit
überwucherte das Gras alles, statt Grabsteinen gab es manchmal nur ein mit
Filzstift beschriebenes Brett.
Ein „Mahnmal für die Menschheit“ soll der Friedhof sein, schreibt der
Verein Earth Medicine, der hinter der Umgestaltung steckt. An diesem
Mittwoch im April wird er eröffnet, es ist warm, aber der Himmel ist grau,
es riecht nach Thymian. Greifvögel kreisen über den Olivenbäumen, etwa 50
Menschen sind gekommen: Helfer:innen, Geflüchtete, Journalist:innen. In
einer Kiste liegen Dutzende rote Rosen aus Plastik, die Gäste nehmen sie,
laufen umher, legen sie auf den Gräbern ab. „Sie kommen für ein neues
Leben, für eine neue Chance“, sagt Shirzad zu Reportern. Es schmerze ihn,
dass die Flüchtlinge im Meer ertrinken.
In Würde trauern können sei „essenzieller Teil des Menschseins“, sagt eine
Rednerin. Wer anderen diese Möglichkeit nehme, „entmenschlicht erst die
anderen und dann sich selbst“. Der neue Friedhof, sagt Shirzad, mache ihn
glücklich: „Es ist viel besser so.“
Keine griechische Insel liegt näher am türkischen Festland als Lesbos, auf
keiner kommen mehr Geflüchtete an. Seit Jahren ist das so, und seit Jahren
sterben Menschen auf dem Weg hierher, im letzten Jahr waren es im Schnitt
zwei pro Tag. Viele ertrinken, andere sterben im Lager.
2017 hat der Mainzer Arzt Gerhard Trabert das Gräberfeld erstmals besucht.
Damals lagen hier 87 Menschen „im Nirgendwo verscharrt“, wie Trabert
schrieb. Seither arbeitete er mit lokalen Gruppen daran, ihnen eine letzte
Ruhestätte zu geben. 2022 war Trabert parteiloser Kandidat für die Linke
bei der Wahl des Bundespräsidenten, jetzt steht er auf der Linken-Liste für
die EU-Wahl im Juni. Gesundheit, Würde für die Armen, die Ausgegrenzten,
das ist sein Thema. Immer wieder ist Trabert auf die Insel gereist, über
20.000 Euro an Spenden flossen in das Friedhofsprojekt. Zweieinhalb Jahre
haben sie mit der Kommune verhandelt, bevor der Verein ihn umgestalten
durfte. Im November widmete die Süddeutsche Zeitung den Schwierigkeiten,
die die lokale Verwaltung dabei machte, eine ganze Seite.
Jetzt aber liegen auf einem Pult, das auf dem Gräberfeld aufgestellt ist,
Kästen aus blauem Samt bereit: kleine Präsente, eines für den Vertreter der
Stadt, der auch gekommen ist. Trabert trägt schwarze Hose, schwarzes Hemd,
die Ärmel hochgeschlagen. „Die Kommune hat oft keine Aufzeichnungen, wer
hier begraben liegt“, sagt er. Sein Verein will nun selber Nachforschungen
anstellen und möglichst viele der Identitäten noch klären.
Trabert hat einen Posaunisten aus Deutschland eingeladen, am Morgen hat er
ihn am Flughafen abgeholt, jetzt stehen sie nebeneinander. Der Posaunist
bläst, die Gäste erheben sich zu einer Schweigeminute.
Es sei eine Pflicht, Menschen auf ihrer Flucht vor Krieg,
Umweltkatastrophen und existenziell bedrohlicher Armut zu schützen, sagt
Trabert dann. „Es ist aber auch unsere Pflicht, verstorbenen Flüchtlingen
eine respektvolle und würdevolle Bestattung zu ermöglichen.“ Vor wenigen
Tagen, erinnert Trabert, [3][hat das europäische Parlament den Asylpakt
Geas] beschlossen. Mit der heutigen Gedenkfeier wolle er „ein Zeichen
gegen diese unmenschliche Asylpolitik in Europa setzen“.
Das Geas zielt vor allem darauf, die Art zu verändern, wie mit den Menschen
an den Außengrenzen umgegangen wird. Es soll die Migration in die EU
deutlich erschweren. Viele Ankommende sollen interniert und nach
Schnellverfahren direkt wieder abgeschoben werden, ohne offiziell überhaupt
eingereist zu sein.
