# taz.de -- Willkommenskultur in Deutschland: Gekommen, um zu bleiben? | |
> Nach dem Sturz des Assad-Regimes in Syrien hat Deutschland die Chance, | |
> ein neues Kapitel in der Migrationspolitik zu schreiben. | |
Bild: Fast eine Million mit Deutschland verbundene Syrer sind ein Pfund, die de… | |
Wenige Wochen nach dem Sturz des Assad-Regimes in Syrien weiß man in | |
Deutschland immer noch nicht so recht, wie man mit hier lebenden Syrerinnen | |
und Syrern umgehen soll. Einerseits will man die vor fast zehn Jahren zu | |
uns geflohenen Menschen so schnell wie möglich wieder loswerden. | |
Andererseits weisen Fachpersonen aus dem Gesundheitssektor sowie der | |
Wirtschaft und dem Gastgewerbe darauf hin, dass die bisherige | |
Integrationspolitik durchaus erfolgreich war. Der Verlust syrischer | |
Arbeitskräfte würde die Wirtschaft und Dienstleistungen empfindlich | |
treffen. Bei nüchterner Betrachtung also könnte man damit Zukunftschancen | |
für Deutschland verspielen. | |
Schon einmal wurden mit der Flüchtlingsrückkehr die Weichen falsch | |
gestellt. In den 90er Jahren hatten mehr als 350.000 Vertriebene aus | |
Bosnien und Herzegowina in Deutschland Schutz gesucht. | |
Sie waren Opfer der Verbrechen der „ethnischen Säuberungen“, deren | |
Dimension in der deutschen Öffentlichkeit bis heute nicht bewusst ist. Bei | |
der [1][Eroberung Bosniens] gingen die serbischen Soldaten und Freischärler | |
wie die russische Soldateska heute in der Ukraine vor: Greife mit | |
Artillerie an und töte. | |
Von 4,5 Millionen Einwohnern wurden aus den eroberten Gebieten in | |
[2][Bosnien insgesamt mehr als 2 Millionen Menschen zur Flucht] gezwungen. | |
Zehntausende wurden von der serbischen Soldateska getötet, vergewaltigt, in | |
Lager gesteckt. Ab 1992 erreichten Hunderttausende Bosniaken und Kroaten, | |
aber auch Kosovaren und serbische Kriegsdienstverweigerer Deutschland. | |
## Hilfsbereitschaft im Sommer 1990 | |
Die deutsche Bevölkerung war hilfsbereit. 1990 erinnerten sich viele der | |
fast 20 Millionen Deutschen an ihre eigene Flucht 1944 aus den deutschen | |
Ostgebieten, an die Entbehrungen, die Übergriffe, die Vergewaltigungen. | |
Die Menschen aus Ostpreußen, Schlesien und Pommern wussten, was es hieß, | |
wehrlose Flüchtlinge zu sein. Die Hilfsbereitschaft war groß. Doch auch die | |
Widerstände wuchsen. Zu viele Fremde wurden lästig. Vor allem, nachdem klar | |
war, dass ein großer Teil der bosnischen Flüchtlinge Muslime waren. | |
Als Kriegsflüchtlinge eingestuft, sollten die Bosnier sofort nach einem | |
Friedensschluss das Land wieder verlassen. Nach dem Friedensabkommen von | |
Dayton im November 1995 sollten vor allem die Bosniaken, also die | |
bosnischen Muslime, schleunigst zurück in „ihre Heimat“ gebracht werden. Es | |
kam zum Teil zu ruppigen, „unschönen Szenen“ bei der Abschiebung. | |
## Europäische Muslime wurden abgeschoben | |
Es sträubten sich vor allem die Frauen, in ihren Dörfern und Heimatorten, | |
aus denen sie vertrieben waren, nach der Rückkehr ihren Vergewaltigern zu | |
begegnen. Auch die in Konzentrationslagern gedemütigten überlebenden Männer | |
wollten nicht zurückkehren. Zum Glück öffneten die USA, Kanada, Australien | |
ihre Grenzen für die europäischen Muslime. | |
Die bosnische Diaspora dort hat sich gut eingelebt. Die sehr viel später | |
