# taz.de -- Eindrücke aus der syrischen Hauptstadt: Kommt jetzt das bessere Le… | |
> Schlangestehen vor den Banken, „Allahu Akbar“-Rufe vor den Bars. Zwei | |
> Wochen nach der Befreiung ist die Stimmung in Damaskus ambivalent. | |
Bild: Ein Café in der Altstadt von Damaskus, Sonntag 22. Dezember | |
Damaskus taz | Dutzende Menschen pressen sich an das riesige Gebäude der | |
Syrischen Handelsbank am Kreisverkehr Yousef al-Azmeh in Damaskus. Es sind | |
ältere Männer mit Bart, jüngere in Jeans und Mützen, Frauen mit bunten | |
Kopftüchern. Einige versuchen ungeduldig, einen Blick auf die erste Reihe | |
zu erhaschen, andere schauen resigniert vor sich hin. Eine ältere Frau | |
brüllt ihren Platznachbar an. | |
Es ist der 22. Dezember, Rentenzahlungen und Gehälter sollten bereits auf | |
den Bankkonten sein. Doch weil das Regime von Baschar al-Assad vor zwei | |
Wochen kollabiert ist und sich die neue Regierung gerade erst formiert, ist | |
vielen noch unklar, ob ihre Gehälter diesen Monat die Banken erreichen. | |
Strahlend lächelt ein Mann mittleren Alters mit Wollmütze und grauem Bart, | |
während er sich durch die Menge kämpft, zwei Geldscheinbündel in der Hand. | |
„Ich stand fünf Stunden lang in der Schlange!“, verkündet er. Für 280.000 | |
syrische Pfund, etwa 20 Euro, so niedrig ist ein Monatsangestelltengehalt. | |
Zum Vergleich: Etwa 18 Euro kostet eine Flasche Gas, die man zum Kochen und | |
Heizen braucht. Und doch sagt der lächelnde Mann: „Ich bin optimistisch für | |
unsere Zukunft.“ | |
Eine ältere Frau klagt hingegen, man sagte ihr, es gebe kein Geld mehr. | |
Eine weitere sagt, man erwarte jetzt viel von der neuen Regierung: Eine | |
bessere Stromversorgung – derzeit ist sie auf vier Stunden pro Tag | |
beschränkt – und höhere Löhne, Stabilität, Schutz vor einer israelischen | |
Besatzung, Sicherheit, jetzt, wo der alte Sicherheitsapparat zerlegt wurde | |
und ein neuer entstehen soll. Manche beschweren sich über Raubüberfälle, | |
vor allem nachts, außerhalb der Stadt. | |
## Die neue Übergangsregierung steht | |
Am 8. Dezember haben in Damaskus [1][Rebellen die Macht übernommen]. | |
Präsident Baschar al-Assad [2][flog nach Russland], zwei Tage später gab | |
Premierminister Mohammad al-Jalali sein Amt offiziell auf. | |
Inzwischen stehen 16 Minister der neuen Übergangsregierung der | |
Rebellengruppe [3][HTS (Hayat Tahrir al-Sham)] fest, die in einer | |
Blitzoffensive das Assad-Regime stürzte. Der neue Premierminister Mohammed | |
al-Baschir war bereits seit Januar Premierminister der sogenannten | |
„Heilsregierung“ der HTS in der Rebellenhochburg Idlib im Nordwesten des | |
Landes. Der 41-Jährige ist eigentlich Diplomingenieur und Jurist. Vor dem | |
syrischen Bürgerkrieg arbeitete er in einem staatlichen Gasunternehmen, | |
doch nach 2011 sattelte er in die Politik um. | |
In verschiedenen Interviews betonte der bärtige Mann in Krawatte und Anzug | |
die Notwendigkeit, Dienste wie Schulbildung, Stromversorgung und | |
Gesundheitswesen fortzuführen, und appellierte an syrische Geflüchtete im | |
Ausland, nach Syrien zurückzukehren. „Jetzt ist es für dieses Volk an der | |
Zeit, Stabilität und Ruhe zu genießen“, sagte er dem TV-Sender Al Jazeera | |
kurz nach seiner Berufung. Es habe Treffen mit Mitgliedern der alten | |
Regierung und der aus Idlib gegeben, um die Arbeit der nächsten zwei | |
Monaten zu gewährleisten, bis ein neues Verfassungssystem fertig sein wird. | |
Am Samstag hat die neue Regierung weitere Posten besetzt. Der neue | |
Verteidigungsminister Murhaf Abu Qasra war laut Reuters eine prominente | |