Wer mit Helfer:innen und Ärzt:innen auf der Insel spricht, hört
düstere Prognosen: längere Haft, schlechterer Zugang zu Hilfsangeboten,
traumatisierende Bedingungen für Kinder. Was wird sich ändern, auf dieser
Insel, die durch ihre Lage eines der wichtigsten Tore für Menschen nach
Europa ist?
„Ich habe keine Ahnung“, sagt Dimitrios Kantemnidis. Seit zwei Jahren
leitet er das Flüchtlingslager Kara Tepe auf Lesbos, ein
Ex-Marinekommandant, der auf der Insel geboren ist. „Ich habe die
EU-Kommission und unsere Justiziare gefragt, sie sollen uns erklären, was
sich durch das Geas ändert“, sagt er. Bisher aber ändere sich nichts.
Als er anfing, waren alle paar Tage Journalist:innen oder
Politiker:innen da, jetzt hatte er schon über drei Monate keinen
solchen Besuch mehr. Ein Berater des Innenministers sitzt während des
Interviews mit im Containerbüro.
6.500 Menschen leben heute in den grauen Containern auf einem alten
Truppenübungsplatz am Südrand der Insel, direkt am Wasser. 85 Prozent von
ihnen kommen aus nur drei Ländern: Afghanistan, Eritrea und Syrien. „300
Ankommende schaffen wir pro Tag, in Krisenzeiten können wir auf 500
hochfahren“, sagt Kantemnidis. Im vergangenen Sommer gab es einen „extremen
Anstieg“, derzeit aber kämen kaum Menschen an.
Liegt es an den Pushbacks der Küstenwache, die NGOs wie Ärzte ohne Grenzen
(MSF) und viele andere seit Langem anprangern?
„Das kann ich nicht kommentieren, ich spreche für den Staat, nicht für
MSF“, sagt Kantemnidis. Werden die Flüchtlinge auf dem Meer öfter
abgedrängt, um das Lager nicht wieder voll werden zu lassen? „Über so etwas
Hypothetisches kann ich nicht reden“, sagt er.
Die türkische Regierung ist etwas offenherziger. Auf der Website der
türkischen Küstenwache ist zu lesen, wie viele Boote Richtung Griechenland
sie aufhält – fein aufgeschlüsselt nach Tagen. 410 Boote waren es allein in
den ersten drei Aprilwochen. Die Spannungen zwischen der Türkei und
Griechenland, die sich zuletzt Ende 2022 im Konflikt um Gasfelder zwischen
Libyen und Kreta zugespitzt hatten, haben sich wieder beruhigt. Und wie zu
hören ist, hat Deutschland bei den Vermittlungen eine zentrale Rolle
gespielt. Jetzt jedenfalls kooperiert Ankara zumindest in Migrationsfragen
und stoppt viele Flüchtlingsboote.
NGOs wie das Border Violence Monitoring Network berichten von physischer
Gewalt bei den Pushbacks, allerdings vor allem durch die griechische
Küstenwache. Flüchtlinge berichteten demnach, dass ihnen alle
Habseligkeiten gestohlen oder sie gar auf Schwimmkörpern auf dem Meer
ausgesetzt wurden und die Küstenwächter danach Wellen erzeugten, so dass
sie zu kentern drohen.
Sicherheitsdienste und Polizei bewachen das Camp in Kara Tepe, zwei Dutzend
NGOs dürfen drinnen Projekte betreiben. „Sie sind wirklich eine große
Hilfe“, sagt Kantemnidis, der Lagerleiter. Psychologische und
Schwangeren-Versorgung, Unterkünfte, Wasser, Duschen, um all diese Dinge
kümmern sich in Kara Tepe auch private Helfer:innen. „Das Einzige, was wir
noch bräuchten, wäre eine NGO für LGBTIQ-Support“, meint Kantemnidis. Doch
viele der Helfer:innen finden schon jetzt, dass sie Lücken füllen
müssen, für die eigentlich der Staat zuständig ist.
