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# taz.de -- Geflüchtetencamps in Griechenland: Hilfe lässt auf sich warten
> In griechischen Camps für Geflüchtete fehlt es seit Juli an medizinischer
> Versorgung. Die zuständige Organisation bittet um Nachsicht.
Bild: Vor den Mauern eines Camps für Geflüchtete in Griechenland: NGOs versuc…
[1][Ausbrüche von Krätze], die wochenlang ignoriert werden, Krankenwagen,
die mehrere Stunden zum Einsatzort brauchen – immer wieder dringen
Horrorgeschichten wie diese aus [2][griechischen Geflüchtetencamps], in
denen Tausende Menschen leben. Seit Anfang Juli hat sich die Situation der
medizinischen Versorgung in vielen Camps offenbar noch verschärft. Der
griechische Gesundheitsdienst EODY beendete Ende Juni alle medizinischen
Maßnahmen vor Ort. Der Grund: Das EU-finanzierte Programm „Philos II“, das
die medizinische Erstversorgung in den Camps sicherstellen sollte, läuft
aus.
Das neue Programm „Hippocrates“ soll laut EU-Kommission zu einer
[3][Verbesserung der Versorgungslage führen], bringt bisher aber vor allem
Ungewissheit und Sorge. NGOs und Asylsuchende schlagen Alarm: Seit Anfang
Juli sei in vielen Camps kein medizinisches Personal mehr anwesend,
berichten Betroffene aus unterschiedlichen Teilen des Landes. Tausende
Menschen hätten nun kaum Zugang zu medizinischer Versorgung.
Die Internationale Organisation für Migration (IOM), die für die
Durchführung des geplanten Folgeprogramms verantwortlich ist, widerspricht:
Man habe bereits Anfang Juli mit „gezielten Maßnahmen“ begonnen,
medizinisches Personal sei in allen Camps anwesend, sagt eine
IOM-Sprecherin der taz. Sie bittet um Nachsicht: Das Programm befinde sich
aktuell noch im Aufbau. Warum das alte Programm abrupt und vor sorgfältiger
Ausgestaltung eines neuen Programms endete, beantworteten weder EODY noch
IOM eindeutig. Das griechische Ministerium für Migration und Asyl
beantwortete bis Redaktionsschluss keine Nachfragen der taz.
Die Schilderungen aus den Camps zeichnen ein dramatisches Bild. „Viele
Menschen im Camp sind körperlich oder psychisch krank“, erzählt Fatima der
taz in einem Telefongespräch. Die junge Frau, die nicht mit ihrem richtigen
Namen in den Medien auftauchen möchte, ist vor dem somalischen Bürgerkrieg
geflohen, seit über einem Jahr lebt sie in einem Geflüchtetencamp in
Ritsona. Das Camp liegt in einem Industriegebiet etwa anderthalb Stunden
Autofahrt von Athen entfernt. Fotos zeigen das Camp abgeschottet von einer
hohen Betonmauer und einem Stacheldrahtzaun, an dem Überwachungskameras
befestigt sind.
## Über 2.000 Menschen im Camp
Zwischen 35 und 40 Grad heiß wird es hier während der Sommermonate. Laut
Zahlen des griechischen Migrationsministeriums leben [4][über 2.000
Menschen] in dem Camp. Damit ist es eines der größten auf dem Festland.
Fatima erzählt, viele seien durch ihre Flucht gesundheitlich vorbelastet.
Andere seien wegen der Lebensumstände im Camp und der psychisch belastenden
Asylverfahren erkrankt.
Ob und wann wieder Ärzt:innen kommen, wisse sie nicht, sagt Fatima.
„Niemand redet mit uns. Wir machen uns große Sorgen.“ Die Situation sei
angespannt, Krankheiten breiteten sich durch beengte Wohnverhältnisse und
unzureichende Instandhaltung der Hygieneanlagen schnell aus. „Bis zu acht
Menschen sind in einem Container untergebracht“, erzählt sie. Rückzugsorte
gebe es keine.
Mehrere Hilfsorganisationen berichten von ähnlichen Zuständen. Sarah
Schneider ist Vorsitzende von Medical Volunteers International (MVI),
einer Organisation, die in Camps rund um Athen arbeitet. Sie widerspricht
der Darstellung des IOM: Seit Anfang Juli sei in allen Camps, in denen sie
arbeiten, kein medizinisches Personal mehr vor Ort, sagt sie. Die NGOs
müssten den erhöhten Bedarf nun auffangen, so Schneider. Dies sei aus
Mangel an Ressourcen jedoch kaum möglich. „Dass EODY nicht mehr in den
Camps aktiv ist, hat vor allem für Patient:innen mit chronischen Leiden
drastische Folgen.“ Diese könnten laut Schneider kaum noch mit Medikamenten
versorgt werden.
