# taz.de -- Ex-Gefangene aus Folterknast: „Syrien ist nicht sicher“ | |
> Ruham Hawash saß in einem der syrischen Folterknäste und brachte in | |
> Deutschland einen Regime-Vertreter vor Gericht. Ein Gespräch über | |
> Befreiung und Gerechtigkeit. | |
Bild: Ruham Hawash | |
taz: Frau Hawash, Sie sind 2012 aus Syrien nach Deutschland geflohen, | |
nachdem man sie inhaftiert und gefoltert hatte. Wie erlebten Sie den Sturz | |
von Baschar al-Assad und seinem Regime? | |
Ruham Hawash: Das alles zu verfolgen, war für mich nicht einfach. Eine | |
Woche vorher, als die Rebellen Aleppo einnehmen wollten, ist mein Onkel | |
dort bei einem russischen Luftangriff gestorben. Mein Cousin, sein Sohn, | |
lebt auch in Berlin, seine Schwester und ein paar andere kamen aus | |
Frankreich. Erst als sie wieder abgereist sind, habe ich die Nachrichten | |
mehr verfolgt und realisiert, wie nah es ist, dass die Regierung stürzt. | |
taz: Was fühlten sie, als bekannt wurde, dass Assad wirklich Damaskus | |
verlassen hat und nach Moskau geflohen ist? | |
Hawash: Das war ein sehr gutes Gefühl, ich kann das gar nicht beschreiben. | |
Gleichzeitig war ich ein bisschen traurig, dass mein Onkel das nicht mehr | |
miterleben konnte. Aber Syrien ist jetzt in einer neuen Phase. Wir wissen | |
nicht, wie sie ausgeht, aber wir haben diese Phase so dringend gebraucht. | |
Und ja, ich habe immer noch Hoffnung. | |
taz: Planen Sie, nach Syrien zu fahren? | |
Hawash: Ja, ich werde bereits in den nächsten Tagen fahren, um mir | |
anzusehen, wie die Situation vor Ort ist. Einige meiner Freunde sind schon | |
zurückgegangen, also zunächst mal zu Besuch. | |
taz: Sie saßen in Damaskus im Gefängnis Al Khatib und sind dort unter | |
anderem mit Schlägen, Tritten und Elektroschocks gefoltert worden. Wie war | |
es, die Bilder aus Folterknästen wie Saidnaja zu sehen? | |
Hawash: Es war das erste Mal, dass ich solche Zellen und Flure gesehen habe | |
und sie leer waren. Sie waren früher immer voll mit Menschen, sehr voll, | |
oft total überfüllt. Manche der Menschen waren tot, manche lebendig. Diese | |
Bilder jetzt, die offenen Tore und keine Menschen liegen auf dem Boden – | |
das war für mich ein Gefühl der Befreiung. Ich hatte das Gefühl, dass ich | |
selbst jetzt erst wirklich aus diesem Gefängnis rausgehe und nicht schon | |
2012 gegangen bin. | |
taz: Sie haben bei unserem ersten Interview vor knapp drei Jahren erzählt, | |
dass sie hier in Deutschland Flashbacks hatten. Dass es sich in einem | |
Hotelzimmer plötzlich so anfühlte, als würden Sie wieder in Damaskus in | |
einer Zelle sitzen. Sind diese Flashbacks jetzt zurückgekommen? | |
Hawash: Ja, manchmal. Das war zwischendurch weg. | |
taz: Sie haben als Zeugin gemeinsam mit anderen Opfern den weltweit ersten | |
Prozess wegen Staatsfolter in Syrien möglich gemacht. In dem Prozess gegen | |
zwei ehemalige Funktionäre des Allgemeinen Geheimdienstes vor dem Koblenzer | |
Oberlandesgericht waren Sie Nebenklägerin. Vor drei Jahren wurde der | |
Hauptangeklagte, Anwar R., zu lebenslanger Haft verurteilt. Er war für den | |
Folterknast Al Khatib verantwortlich, in dem sie einsaßen und gefoltert | |
wurden. Aus heutiger Sicht: Wie war dieser Prozess für Sie? | |
Hawash: Er war eine schwere Belastung. Ich war zwischendurch krank. Ich | |
musste damals einen Teil meiner Geschichte wieder hervorholen, den ich | |
eigentlich zurücklassen wollte. Details erzählen, die ich vorher meinen | |
engsten Freundinnen und Freunden nicht erzählt hatte. Und das öffentlich, | |
vor fremden Menschen. Aber es war auch eine sehr bereichernde Erfahrung. | |
Ich habe Gerechtigkeit erlebt und verstanden. Und ja, das war gut. | |
taz: Sie sagten, die Opfer hätten durch das Verfahren ihre Mündigkeit | |
zurückerlangt. Sie seien nun keine Opfer mehr. Was meinten Sie damit genau? | |
Hawash: Wenn man einen Platz hat, um seine Geschichte zu erzählen und wenn | |
man gehört wird, dann bekommt man etwas von seiner Würde zurück. Ich habe | |
aktiv daran mitgearbeitet, dass diese Menschen vor Gericht standen. Deshalb | |
bin ich kein Opfer mehr. | |
taz: Kann man aus dem Prozess in Koblenz etwas für Syrien lernen? | |
Hawash: Wir wissen nicht, wie sich die Lage in Syrien entwickeln wird. Aber | |
wir hoffen, dass es auch in Syrien solche Prozesse geben wird. Die Täter | |
müssen vor Gericht gestellt werden! Es gibt verschiedene Vereine der | |