Kantemnidis erzählt, wie er dafür sorgen will, dass die Kinder im Camp mehr
Unterricht bekommen. Er berichtet von Jobmessen, die er im Lager
veranstaltet. Zwei Monate nach Ankunft in Griechenland dürfen die
Asylsuchenden arbeiten. „In den Hotels und bei den Olivenbauern gibt es
eine riesige Nachfrage“, sagt Kantemnidis. Ein Hotelmanager allein habe gar
400 Arbeitskräfte gesucht. „Wir brauchen hier viel mehr Qualifizierung“,
sagt er.
Schon bald aber könnte es viel schwieriger werden, auf Lesbos Flüchtlinge
einzustellen. Das Lager Kara Tepe ist offen, die Menschen dürfen raus. Der
europäische Asylpakt soll das bald ändern.
Kara Tepe ist ein Provisorium. Der Vorgänger war ein Lager namens Moria,
eröffnet 2014 und schon bald darauf ein Symbol für alles, was in Europas
Flüchtlingspolitik falsch läuft: Moria war überfüllt, chaotisch,
gefährlich, menschenunwürdig. Es gab Tote und immer wieder Feuer, bis das
Lager vor knapp vier Jahren, im September 2020, in einer einzigen Nacht
niederbrannte und die 13.000 Insass:innen nach Kara Tepe, in das Lager
von Dimitrios Kantemnidis, umgesiedelt werden mussten.
„Moria ist eine deutliche Mahnung“, sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula
von der Leyen (CDU). Eine von ihr eigens eingesetzt Taskforce werde auf
Lesbos ein „Pilotprojekt für ein Aufnahmezentrum errichten“ und zeigen,
dass „Europa die Migration auf humane und effektive Weise steuert“.
Auf den Trümmern von Moria sollte also ein Modellprojekt für das Geas
entstehen. Doch dazu kam es bisher nicht. Fast eine Autostunde über
Buckelpisten entfernt baut die Regierung seit Jahren am neuen Camp Vastria:
Ein Internierungslager, das ist dieses „Aufnahmezentrum“ de facto, mitten
im Wald. Sieben Stunden sind es zu Fuß nach Mytilini. Längst hätte das eher
provisorische Kara Tepe geschlossen und durch das neue Hochsicherheitslager
Vastria ersetzt werden sollen, um Geas möglichst bald nach dem Beschluss im
EU-Parlament, der schließlich am 10. April auch erfolgte, umzusetzen.
## 120.000 Haftplätze europaweit
Doch die Eröffnung des neuen Lagers wurde immer wieder verschoben. Wasser
und Elektrizität machen Probleme, vor allem aber ist es wohl der Unwille
der Inselbevölkerung. So bleiben die Menschen in Kara Tepe, und alles
bleibt beim Alten. Das Problem wird die EU noch öfter bekommen: Große
Internierungslager – 120.000 Haftplätze EU-weit sind für das Geas geplant �…
stoßen fast immer auf lokalen Widerstand.
Und so gehen die Dinge in Kara Tepe weiter ihren Gang. Die Asylinterviews
laufen meist per Videotelefonat. Der griechische Staat hat die Anhörungen
an Beamte der EU-Asylagentur EUAA ausgelagert. Sie empfehlen der
griechischen Asylbehörde ein Votum, diese entschiedet nach Aktenlage.
Früher haben die Menschen Jahre auf diese Entscheidungen gewartet, heute
sind es meist Monate. „Die meisten wollen von hier nach Norden. Wenn sie
Papiere bekommen, reisen sie direkt mit dem Flieger von der Insel zu ihren
Angehörigen“, sagt Kantemnidis. „Vorher hat es Jahre gedauert, jetzt sind
sie oft in 40 Tagen durch.“
Doch das gilt bei Weitem nicht für alle. Wer über die Türkei nach
Griechenland kommt – und das sind fast alle –, dessen Asylantrag wird in
vielen Fällen abgelehnt. Die Türkei gilt als „sicher“, man habe dort Schu…
suchen können, so die Begründung. So sieht es auch das Geas vor.
Tatsächlich schiebt die Türkei Menschen in großer Zahl nach Afghanistan,
nach Syrien und in andere Konfliktregionen ab.
Wer in Griechenland abgelehnt wird, kann Widerspruch einlegen. Doch er
verliert nach kurzer Zeit die Ansprüche auf Lebensmittel, Wasser, das
Taschengeld von 75 Euro im Monat und auf Gesundheitsversorgung. Die
Abgelehnten werden komplett sich selbst überlassen, die griechische
Regierung will sie so dazu drängen, das Land zu verlassen. Die
EU-Kommission duldet diesen vollständigen Entzug der Sozialleistungen.
