| # taz.de -- Bilanz zum 10. Jubiläum meiner Flucht: Wie alles ganz anders gekom… | |
| > Meine Flucht aus Syrien liegt nunmehr zehn Jahre zurück. Ich bin für | |
| > vieles unendlich dankbar. Zugleich wird mir Deutschland immer fremder. | |
| Bild: Willkommenskultur, das war mal: Freiwillige Helfer*innen erwarten Geflüc… | |
| Dieses Jahr würde ich das zehnjährige Jubiläum meiner Flucht aus Syrien | |
| „feiern“ – aber dieses Wort ist sehr unpassend, denn niemand feiert | |
| wirklich, dass er oder sie flüchten musste. Dass er oder sie die Heimat, | |
| die Familie, die Vergangenheit und die bekannten Orte und vertrauten | |
| Netzwerke zurücklassen musste. Viele intelligente, berühmte und | |
| wortgewandte Menschen haben Texte über Flucht verfasst, und doch weiß man | |
| erst wirklich, was für eine Zäsur eine Flucht ist, wenn sie dann hinter | |
| einem liegt. | |
| Vor zehn Jahren, genau zu dieser Jahreszeit, bin ich aus meiner Heimat | |
| geflohen. Ich empfand zuerst große Erleichterung, dass ich die | |
| vorangegangenen drei Jahre voller Angst und Trauer hinter mir lassen | |
| konnte, dass ich es tatsächlich über die syrische Grenze geschafft hatte. | |
| Viele meiner Freunde und Verwandten wurden verfolgt, verschleppt – oder | |
| ihnen gelang die Flucht nicht. Ich habe meine Heimat nicht direkt zu Beginn | |
| des Konflikts verlassen, sondern noch drei Jahre im Krieg verbracht. Ein | |
| Tag im Krieg ist sehr lang, weil so viel passiert und sich alles schnell | |
| verändern kann – das verstehen nur diejenigen, die [1][den Krieg] selbst | |
| erlebt haben. | |
| Als ich endlich raus war, hatte ich klare Ziele vor Augen: Arbeit und | |
| Unterkunft finden, die Sprache meines neuen Aufenthaltsortes lernen und | |
| mein Studium fortsetzen. | |
| Doch das Schicksal hatte andere Pläne: Die Unterkunft, zu der ich wollte, | |
| gab es gar nicht; und statt in Antalya einen Studienplatz zu suchen, musste | |
| ich nach Istanbul und mir einen Job suchen, um zu überleben. Das klingt | |
| vielleicht aus heutiger Sicht dramatisiert, aber wenn man kaum Erspartes | |
| und keine nützlichen Verbindungen hat, fühlt es sich in so einer Situation | |
| so an. Ich fand einen Schlafplatz in einem Zimmer, dass ich mir mit mehr | |
| als 20 anderen jungen Männern teilte, vor allem Syrern in ähnlichen | |
| Positionen wie ich. | |
| Das interessante bei uns Menschen ist, dass wir oft glauben, unser | |
| Schicksal wäre einzigartig. Ich fand einen Job in einer Textilfabrik und | |
| kam nur zum Schlafen in meine Massen-WG – und trotzdem glaubte ich noch ein | |
| paar Monate lang weiter an meinen Plan, das Studium fortsetzen zu können. | |
| Nun, da ich heute im Hamburger Grindelviertel sitze und diese Kolumne | |
| schreibe, wisst ihr, dass alles ganz anders gekommen ist. Ich bin einer der | |
| Geflüchteten, die im Herbst 2015 auf dem Höhepunkt der deutschen | |
| „[2][Willkommenskultur]“ ins Land kamen, und aus heutiger Sicht einer | |
| derjenigen, die zu den „Guten“ gezählt werden würden. Das hoffe ich | |
| jedenfalls! | |
| Das Leben, das ich heute lebe, ist ein Luxus, von dem viele Geflüchtete | |
| träumen. Vor allem Syrer*innen, die noch in der Türkei sind und dort | |
| zunehmendem [3][Rassismus] ausgesetzt sind. Oder Syrer*innen, die aktuell | |
| vor einem neuen Krieg im Libanon erneut flüchten müssen, manche sogar | |
| zurück nach Syrien. | |
| In Deutschland hatte ich viele Chancen und konnte endlich wieder Kontrolle | |
| über mein Leben erlangen. Ich habe neue Freunde, Liebe, Familie und Arbeit | |
| gefunden, wofür ich unendlich dankbar bin – wie viele andere Geflüchtete | |
| auch. Und doch finde ich auch Anlässe, mich über Deutschland zu beschweren. | |
| Ziemlich oft sogar, sagt meine Frau. | |
| Ich weiß nicht genau wie, aber obwohl Hamburg mir immer vertrauter wird, | |
| wirkt Deutschland zunehmend fremder. Die Art und Weise, wie [4][aktuell | |
| über Geflüchtete gesprochen und diskutiert wird] (mehr als „Bett, Seife, | |
| Brot“ dürfe man ihnen nicht geben), entmenschlicht uns und unsere | |
| Geschichten. Ja, ich sage hier ausnahmsweise mal „uns“, weil auch nach zehn | |
| Jahren fühle ich mich manchmal noch wie ein Flüchtling. | |
| 5 Nov 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Hussam Al Zaher | |
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