Der Handlungsspielraum der NGOs sei begrenzt. Denn seit Jahren werde ihre
Arbeit [5][systematisch erschwert], sagt sie. So dürfen NGOs seit April
2020 nur noch nach Registrierung beim Migrationsministerium [6][ins Innere
der Camps]. Eine Expert:innengruppe des Europarats [7][kritisierte den
Schritt] und forderte die griechische Regierung auf, die Gesetzgebung in
Einklang mit europäischem Recht zu bringen. Passiert ist seither nichts.
Sarah Schneider sagt, die Registrierungspflicht ziele vor allem darauf, die
Arbeit der NGOs vor Ort komplizierter zu machen. Bei einem medizinischen
Notfall schnell da zu sein sei für die meisten NGOs nicht möglich, so
Schneider. „Die EODY-Mitarbeitenden konnten immerhin ein Mindestmaß an
Erstversorgung gewährleisten.“ Dies habe sich nun geändert. „Wir sind
schockiert von der Ignoranz der griechischen Regierung“, sagt Sarah
Schneider.
## Personalmangel sei ein großes Problem gewesen
Doch die Probleme bestehen nicht erst seit dem Rückzug des EODY. Fatima hat
chronisches Asthma und braucht ein Spray zur Behandlung. „Das Schlafen in
Containern hat meine Symptome verschlimmert“, sagt sie. „Außerdem
verschmutzen die Abgase der umliegenden Fabriken die Luft im Camp.“ Sie
habe immer schwerer atmen können und häufiger Asthmaanfälle gehabt. Doch
der Arzt, der bis Juni ab und zu ins Camp gekommen sei, habe ihr kein
Asthmaspray verschrieben. Stattdessen habe sie es selbst kaufen und
bezahlen müssen. „Mir stehen im Monat 75 Euro Taschengeld zur Verfügung.
Wenn ich mit dem Taxi zur nächsten Apotheke fahre und mir das Medikament
kaufe, ist das Geld aufgebraucht“, sagt Fatima.
Krankenhäuser und Apotheken liegen oft weit entfernt von den Camps. Von
Ritsona aus sind es fast 20 Kilometer bis [8][nach Chalkida], wo es
Apotheken und ein kleines Krankenhaus gibt. Übersetzer:innen stehen
dort seit zwei Jahren [9][nicht zur Verfügung]. Hinzu kommt, dass laut NGOs
nur sehr unregelmäßig Busse fahren. Immer wieder fielen sie über Wochen
komplett aus. Eine Taxifahrt sei so oft die einzige Möglichkeit, in den
nächsten Ort zu kommen.
Menschenrechtsorganisationen [10][beklagen die Situation] in den
griechischen Camps seit Jahren. Das Argument: Die griechische Politik
isoliere Asylsuchende in den Camps und lagere das Problem so aus. Die weite
Entfernung zu urbanen Zentren erschwere die Erfüllung von Grundbedürfnissen
und auch den Zugang zu Integrationsangeboten. Bis 2022 hatte ein
EU-finanziertes Programm eine Alternative geboten: Im Rahmen von „ESTIA II“
waren Asylsuchenden für die Zeit der Bearbeitung ihres Asylantrags
Wohnungen in Städten wie Athen bereitgestellt worden, dieses Programm hatte
das Ministerium für Migration und Asyl aber Ende 2022 [11][für beendet
erklärt].
Aus den Zahlen, die das Ministerium veröffentlichte, geht hervor, dass in
griechischen Camps nur wenig medizinisches Personal verfügbar war, auch als
das bis Juni laufende „Philos II“-Programm noch existierte. Im Camp in
Ritsona war Ende Dezember 2023 ein medizinischer Angestellter für 255
Bewohner:innen verantwortlich, im Camp in Korinth sogar [12][für 706
Menschen]. Fatima erzählt, der Arzt in Ritsona sei etwa zweimal die Woche
für einige Stunden vor Ort gewesen. „Er hatte nie genug Zeit, alle
Patient:innen zu behandeln.“ Außerdem habe es häufig keine
Übersetzer:innen gegeben.