aus Bosnien angeworben Arbeitskräfte gelten heute als leicht integrierbar. | |
Das Bild Deutschlands ist bei den Bosniern deshalb bis heute zwiespältig | |
geblieben, einerseits die Hilfsbereitschaft der Deutschen, andererseits | |
mitleidslose Härte. | |
## Komplexe syrische Identität | |
Liegen mit den Syrern die Dinge anders? Immerhin bewegt sich nach den | |
anfänglichen Abschiebeaufrufen der Rechten jetzt die Diskussion in Europa | |
wieder in eine akzeptablere Richtung. Jetzt sollte es nicht mehr darauf | |
ankommen, die Flüchtlinge sogleich in ein Flugzeug zu setzen, um sie | |
loszuwerden. | |
Man muss akzeptieren, dass es sich bei Syrien um eine multinationale und | |
multireligiöse Gesellschaft mit einer langen Geschichte handelt, deren | |
Komplexität nicht richtig verstanden wird. | |
In Syrien diskutierte man komplexe philosophisch-religiöse Fragen, als bei | |
uns noch der Met aus Hörnern getrunken wurde. In Syrien war Aramäisch, die | |
Sprache Christi, ebenso verbreitet wie Hebräisch, später dann Arabisch | |
sowie andere Sprachen. | |
## Reiches kulturelles Erbe Syriens | |
Syrien wie Ägypten, Judäa, Palästina und das Zweistromland gehört zu einer | |
Region, in der alte Kulturen tief verwurzelt sind. Keineswegs sollte man | |
gegenüber dieser historischen Tiefe respektlos und leichtfertig die eigene | |
westliche Kultur als überlegen ansehen. | |
Die aufgeblasenen, primitiven Spielarten des islamischen Extremismus als | |
die [3][Kultur Syriens zu definieren], ist jedenfalls falsch und entspricht | |
dem primitiven Denken der AfD auf der anderen Seite. | |
Wir sollten darauf achten, dass die [4][syrischen Flüchtlinge in ihrer | |
Komplexität] betrachtet werden. Natürlich gibt es da alle Richtungen, | |
Alawiten, hanafitische wie islamistische Muslime, Schiiten, Christen, | |
Drusen und westlich denkende Kurden. | |
Es gibt aber traditionell auch jene gebildete und von den Assads fast | |
völlig zerstörte Mittelschicht, die multikulturell geprägt war. Diese | |
Mittelschicht konnte sich im europäischen Exil wieder etwas erholen. | |
## Große Bereicherung für Deutschland | |
Diese [5][reichhaltige syrische Gesellschaft] könnte tatsächlich zu etwas | |
Positivem führen: erstens, wenn sie richtig behandelt wird, zweitens, wenn | |
die jetzige Führung in der Tat die Tradition wieder achten will, drittens, | |
wenn sie die Islamisten in den eigenen Reihen in Zaum hält sowie viertens, | |
wenn die umliegenden Staaten Ruhe geben. | |
Die deutsche [6][Politik könnte sich auf ihre Pluspunkte besinnen]. Fast | |
eine Million mit Deutschland verbundene Syrer sind ein Pfund. Wenn die | |
Ärzte und Intellektuellen, Techniker und Ingenieure, die bei uns Fuß | |
gefassten haben, sich direkt oder von Deutschland aus für den Wiederaufbau | |
engagieren, dann wäre das was. | |
Militärisch ist Deutschland natürlich keine Macht, immerhin aber kann | |
Deutschland Know-how für den Wiederaufbau einbringen. Man denke nur an die | |
vorbildliche Arbeit des Technischen Hilfswerks. | |
Auch bei Eigentums- und Rechtsfragen hatte man auf dem Balkan zu vielen | |
Lösungen beigetragen. Doch eine Rückkehrstrategie sollte vor allem Respekt | |
gegenüber einer Gesellschaft zeigen, die sich erst wieder finden muss. | |
2 Jan 2025 | |
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## AUTOREN | |
Erich Rathfelder | |
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