Figur bei der Rebellenoffensive gegen Assad, unter dem Kampfnamen Abu | |
Hassan soll er mehrere militärische Operationen geleitet haben. Der bärtige | |
Ex-Landwirtschaftsingenieur und Kommandeur in olivgrünem Sakko ist | |
HTS-Verbündeter ebenso wie der neue Außenminister Assad Hassan al-Shibani, | |
ein 37-jähriger promovierter Politikwissenschaftler, der vor seiner | |
Ernennung in der Regierung in Idlib arbeitete. | |
Fast alle neuen Minister waren zuvor in der HTS-nahen „Heilsregierung“ in | |
Idlib aktiv. Der HTS-Anführer selbst, [4][Ahmed al-Sharaa alias Abu | |
Mohammad al-Jolani], spielt weiter eine entscheidende Rolle und gibt sich | |
aktuell große Mühe, die Rebellen – die international als Terrororganisation | |
gelistet sind – als gemäßigt, inklusiv und friedensstiftend zu zeigen. | |
„Menschen, die sich vor einer islamischen Regierung fürchten, haben | |
entweder eine inkorrekte Umsetzung davon gesehen, oder haben sie nicht | |
verstanden“, sagte er in einem CNN-Interview. Und zu den Minderheiten: „Es | |
muss einen gesetzlichen Rahmen geben, der die Rechte aller schützt.“ Die | |
neue Regierung besteht ausschließlich aus Männern, lediglich die Abteilung | |
für Frauenangelegenheiten wird weiblich geführt. | |
## Demonstrationen und Provokationen | |
Vor wenigen Tagen haben junge Menschen in Damaskus für Gleichberechtigung | |
und gegen eine Islamisierung der Politik protestiert. Unter ihnen waren | |
auch viele Frauen ohne Kopftuch. Bewaffnete Milizionäre schauten gelassen | |
zu. In Damaskus gehen unverschleierte Frauen allein oder in Gruppen durch | |
die Stadt spazieren. Einige äußern jedoch in Gesprächen Bedenken, sich | |
nachts aus dem Haus zu trauen. Sie trauen den neuen Machthabern noch nicht. | |
Und sie sind nicht die einzigen. „Ich bin besorgt und möchte eine | |
Regierung, die alle Ethnien mit einschließt“, sagt ein christlicher Mann in | |
den Straßen von Damaskus. In den Gassen der Altstadt hängen | |
Weihnachtsdekorationen, bunte Lichter leuchten quer über die Straßen. Am | |
Freitagabend waren viele Bars im christlichen Viertel geöffnet. | |
Entspannt war die Lage trotzdem nicht. Eine Gruppe junger Männer fuhr | |
direkt an den Restaurants vorbei, schrie mehrfach „Allahu Akbar“. Heimische | |
und ausländische Besucher*innen erstarrten mit ihren Gläsern Wein und | |
Arak in der Hand, manch einer blickte kreidebleich nach draußen, ein | |
weiterer murmelte was von „Daesh“ („Islamischer Staat“). Dann fuhren die | |
Jungs weg. Eher Provokation als Gefahr. Und doch fühlen sich Christen nicht | |
ganz sicher – wenn es auch bislang keine Vorfälle gab. Männer in Zivil | |
patrouillieren die Gegend mit ihren Kalaschnikows. | |
## Deutsche Diplomaten waren schon da | |
In der Zwischenzeit haben westliche Regierungen angefangen, Kontakt zur | |
neuen Regierung aufzunehmen. Am vergangenen Dienstag führte bereits eine | |
deutsche Delegation Gespräche mit al-Sharaa. „Jede Zusammenarbeit setzt | |
voraus, dass ethnische und religiöse Minderheiten geschützt und die Rechte | |
von Frauen geachtet werden“, teilt auf Nachfrage das Auswärtige Amt mit. Es | |
herrsche jedoch Einigkeit, „einen syrisch geführten politischen | |
Übergangsprozess unter Einbezug aller religiösen und ethnischen Gruppen zu | |
unterstützen“. | |
Ungeachtet der Frage um ihre ideologische Ausrichtung steht die neue | |
syrische Regierung vor riesigen Herausforderungen. Nicht nur soll sie eine | |
völlig zerstörte Wirtschaft und Infrastruktur wiederaufbauen und den Staat | |
wieder zum Funktionieren bringen. | |
Sie muss eine Vielzahl an verschiedenen Gruppen in den verschiedenen | |
