# taz.de -- Foltergefängnis in Syrien: Der Ort, an dem Albträume beginnen | |
> Aus dem syrischen Gefängnis von Sednaya kamen vor einer Woche Tausende | |
> Inhaftierte frei. Angehörige suchen nun weiter nach Vermissten. | |
Bild: Menschen suchen nach den Spuren von Assads Gefangenen im Gefängnis Sedna… | |
Der Weg zur Hölle schlängelt sich langsam zwischen ruhigen Hügeln aus | |
gelbbrauner Erde, grünen Wiesen, herbstfarbenen Bäumen mit goldenen und | |
orangenen Blättern, vorbei an ländlichen Dörfern und christlichen Klöstern. | |
Dutzende schwarze Schafe weiden auf der kargen Weite vor den Toren des | |
Gefängnisses. Für Tausende Männer und Frauen war dieser Weg in den | |
vergangenen drei Jahrzehnten ein Leidensweg. Für viele von ihnen war es der | |
letzte. | |
Es ist unklar, wie viele Männer und Frauen, Zeugen zufolge sogar Kinder, in | |
den Jahren des Assad-Regimes [1][im Sednaya-Gefängnis inhaftiert] wurden. | |
Tausende politische Gefangene und Abtrünnige des Regimes sollen hier | |
zusammen mit Kriminellen festgehalten worden sein. Laut der NGO Amnesty | |
International reichte die Kapazität für bis zu 20.000 Menschen. Etwa 4.000 | |
kamen laut Medienberichten vergangene Woche frei, als die Rebellen der | |
islamistischen Gruppe Tahrir al-Scham das „Menschenschlachthaus“, wie | |
Amnesty International es 2017 nannte, einnahmen. Die Befreiten strömten in | |
die Dörfer und auf die Straßen außerhalb von Damaskus. | |
Dutzende Menschen laufen jetzt, eine Woche nach der Befreiung, immer noch | |
den umgekehrten Weg, zurück in das Gefängnis. Viele von ihnen begleitet | |
Verzweiflung – und Hoffnung. Nicht darauf, im Gefängnis noch lebendige | |
Menschen zu finden, die sind alle längst raus aus Sednaya. Die Rückkehrer | |
hoffen auf eine Spur ihrer verschollenen Angehörigen. | |
Auf dem Parkplatz steht eine Frau in schwarzem Kopftuch und Mantel, sie | |
schreit auf Arabisch vor den Journalist*innen, sie wolle Ex-Präsident | |
Baschar al-Assad zur Rechenschaft ziehen für das, was hinter diesen Wänden | |
geschah. „Wo sind unsere Söhne und Töchter?“, brüllt sie. Die Frau, Ayush | |
Musa al-Hasan, lebt im Umland von Aleppo. Ihr Sohn sei 2013 als Soldat der | |
syrischen Armee in Dara’a stationiert worden. Man habe ihn verhaftet, | |
nachdem er seinen Kameraden sagte, er wolle bei Gefahr fliehen. 1.000 | |
Dollar habe die Information nach seinem Verbleib sie gekostet. | |
Zwei Tage lang habe sie [2][nach der Befreiung] der Gefangenen zu Hause auf | |
ihren Sohn gewartet, dann sei sie hierher geeilt, bis 2 Uhr nachts stand | |
sie vor den Toren. Seitdem kommt sie jeden Tag hierher. „Wieso gräbt man | |
nicht weiter, wo sind die Maschinen?“, klagt sie. Hartnäckig hält sich das | |
Gerücht, es befänden sich noch Gefangene in unterirdischen, geheimen Zellen | |
– obwohl Zivilschutz und Vereine offiziell bestätigt haben, dass es keine | |
Gefangenen mehr in Sednaya gibt. Neben al-Hasan recken weitere Angehörige | |
Bilder ihrer verschwundenen Söhne in die Luft. Eine ältere Frau fällt fast | |
in Ohnmacht. | |
## Über 13.000 Hinrichtungen zwischen 2011 und 2015 | |
Auf dem Hügel thront das dreiarmige Gebäude aus Beton. In den leeren Fluren | |
und Räumen hängt noch ein metallischer, süßlicher Geruch. Die dunklen | |
Eingangsräume, weiß gestrichen, mit abgekratztem, schmutzigem Putz, der | |
Boden voller Trümmer, führen zu einer Wendeltreppe, die sich über drei | |
Etagen erstreckt. Hier münden die Flure in die oberirdischen Zellen: die | |
größeren, in denen laut Berichten ein Dutzend Menschen und mehr | |
zusammengepfercht waren. | |
Die gelben Wände sind zerkratzt, die Farbe durch Feuchtigkeit abgeplatzt, | |
auf dem Boden kleine Berge von Klamotten, dünne braune Decken, | |
Plastikbecher, leere Schüsseln, als ob man sie hastig weggeworfen hätte. Im | |
Flur liegen Seiten eines Lehrbuchs über Justiz. Fenster gibt es hinter den | |
nummerierten Metalltüren keine. „Gott ist groß“ ist in einer Wand | |
eingeritzt. Und dann Namen: Omar, Qasem, Abu Aziz. | |
Doch Gott scheint vor Sednaya stehen geblieben zu sein. Es ist nicht | |
menschlich und auch nur schwer in Worte zu fassen, was für Gefühle dieser | |
Ort hervorrufen kann – selbst, wenn er menschenleer ist. Die oberen Zellen | |
sind eigentlich die „guten“. Im Untergeschoss füllen kleine, kühle Zellen | |
die Etage. Sie sind nur wenige Quadratmeter groß mit einem kleinen | |
