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# taz.de -- Debütroman von Quynh Tran: Eine imaginierte intensive Verbundenheit
> Der finnische Autor Quynh Tran erzählt von einer nach Finnland
> immigrierten Familie. Er kann eine große atmosphärische Dichte kreieren.
Bild: Leere und Einsamkeit in Jakobstad
Es ist eine Familiengeschichte besonderer Art, die der 1989 geborene
finnische Autor [1][Quynh Tran] in seinem zweifach preisgekrönten
Romandebüt „Schatten und Wind“ erzählt. Er wuchs im finnlandschwedischen
Jakobstadt auf und hat neben der vietnamesischen Herkunft einige weitere
biografische Daten mit seinem Ich-Erzähler gemein.
Dieser lebt ebenfalls in Jakobstadt, in den 90er-Jahren immigrierte er mit
seinem Bruder Hieu und seiner Mutter, Má genannt, nach Finnland. Der Roman
fokussiert sich auf eine Zeit, in der der Erzähler acht Jahre, sein Bruder
15 Jahre alt ist.
Tran erzählt in kurzen Kapiteln, erfasst Alltagsszenen, Ausschnitte, die
verbunden sind durch die Wahrnehmungen des Kindes: „An den Wochenenden,
wenn wir alle zu Hause waren, weckte mich manchmal ein still und sanft
fallender Regen. Hieus zusammengeknüllte Laken drüben auf der anderen
Zimmerseite. Ich schloss die Augen, schlief wieder ein. Das immer weicher
werdende Trommeln der Regentropfen auf das Blech, die Regenkälte an den
Fensterscheiben, als wären sie meine Haut.“
Momente einzufangen, sinnliche Details aufzunehmen und so
[2][atmosphärische Dichte] zu kreieren, ist eine große Stärke des Autors.
Das Fragmentartige, das Erfassen von Ausschnitten und zugleich die
Reduktion darauf, entspricht der kindlichen Wahrnehmung. Tran findet dafür
eine Sprache, die einerseits klar, in diesem Sinne einfach ist.
Zugleich aber geht er mit dichten, oft poetischen Bildern und
Formulierungen über die kindliche Perspektive hinaus. Eine
Gleichzeitigkeit, die in sich völlig stimmig wirkt, und es gelingt dem
Autor, eine große Nähe zu dem Achtjährigen herzustellen.
## Fuß fassen im neuen Land
Die Mutter und der Bruder erscheinen den Lesenden allein aus seiner Sicht.
Má wird als eine Frau gezeichnet, die zielstrebig versucht, in dem neuen
Land finanziell Fuß zu fassen. Dabei ist sie gezwungen, auch schlecht
bezahlte Jobs anzunehmen. Und wird erfinderisch, wenn sie einen Filmverleih
mit vietnamesisch synchronisierten Filmen für die Community vor Ort
organisiert.
Ihre Verletzlichkeit scheint auf, wenn der Erzähler die Begegnungen und
schließlich den Bruch mit der einzigen Freundin Lan Pham schildert. Es sind
Situationen, Zusammenhänge, die er nur teilweise verstehen kann, die in
ihrer Kombination aber für die Leser*innen deutbar werden.
Greifbar wird hier auch die Einsamkeit Más, indirekt vermittelt der Text
nicht nur an dieser Stelle, was die [3][Migration nach Finnland] für sie
bedeutet. Seinen Fokus aber richtet der Roman auf die Nähe- und
Distanzbewegungen in der kleinen Familie. In dichten Szenen wird die
Identifikation mit dem älteren Bruder deutlich, zugleich die Entfremdung,
denn das Verhalten des pubertierende 15-Jährigen bleibt dem Jüngeren
unverständlich. Fasziniert ist er von Laura, der ersten Freundin Hieus. Die
Momente alltäglicher Sinnlichkeit zwischen ihr und Hieu, ihre glühende
Verliebtheit, geschildert aus der Sicht des Achtjährigen, gehören zu den
schönsten des Buches.
## Eine verstörende Gewalttat
Die Familie ist ein Schutzraum, Gesten zärtlichen Vertrauens zwischen dem
Erzähler und seiner Mutter zeugen von inniger Nähe. Doch das Verhältnis
zwischen Hieu und Má ist ambivalenter, und als Hieu Geld unterschlägt,
bestraft die Mutter ihn mit heftigen Schlägen. ´
Es gibt in diesem Roman keinen Handlungsverlauf im Sinne eines Plots. Aber
doch eine unterschwellige inhaltliche Verschiebung. Je mehr der
Zusammenhalt der Familie in der Erzählgegenwart gefährdet ist – und das
wird vorangetrieben durch eine verstörende Gewalttat Hieus gegen eine junge
Frau –, desto mehr erinnert sich der Erzähler an die Ankunft in Finnland,
an den ersten Sommer dort: „In dieser Nacht, als Hieu wieder in seinem Bett
war, kamen erneut die Bilder zu mir, ohne Vorwarnung. Der erste Sommer. Ein
Wunderbaum, der am Rückspiegel baumelte. Draußen die flimmernd grüne
Landschaft. Sie hatten mich zurückgelassen und waren losgefahren.“
Losgefahren, um eine Woche lang im Wald Beeren zu sammeln für den Verkauf
auf dem Markt. Má, Hieu, Lan Pham – ohne ihn, der noch zu klein war und der
nun diese Tage im Wald als eine Zeit intensiver Verbundenheit zwischen
denen imaginiert, die sich inzwischen aus verschiedenen Gründen voneinander
entfernt haben.
Diese Passagen verweisen auf die Kraft der Imagination und, ohne den
Erzähler und den Autor in eins zu setzen, vielleicht auch auf beider
Entdeckung der Möglichkeiten literarischen Erzählens. Das vorliegende Debüt
jedenfalls ist dafür ein vielschichtiges, fein gewobenes Beispiel.
23 Dec 2024
## LINKS
[1] /Kulturkritik-Band-Kein-schoener-Land/!5624757
[2] /Internationaler-Literaturpreis-verliehen/!6021844
[3] /Konservativ-rechte-Regierung/!5986794
## AUTOREN
Carola Ebeling
## TAGS
Literatur
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