Ein Sprecher des EODY räumt gegenüber der taz ein, dass Personalmangel ein
Problem gewesen sei. Abgesehen davon habe man die Situation aber „unter
Kontrolle“ gehabt. Laut Aussage einer IOM-Sprecherin werde medizinisches
Personal in Zukunft von Montag bis Freitag von 8 bis 17 Uhr anwesend sein.
Nachtschichten seien nicht geplant. „Die Notfallversorgung wird durch den
Zugang zum öffentlichen Gesundheitssystem gewährleistet.“ Dieses stehe
schließlich auch Asylsuchenden zur Verfügung, wie die Sprecherin betont.
## Medizinische Versorgung für Asylsuchende keine Priorität
In der Praxis scheint das aber nur eingeschränkt der Fall zu sein. „Eine
Freundin von mir hatte während ihrer Risikoschwangerschaft im Camp eine
starke Blutung“, erzählt Fatima. Medizinisches Personal sei nicht vor Ort
gewesen. „Wir haben um 11 Uhr vormittags angerufen, der Krankenwagen war
vier Stunden später da.“ Glücklicherweise sei alles gut gegangen. Auch
Sarah Schneider von den Medical Volunteers International berichtet von
Fällen, in denen sie trotz akuter Notlage über eine Stunde auf einen
Krankenwagen gewartet hätten.
Nicht nur im Notfall leiden Asylsuchende unter dem [13][griechischen
Gesundheitssystem]. Um in öffentlichen Krankenhäusern behandelt zu werden,
müssen sie sich registrieren lassen und in Griechenland Asyl beantragen.
Außerdem wird die Versicherungsnummer nach zweimaliger Ablehnung eines
Asylgesuchs [14][deaktiviert]. In öffentlichen Krankenhäusern werden die
Menschen dann nicht mehr behandelt. Häufig bleiben Asylsuchende mangels
Alternativen trotzdem weiter in den Camps, von den Behörden toleriert. Ihre
medizinische Versorgung hängt dann ausschließlich von den Kapazitäten der
NGOs vor Ort ab.
Dass die Gewährleistung der medizinischen Versorgung für Asylsuchende keine
Priorität der griechischen Behörden zu sein scheint, überrascht kaum. „Der
Schritt fügt sich in das Allgemeinbild ein: Die Grundbedürfnisse
Asylsuchender werden in Griechenland mit den Füßen getreten“, sagt Sarah
Schneider.
Laut Berichten von NGOs hat die IOM ihre Arbeit auf der Insel Lesbos nach
zwei Wochen ohne Versorgung mittlerweile aufgenommen. Bei den Camps auf dem
Festland ist das aber nach Angaben von NGOs weiterhin nicht der Fall.
Möglicherweise könnte das neue Programm „Hippocrates“ sogar eine leichte
Verbesserung bringen. Dass sich dadurch etwas Grundlegendes ändern wird,
sei aber fraglich, sagt Sarah Schneider. „Das eigentliche Problem ist die
Politik, die Asylsuchende so weit wie möglich isoliert.“ Das mache die
Menschen krank.
21 Jul 2024
## LINKS
[1] https://www.srf.ch/news/international/fluechtlingslager-auf-lesbos-die-krae…
[2] /Lager-fuer-Gefluechtete-in-Griechenland/!5701718
[3] https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/E-9-2023-003570-ASW_EN.html
[4] https://rsaegean.org/wp-content/uploads/2024/05/RSA_RefugeeCampsMainland.pd…
[5] /Menschenrechte-von-Migrantinnen/!5919981
[6] https://www.proasyl.de/news/angriffe-auf-asylorganisationen-in-griechenland/
[7] https://rm.coe.int/expert-council-conf-exp-2020-4-opinion-ngo-registration-…
[8] https://rsaegean.org/wp-content/uploads/2024/05/RSA_RefugeeCampsMainland.pdf
[9] https://rsaegean.org/wp-content/uploads/2024/05/RSA_RefugeeCampsMainland.pdf
[10] https://asylumineurope.org/reports/country/greece/reception-conditions/hou…
[11] https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/E-9-2022-003726_DE.html
[12] https://rsaegean.org/wp-content/uploads/2024/05/RSA_RefugeeCampsMainland.p…
[13] https://www.aerzteblatt.de/archiv/171337/Griechenland-in-der-Krise-Leidtra…
[14] https://www.refworld.org/legal/legislation/natlegbod/2022/el/147218
## AUTOREN
Joscha Frahm
## TAGS
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