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# taz.de -- Roman über Migration: Die Erfahrungen der anderen
> „Die goldene Stunde“ von Wytske Versteeg ist ein vielschichtiger Roman
> über Flucht und Trauma. Der Kern seines Erzählens ist Empathie.
Bild: Autorin Wytske Versteeg setzt auf Empathie als einen Kern von Fiktion
Gerade hat die EU das [1][Asylrecht massiv verschärft], „illegale
Migration“ ist in aller Munde – die Sprache des politischen Diskursesist
kalt und macht die einzelnen Menschen unsichtbar. Das Gegenteil unternimmt
die niederländische Autorin und Politikwissenschaftlerin [2][Wytske
Versteeg] in ihrem neuen Roman „Die goldene Stunde“. Mit literarischen
Mitteln macht sie sichtbar, was Krieg und Flucht für einen bedeuten, der
beides erleben muss. Doch beschränkt sich ihr Buch nicht darauf.
Versteeg verbindet drei Perspektiven miteinander: die der
[3][Sozialarbeiterin] Mari, die sich für Geflüchtete engagiert und hofft,
Ahmad „retten“ zu können; die glaubt, die Beziehung zum wesentlich jünger…
Mann könne trotz seiner Distanz eine Zukunft haben.
Die Sicht Ahmads auf seinen Aufenthalt in den Niederlanden und die
Beziehung zu Mari; die Erinnerungen an sein Leben vor dem Krieg in seinem
Heimatland, das an Syrien erinnert, aber fiktiv bleibt. Und die Erzählung
Tariks, eines ehemaligen Soldaten, der sich als junger Mann zum Handlanger
des totalitären Regimes machte, vor dem Ahmad viele Jahre später fliehen
musste.
## Verbindungen zwischen den Leben entstehen peu à peu
Jeder Figur weist die Autorin eigene lange, sich abwechselnde Kapitel zu,
in denen jeweils nur ihre Sicht zum Tragen kommt. Verbindungen zwischen den
drei Leben entstehen so erst peu à peu. Zuerst erzählt Mari, in Ich-Form
und in der Erinnerung Ahmad mit „du“ ansprechend, nachdem dieser sie und
die Stadt abrupt verlassen hat.
Offenbar wird die Erkenntnis des Scheiterns, eine kritische Selbstreflexion
über die Stillung eigener Bedürfnisse in der Hilfe für andere: „Ich
hungerte nach deinen Erfahrungen, die zwar schrecklich waren, aber deutlich
authentischer als meine.“
Es folgt aus personaler Erzählperspektive Tariks Stimme. Er begegnet Mari
in einer Region nahe von Ahmads Herkunftsort. Dorthin ist sie gereist, in
der Hoffnung, Ahmad besser zu verstehen. Tarik ringt bis heute mit den
Taten seiner Jugend, als er in einem berüchtigten Straflager Wächter war.
Ahmad schließlich wendet sich direkt an Mari, der er Aufzeichnungen
zukommen ließ, die Tarik ihr nun übersetzt und vorliest: „Vermutlich sollte
ich dir dankbar sein, aber es gibt keine Dankbarkeit ohne Hass“, schreibt
er darin.
Versteeg unternimmt den anspruchsvollen Versuch, diese drei sehr
unterschiedlichen Leben und Erfahrungen zu verknüpfen. Ihr literarisches
Verfahren, in dem sich die Sichtweisen der Figuren in den jeweiligen
Kapiteln ergänzen, in Varianten spiegeln, oft widersprechen, geht auf. So
tritt die Komplexität, die das Thema auf persönlicher wie politischer Ebene
birgt, zutage.
Empathie als Kern von Fiktion
Die Autorin, die ehrenamtlich mit Geflüchteten arbeitet und auch einen
Essayband über Traumaverarbeitung geschrieben hat, setzt auf Empathie als
einen Kern von Fiktion, von Literatur. Diese ermöglicht es ihr – in
Verbindung mit profunden Kenntnissen politischer wie gesellschaftlicher
Verhältnisse auch in Teilen der arabischen Welt –, Ahmad als Einzelnen
sichtbar zu machen.
Sein reichhaltiges Leben, bevor es zerstört wurde. Sein ungeheurer Verlust.
Seine Hoffnung während des Arabischen Frühlings, seine Angst. Und dann
seine Verlorenheit, seine Wut, als er es in die Niederlande geschafft hat.
Wie die „Gutmeinenden“ ihn zum Kind machen, nach seiner Geschichte gieren.
Zu einem gewissen Grad auch Mari. Die Versteeg nicht verurteilt.
Auch sie wird stattdessen sichtbar in ihrer Ambivalenz. Ebenso Tarik, der
die Herkunft mit Ahmad teilt, aber auf der anderen Seite gestanden hat –
und versucht, in der Gegenwart richtig zu handeln.So erweist sich „Die
goldene Stunde“ als vielschichtige Literatur wider die Vereinfachung. Und
die Gewöhnung.
29 Jul 2024
## LINKS
[1] /EU-Paket-zur-Asylpolitik/!6013932
[2] /Ehrengaeste-auf-der-Buchmesse-Frankfurt/!5345485
[3] /Kommentar-Qualifikation-in-der-Sozialen-Arbeit/!5322547
## AUTOREN
Carola Ebeling
## TAGS
Sozialarbeit
Literatur
Roman
Migration
Trauma
Schwerpunkt Flucht
Literatur
Trauma
Literatur
Schwerpunkt Europawahl
Lesestück Meinung und Analyse
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