| # taz.de -- Debatte um Asyl und Migration: Perfide Sippenhaft | |
| > Die Parteien der Mitte wollen der AfD möglichst viele Stimmen wegnehmen, | |
| > indem sie versuchen, rechter zu wirken als die Rechten selbst. Das ist | |
| > fatal. | |
| Bild: Herzlich willkommen an der deutsch-österreichischen Grenze | |
| Vor einigen Tagen rief mich ein Freund an, von dem ich schon lange nichts | |
| mehr gehört hatte. „Ich bin seit ein paar Monaten in Deutschland. | |
| Hoffentlich sehen wir uns bald“, sagte er. Nadeem ist Mitte zwanzig und | |
| stammt aus Afghanistan. Ich sah sein Profilfoto auf Whatsapp. Er sah | |
| gesund, fit und ausgeschlafen aus. Das erleichterte mich, denn mein letztes | |
| Treffen mit ihm lag fast drei Jahre zurück und war alles andere als schön. | |
| Wir befanden uns damals in einer Metallfabrik in Istanbul. Dort lebte | |
| Nadeem und arbeitete mit zwei anderen Afghanen meist zwölf bis vierzehn | |
| Stunden am Tag. Eine kleine Ecke im kalten Gebäude diente ihnen als | |
| Schlafplatz. | |
| Wir saßen auf einer kargen Matratze und tranken Tee, während mir die Jungs | |
| ihre Geschichten erzählten. Sie wurden von der Polizei drangsaliert, von | |
| ihren türkischen Dienstherren ausgebeutet und von kriminellen Gruppen | |
| bestohlen. In Griechenland hatten sie [1][Pushbacks u]nd Folter im | |
| Gefängnis erlebt und in ihrer Heimat herrschten seit geraumer Zeit die | |
| militant-islamistischen Taliban wieder. | |
| Der Alltag von Nadeem und seinen Freunden deprimierte mich und ich stellte | |
| mir die Frage, was aus ihnen wird. Die Türkei war zum brutalen Türsteher | |
| der EU geworden und interessierte sich wenig für das Leid der Menschen. | |
| Massenabschiebungen nach Afghanistan finden bis heute statt, während | |
| Ressentiments gegenüber Geflüchteten in der Gesellschaft weit verbreitet | |
| sind. | |
| Dass Nadeem es nun trotz aller Gefahren nach Deutschland geschafft hat, | |
| stimmte mich zunächst glücklich. Doch mittlerweile mache ich mir nicht nur | |
| Sorgen um ihn, sondern auch um all die anderen Menschen, die in den | |
| vergangenen Jahren hierzulande Schutz gefunden haben. | |
| Abschiebungen, Grenzkontrollen, Gefangenenlager. Der Migrationsgipfel ist | |
| geplatzt, der Flucht- und Asyldiskurs ist so rechtslastig wie schon lange | |
| nicht mehr, die Sprüche und Vorschläge der Ampel unterscheiden sich kaum | |
| noch von jenen der AfD. Da sind Björn Höckes Rassenwahn, die | |
| Remigrationsfantasien der mit Martin Sellner und den Identitären verwobenen | |
| Jungen Alternative und ein Tino Chrupalla, der zur TV-Primetime die SS | |
| verharmlost. „Ui“ war die Reaktion des Moderators Markus Lanz darauf. | |
| ## Rechter wirken als die Rechten | |
| Die sogenannten Parteien der Mitte haben seit geraumer Zeit den Entschluss | |
| gefasst, der AfD möglichst viele Stimmen wegzunehmen, indem sie einfach | |
| deren Sprech imitieren oder gar versuchen, rechter zu wirken als die | |
| Rechten. Dies passiert dann meist auf Kosten anderer. | |
| [2][CDU-Chef Friedrich Merz etwa machte am vergangenen Wochenende klar, | |
| dass Migration für die Überlastung in nahezu allen Lebensbereichen | |
| verantwortlich sei]. Seine darauf folgende und von vielen Beobachtern | |
| hervorgehobene Relativierung, dass es in Deutschland auch „fantastische“ | |
| Menschen mit Migrationsgeschichte gebe, änderte nichts an dem Umstand, dass | |