Eigentlich müssen die Abgelehnten auch ihren Schlafplatz im Camp räumen,
doch teils werden sie weiter dort geduldet.
Einer von ihnen ist Mohamut, ein junger Somali. Er ist lang aufgeschossen,
er spricht gutes Englisch, in Mogadischu hat er seiner Mutter geholfen,
Milch auf der Straße zu verkaufen. 2020, mit 18 Jahren, floh er gemeinsam
mit seiner Frau Kifah. Ihre Familien waren mit der Beziehung der beiden
nicht einverstanden. Von der Türkei aus versuchten sie, nach Griechenland
zu gelangen. Vier Mal schleppten Grenzschützer ihr Boot zurück. „Wir
mussten schwimmen, haben alles verloren, auch unsere Pässe“, sagt Mohamut.
Im Februar 2021 schließlich kamen sie auf Lesbos an, nur wenige Monate
später wurden ihre Asylanträge gemeinsam abgelehnt. Kifah war da gerade mit
dem ersten Kind schwanger. Im Dezember 2021 verloren sie die Ansprüche auf
Versorgung. Sie durften weiter im Camp schlafen, aber bekamen kein Geld,
kein Essen, kein Wasser mehr.
Eine österreichische Hilfsorganisation verteilt an Menschen wie sie ein Mal
pro Woche Lebensmittelrationen: ein Kilo Tomaten, Zwiebeln, zwei Kilo Reis,
zwei Kilo Nudeln. Eine andere Organisation verteilt Essen für Babys,
„manchmal packen sie etwas für Erwachsene dazu“, sagt Mohamut. Aber das
reiche nicht.
Mohamut läuft deshalb jeden Tag eine Stunde zu einem Sozialzentrum namens
Paréa, das der in Deutschland ansässige Verein Europe Cares nahe Mytilini
betreibt. Hier gibt es ein Mittagessen, Mohamut isst und lässt sich dort
die Portionen für seine Frau und die Kinder einpacken. Im Dezember immerhin
konnte die Familie aus dem Camp ausziehen. Das Welcome Office, eine lokale
NGO, mietete ein Apartment für die Familie.
Sie haben keine Pässe, deshalb kann Griechenland sie nicht abschieben. Die
Behörden haben ihnen nahegelegt, sich von der UN-Migrationsagentur IOM in
die Türkei oder zurück nach Somalia fliegen zu lassen. Aber sie fürchten
den langen Arm der Familie. „Wir können nicht zurück, das ist zu
gefährlich“, sagt Mohamut.
Auch Hasan W. und Sayed M. wollen nicht zurück. Sie gehören zu einer Gruppe
von sechs jungen Afghanen, denen die Behörden vorwerfen, Feuer in Moria
gelegt zu haben. Sie wurden im Juni 2021 in erster Instanz wegen
Brandstiftung mit Gefährdung von Menschenleben zu zehn Jahren Haft
verurteilt, obwohl der angebliche Kronzeuge nicht auffindbar war.
Dokumente, die ihre Minderjährigkeit zum Tatzeitpunkt belegten, wurden
nicht berücksichtigt. Erst in einem Berufungsverfahren räumte die Justiz
kürzlich die Relevanz dieses Umstands ein. Ein neues Verfahren vor dem
Jugendgericht soll nun folgen.
Und so sitzen Hasan W. und Sayed M. nun in einem kleinen Raum des Welcome
Office, eine Straße entfernt vom Hafen von Mytilini, und berichten von
ihrem Leben. Sie sprechen Dari, gehören der afghanischen Minderheit der
Hazara an. Beide weisen den Vorwurf, Feuer gelegt zu haben, kategorisch
zurück.
Hasan W. kam allein im September 2019 nach Lesbos, 16 Jahre war er da alt.
Ein Jahr lebte er im Camp, allein in einem Zelt, wie Tausende damals
außerhalb des eigentlichen Lagergeländes. „Am Abend des Brandes habe ich
mit meiner Schwester in Afghanistan telefoniert, etwa bis Mitternacht“,
sagt er. Dann habe er die Rufe gehört: „Komm raus“. Er sah das Feuer, habe
seine Sachen zusammengesucht, einer Nachbarsfamilie geholfen.