syrischen Diaspora hier in Europa und in den USA, die sich intensiv mit der | |
Verantwortlichkeit in Syrien beschäftigen. Sie haben sich im Exil | |
organisiert und Wissen angesammelt, das beim Aufbau eines neuen Syriens | |
genutzt werden kann. | |
taz: Wie wichtig ist die juristische Aufarbeitung der Verbrechen des | |
syrischen Regimes? | |
Hawash: Das ist sehr wichtig, damit die Menschen auch ein Gefühl von | |
Gerechtigkeit bekommen. Dass sie, genau wie ich, die Chance haben, ihre | |
Geschichte zu erzählen, ihre Gefühle raus zu lassen und zu sehen, dass die | |
Täter zur Rechenschaft gezogen werden. | |
taz: Sie sind 2012, ein Jahr nach Beginn der Proteste, in Damaskus im | |
Gefängnis gelandet, weil Sie außerhalb der Stadt mit Flyern gegen die | |
Regierung im Auto erwischt wurden. Nach ungefähr zwei Monaten ließ man sie | |
wieder gehen. | |
Hawash: Ja, die Ermittlungen waren zu Ende. Meine Papiere haben Sie | |
behalten. Später wurde mir gesagt: Reisen Sie aus und kommen Sie nicht | |
zurück. In Deutschland wollte ich eigentlich nur ein paar Wochen bleiben, | |
um mich auszuruhen. | |
taz: Was wünschen Sie sich für Syrien? | |
Hawash: Noch ist die Entwicklung nicht zu Ende. Ich hoffe, dass diese neue | |
Phase keinen neuen Schatten auf Syrien und die syrische Revolution wirft, | |
sondern dass es einen reibungslosen Übergang in die Richtung gibt, die sich | |
die syrischen Menschen gewünscht haben. Dass sie also Freiheit und Würde | |
und Teilhabe an den politischen Entscheidungen und Selbstbestimmung bringt. | |
taz: Wie beurteilen Sie die Debatte in Deutschland? | |
Hawash: Ich finde es gefährlich, jetzt zu fordern, dass die Menschen | |
zurückgehen. Syrien ist nicht sicher. Es wird weiter gekämpft, es gibt | |
viele Gebiete, die komplett zerstört sind. Aber ich sehe die Gefahr, dass | |
jetzt Druck auf Geflüchtete ausgeübt wird. | |
taz: Wie geht es Ihnen persönlich heute? | |
Hawash: Gut. Ich bin immer noch in meinem Verein, IMPACT – Civil Society | |
und Research und Development. Unser Team arbeitet in europäischen Ländern, | |
aber auch in Syrien, dem Libanon, der Türkei und dem Irak. Aber inzwischen | |
hadere ich mit dem deutschen Staat. | |
taz: Warum? | |
Hawash: Ich bin Palästinenserin, nach den Angriffen auf Gaza bin ich viel | |
auf Demonstrationen gewesen. Viele von denen, die mir im Zusammenhang mit | |
Koblenz so viel über Menschenrechte erzählt haben, sind jetzt pro Israel. | |
Und sie lehnen jegliche Diskussion und jegliche Kritik am israelischen | |
Staat ab und beschreiben das als Antisemitismus. Dieser Vorwurf kommt so | |
schnell. Man muss gegen die Kriminalisierung der pro-palästinensischen | |
Bewegung vorgehen und gegen das Silencing von allen, die Palästina | |
unterstützen. | |
Als eine syrisch, palästinensische Person, die diese Gerichtserfahrung hier | |
in Deutschland gemacht hat und dem deutschen Staat dankbar gewesen ist, | |
dass er mir das ermöglicht hat, werde ich jetzt mundtot gemacht in meinem | |
Kampf für Palästina. Ich wurde von der Polizei geschlagen und habe sogar | |
eine Anzeige bekommen. Jetzt fällt es mir schwer zu glauben, dass der | |
deutsche Staat gerecht ist. Eine Seite von meiner Identität wird zelebriert | |
und die andere wird unterdrückt. Und dann liefert der deutsche Staat auch | |
noch Waffen für den Genozid. Ich verstehe das nicht. Das deutsche | |
Rechtssystem hat mir meine Rechte zurückgegeben und gleichzeitig lehnt er | |
einen Prozess gegen Netanjahu ab. | |
taz: Der Internationale Gerichtshof prüft derzeit, ob es sich um einen | |
Genozid handelt. Konkret meinen Sie den Haftbefehl des Internationalen | |
Strafgerichtshofs gegen den israelischen Ministerpräsidenten, zu dem sich | |
deutsche Politiker zurückhaltend bis ablehnend positioniert haben. | |
Hawash: Ja, genau. Und dass sich der deutsche Staat bedingungslos für eine | |
Rechtsregierung in Israel einsetzt. Ich fühle mich durch den deutschen | |
Staat instrumentalisiert. Sie stehen für Menschenrechte in einem Land und | |
die Rechte der Palästinenser erkennen sie nicht an. Das führt bei mir zu | |
Zweifeln an dieses Gerechtigkeitsgefühl, das ich in Koblenz entwickelt | |
habe. Es ist ein moralisches Dilemma. Und ich frage mich jetzt, wie kann | |
das in Deutschland für mich persönlich überhaupt weitergehen? | |
2 Jan 2025 | |
## AUTOREN | |
Sabine am Orde | |
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