Landesteilen unter Kontrolle behalten, um neue Konflikte zu vermeiden: | |
Drusen im Südwesten, kurdische Milizen im Nordosten, Gruppen ehemaliger | |
Armeeoffiziere im Süden, Türkei-nahe Milizen im Norden, um nur die | |
wichtigsten zu nennen. Und gleichzeitig muss sie eine Wiederbelebung des IS | |
im Landesinneren verhindern, ethnische und politische Racheakte vermeiden | |
sowie den [5][Kämpfen zwischen Kurden und protürkischen Milizen] im | |
Nordosten ein Ende setzen. | |
„Auf der nationalen Ebene besteht die Herausforderung, dass sich andere | |
Rebellengruppen in der neuen Ordnung nicht ausreichend beteiligt sehen und | |
ihrerseits gegen die HTS rebellieren könnten“, sagt Syrien-Experte André | |
Bank vom deutschen Politikinstitut GIGA. Die Interimsregierung soll bis | |
März im Amt bleiben. Wie es danach weitergeht und ob die Erwartungen in | |
Erfüllung gehen, bleibt unklar. | |
24 Dec 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Machtwechsel-in-Syrien/!6051434 | |
[2] /Syrischer-Ex-Diktator-im-Exil/!6051642 | |
[3] /Die-HTS-in-Syrien/!6049870 | |
[4] /Syriens-Rebellenchef-Mohamed-al-Jolani/!6055162 | |
[5] /Tuerkische-Angriffe-auf-Kurden-in-Syrien/!6052144 | |
## AUTOREN | |
Serena Bilanceri | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Syrien | |
Damaskus | |
GNS | |
Recherchefonds Ausland | |
Migration | |
Schwerpunkt Syrien | |
Schwerpunkt Syrien | |
Terrorismusbekämpfung | |
Schwerpunkt Syrien | |
Pressefreiheit in der Türkei | |
Schwerpunkt Syrien | |
Schwerpunkt Syrien | |
Schwerpunkt Syrien | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Willkommenskultur in Deutschland: Gekommen, um zu bleiben? | |
Nach dem Sturz des Assad-Regimes in Syrien hat Deutschland die Chance, ein | |
neues Kapitel in der Migrationspolitik zu schreiben. | |
Syrer*innen nach dem Sturz Assads: Auf der Suche nach der Heimat | |
Seit dem 8. Dezember frage ich mich wie viele Syrerinnen und Syrer im Exil, | |
ob ich hierbleiben oder zurück nach Syrien gehen soll. | |
+++ Nachrichten aus Syrien +++: Islamisten geben Frauen Machtpositionen | |
HTS ernennt Gouverneurin und Zentralbankchefin, EU-Diplomat trifft neuen | |
Außenminister, Frankreich bombardiert IS-Standorte. | |
HTS als Terrorvereinigung: Verhaftung von Abu Mohammad al-Jolani? | |
Die neuen syrischen Machthaber vom Milizenbündnis HTS gelten in Deutschland | |
noch als Terroristen. Bundesjustizminister Volker Wissing wartet noch ab. | |
Nach dem Umsturz in Syrien: Schlechte Stimmung zwischen Teheran und Damaskus | |
Die neuen Machthaber in Syrien sollten sich nicht zu früh über ihren Sieg | |
freuen, sagt der iranische Außenminister Abbas Araghtschi. Sein syrischer | |
Amtskollege wiederum warnt Iran davor, „Chaos zu verbreiten“. | |
Nach dem Umsturz in Syrien: Zwei kurdische JournalistInnen durch Drohne getötet | |
Bei Kämpfen in Nordsyrien sind mehrere Zivilisten, darunter zwei kurdische | |
JournalistInnen getötet worden. Offenbar mit türkischer Unterstützung. | |
Foltergefängnis in Syrien: Der Ort, an dem Albträume beginnen | |
Aus dem syrischen Gefängnis von Sednaya kamen vor einer Woche Tausende | |
Inhaftierte frei. Angehörige suchen nun weiter nach Vermissten. | |
Sturz des Assad-Regimes: Freut euch über Syrien! | |
Große Teile der hiesigen Öffentlichkeit begegnen der syrischen Revolution | |
mit massiven Vorbehalten. Wo bleibt die Begeisterung? | |
Ende des Assad-Regimes: Momente, die niemand den Syrern nehmen kann | |
Aufgebrochene Zellen, umgestürzte Statuen, wiedervereinte Familien: Syrien | |
ist ein anderes Land. Ein Essay über die Bedeutung dieses historischen | |
Augenblicks. |