Sechs Tage sei er dann in Paréa gewesen, Tausende der
Lagerbewohner:innen flohen vor den Flammen dorthin. Am sechsten Tag
hätten Polizisten ihn auf die Wache gebracht. „Ich war dort mit vier oder
fünf Beamten plus einem Dolmetscher in einem Raum. Sie haben gesagt: ‚Es
gibt einen Zeugen, der hat gesehen, wie du das Feuer gelegt hast‘“,
berichtet Hasan W.
Er habe gefragt: „Wo ist er? Ich will wissen, wer das ist.“ Aber er habe
den Zeugen bis heute nie gesehen. Die Polizisten hätten ihm gedroht: „Gib
uns fünf, sechs Namen. Dann bekommst du eine geringere Strafe. Sonst musst
du 40 Jahre ins Gefängnis, wenn du uns Namen gibst, nur 20 Jahre.“
## Hasan W. unterschrieb das Papier auf der Polizeiwache
Das Ganze habe etwa eine halbe Stunde gedauert, die Polizisten hätten ihn
geschlagen, er sollte ein Papier unterschreiben, auf Griechisch, erzählt
Hasan W. Er habe nicht gewusst, was darin stand. „Am Ende tat mir alles
weh.“ Hasan W. unterschrieb. Von dem Papier hat er bis heute nie wieder
gehört.
Sein Freund, Sayed M., berichtet exakt dasselbe: Auch er sei Tage nach dem
Brand auf der Insel von der Polizei aufgegriffen und auf der Wache
aufgefordert worden, andere Lagerbewohner zu beschuldigen. Man habe ihn
geschlagen und am Ende mit Gewalt gezwungen, ein Papier zu unterschreiben,
dessen Inhalt er nicht kannte.
Beide kamen in das Gefängnis von Avlona im Norden Athens, zusammen mit vier
anderen Beschuldigten. Insgesamt waren sie mit 25 Gefangenen in einer
Gemeinschaftszelle.
Einmal kam sein Anwalt zu Besuch, berichtet Hasan W. Die Familie schickte
einen Ausweis, der belegte, dass er zum Tatzeitpunkt minderjährig war. Doch
das Gericht erkannte das Dokument nicht an. Im Juni 2021 fiel das Urteil:
Zehn Jahre Gefängnis.
Hasan W. wurde in ein Gefängnis nahe Thessaloniki verlegt. Er musste
arbeiten, in einer Bäckerei, in der Küche. „Für jeden Tag Arbeit wurde
meine Haftstrafe um 3 Tage reduziert.“
Insgesamt vier Mal hörte das Gericht sie an. „Letztlich wurde unser
Widerspruch vom Gericht akzeptiert“, sagt W. „Unsere Haftstrafe wurde
aufgehoben, es wurde anerkannt, dass wir damals minderjährig waren.“
Im März 2024 wurde er entlassen und kam mit Sayed M. nach Lesbos. „Wir
müssen uns ein Mal pro Woche auf der Polizeistation melden, dürfen die
Insel nicht verlassen“, sagt er. Nun warten sie auf einen neuen
Gerichtstermin.
Bevor Dimitrios Kantemnidis, der Kommandant, das Lager auf der Insel
übernahm, promovierte er am Europäischen Sicherheits- und
Verteidigungskolleg in Brüssel, einer EU-Militärakademie. Wie der
Klimawandel Krisen und Flüchtlingswellen nach sich zieht – das war sein
Thema. „Wir diskutieren, als ob wir noch nicht verstanden haben, wie der
Klimawandel unser Leben verändern wird“, sagt Kantemnidis heute. Er glaubt,
dass die Migration nicht aufzuhalten sei. Das Beste, was man tun könne, sei
vor Ort, in den Herkunftsländern, möglichst umfassend zu helfen. „Wenn sie
zu Hause ‚bye bye‘ sagen und sich auf den Weg machen, kümmert sie nicht,
was der griechische Staat, die EU-Kommission oder ein Parlament beschlossen
haben oder ob wir Zäune aufstellen. Sie wollen einfach überleben.“
Diese Recherche wurde von der Rosa-Luxemburg-Stiftung unterstützt.
24 Apr 2024
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Christian Jakob
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