| vor allem ein Narrativ wieder einmal dominant geworden ist: Der Ausländer | |
| ist an allem schuld. | |
| Dass das nicht stimmt, wissen auch die verantwortlichen Politiker. | |
| [3][Deutschland würde stillstehen], wenn es einmal eine Art „Migrastreik“ | |
| geben würde. Umso perfider ist, dass sie mit ihrer Rhetorik Millionen von | |
| Menschen kriminalisieren, in Sippenhaft nehmen und überwachen wollen. Dies | |
| geschieht etwa, wenn über den Terror von Solingen oder Mannheim gesprochen | |
| wird. | |
| Die meisten Menschen aus Syrien und Afghanistan sind vor Krieg und Terror | |
| geflüchtet und haben weder mit den Regimen in ihren Heimatländern noch mit | |
| ihren Ideologien etwas gemein. Sie wollen einfach nur in Ruhe leben und | |
| „wie du und ich ein Sandwich essen“, wie es der US-Schauspieler Ben Affleck | |
| einst treffend auf den Punkt brachte, als er sich bei Comedian Bill Maher | |
| islamfeindliche Stereotypen anhören musste. | |
| Warum so ein banaler Satz wichtig ist, wird auch in diesen Tagen wieder | |
| klar: Während in Talkshows oder auf dem „Migrationsgipfel“ debattiert, | |
| diskutiert, relativiert und polemisiert wird, haben echte, real | |
| existierende Menschen die Konsequenzen zu tragen. Menschen wie mein Freund | |
| Nadeem wissen, dass sie nun mehr kontrolliert werden, womöglich noch länger | |
| auf ihren Asylbescheid warten müssen oder vielleicht sogar abgeschoben | |
| werden. Auch mir fällt auf, wie sehr sich die Blicke von Passanten in den | |
| vergangenen Wochen verändert haben. Und dass ich während meiner nächsten | |
| Rückfahrt aus Österreich an der bayerischen Grenze wieder einmal [4][mit | |
| racial profiling begrüßt] werde, ahne ich jetzt schon. | |
| ## Taliban und ihre Gender-Apartheid | |
| Die Antwort auf die Frage, wohin uns all dies führen wird, ist weiterhin | |
| unklar. Ein Blick auf die Gegenwart ist grausig genug: Jüngst gratulierte | |
| Viktor Orbán dem Bundeskanzler auf X persönlich für seinen neuen | |
| Migrationskurs. Nach dem letzten Abschiebeflug nach Kabul heißt es | |
| offiziell seitens des Migrationsbeauftragten der Bundesregierung, dass man | |
| für Gespräche mit den Taliban offen sei. Zur Erinnerung: Das sind jene | |
| Kräfte, die Nato, USA und Deutschland bis 2021 zwanzig Jahre lang bekämpft | |
| hatten. Nur um sie am Ende wieder an die Macht zu bringen. | |
| Während man in Berlin nur noch über Afghanistan spricht, sofern es um | |
| Abschiebungen geht, drücken [5][die Taliban ihre Gender-Apartheid] durch, | |
| bedrohen Journalisten, verhaften und foltern Kritiker aufgrund von | |
| Facebook-Kommentaren. Unter diesen Menschen befinden sich auch viele, die | |
| immer noch auf deutsche Hilfe hoffen. Immerhin existiert das | |
| Bundesaufnahmeprogramm weiterhin. In die Praxis umgesetzt wird es | |
| allerdings kaum. | |
| Noch im vergangenen Jahr mutmaßte ich gemeinsam mit einem befreundeten | |
| Journalisten, der auch oft aus Afghanistan berichtet, warum das wohl so | |
| ist. Er sagte: „Ich denke, da sitzen einfach viele Leute, die denken: bloß | |
| keine neuen Zuwanderer mit Bart und Kopftuch.“ Mittlerweile scheinen nicht | |
| nur Rechte so zu denken, sondern zunehmend Menschen, die sich als | |
| gesellschaftliche Mitte verstehen. | |
| 12 Sep 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Emran Feroz | |
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