Duschraum, eigentlich Isolationszellen, doch mehrere Gefangene bezeugen, | |
dort hätten teilweise bis zu zwölf Menschen gelebt. Ohne Sonnenlicht, ohne | |
Platz auf den kalten Fliesen, zwischen den modrigen Wänden. Die Botschaft | |
ist klar: Hier sollten Menschen gebrochen, zum Gehorsam gebracht werden. | |
In einer breiten Halle im Erdgeschoss sind Käfige an den Wänden angebracht. | |
Einige Meter lang, etwa ein halber Meter breit. In ihnen sollten offenbar | |
Gefangene stehen. Wozu, ist unklar. Eine Journalistin filmt den Aufbau, sie | |
sagt, einem Ex-Häftling zufolge hätten sie hier Folter und Ermordung ihrer | |
Mitgefangenen mit ansehen müssen. In einer Ecke des Gebäudes öffnet sich | |
ein Raum. Vor der Tür liegt das Skelett einer Katze, in dem dunklen Raum | |
ist der Verwesungsgestank selbst bei offener Tür unerträglich. Mehrere | |
schwere Maschinen sind hier untergebracht, zum Schneiden, zum Quetschen. Im | |
Nebenraum steht eine menschengroße Presse, daneben ein Tank, aus dem ein | |
starker Säuregestank herausströmt. Ein Strick hängt draußen von der Wand. | |
Nach Berichten, die nicht unabhängig überprüfbar sind, sollen die | |
Instrumente und die Säure zum [3][Folter- und Leichenbeseitigungs-Inventar] | |
des Gefängnisses gehören. Laut einem Report von Amnesty International aus | |
dem Jahr 2017 könnten bis zu 13.000 Gefangene allein zwischen 2011 und 2015 | |
in Sednaya außergerichtlich hingerichtet worden sein, in der Regel erhängt. | |
Viele mehr könnten durch Folter, Mangelernährung und Krankheiten gestorben | |
sein. | |
## „Dafür gibt es keine Worte“ | |
Wie nennt man einen solchen Ort? Hölle, vielleicht. Es ist der Ort, an dem | |
Albträume beginnen. „Dafür gibt es keine Worte“, bestätigt der Freiwilli… | |
Mahmun al-Slebi. Der junge Mann, mit Gummihandschuhen und Gesichtsmaske | |
ausgestattet, ist heute mit einem Team von Medizin- und | |
Jurastudent*innen in einem alten Minibus nach Sednaya gefahren, um | |
Dokumente und Beweise zu sammeln. „Einige Studenten kamen vor uns hierher | |
und fanden Dokumente, wir hoffen, mehr zu finden“, sagt er. | |
Denn hunderte Blätter liegen verstreut auf dem Boden, in den Räumen und auf | |
den Fluren. Zertrampelt, vom Wind verweht. Es sind möglicherweise Beweise. | |
Al-Slebi und das Team machen sich an die Arbeit, betreten jeden Raum, | |
suchen in jeder Ecke, in jedem Loch. Oberirdisch, unterirdisch. Mit | |
Taschenlampen bewaffnet arbeiten sie sich durch dieses Meer an Papier, | |
selektieren, packen Zettel in Tüten ein. Sie wollen alles aufbewahren und | |
das Material Journalist*innen und Behörden zur Verfügung stellen, ehe | |
es vernichtet wird. | |
Dabei sind Schichttabellen mit Namen von Wärtern, eine sogar vom August | |
2024, Listen von Gefangenen mit dem Datum der Verhaftung und Entlassung, | |
der handgeschriebene Haftbefehl eines Soldaten mit der Begründung: | |
„Terrorismus“. Dokumente, die für die Aufarbeitung und eventuelle | |
Strafverfahren relevant sein könnten. Auf Nachfrage schreibt ein Sprecher | |
der Rebellengruppe Hajat Tahrir al-Scham, man wolle sich mit | |
internationalen Menschenrechtsorganisationen koordinieren. | |
Während al-Slebi sich zum ersten Mal einen Weg durch das labyrinthische | |
Gebäude bahnt, kehrt der ehemalige Häftling Abdul Jabbar Khalas zum Ort | |
seiner Quälerei zurück. Khalas wurde als 15-Jähriger verhaftet. Weil er in | |
einem Restaurant ein Rebellenlied gespielt habe, sagt er. Eigentlich sollte | |
er erhängt werden. Doch seine Familie habe viel Geld bezahlt, damit er am | |
Ende nicht exekutiert und dann freigelassen wurde, sagt er und zeigt das | |
Urteil. Der junge Mann mit dem schwarzen Bart und dem traurigen Blick | |
schaut etwas verloren umher. „Ich kann meine ehemalige Zelle nicht mehr | |
finden, weil uns die Augen immer verbunden wurden, sobald wir innerhalb des | |
Gebäudes bewegt wurden.“ Sein Bruder, der ihn begleitet, habe den Ort | |
seiner Gefangenschaft sehen wollen, daher sei er zurückgekehrt. | |
Khalas berichtet von Schlägen, Elektroschocks an den Genitalien und | |
Zigarettenverbrennungen. Er zieht den Pullover hoch und zeigt zwei Stellen | |
an der Hüfte, die wie kleine, runde Brandwunden aussehen. Im Keller habe er | |
anfangs mit elf anderen Gefangenen gelebt. „Man hatte nur eine Fliese pro | |
Person zur Verfügung“, sagt er und hockt sich hin, um die Stellung zu | |
zeigen. Sein Bruder zückt das Handy und zeigt zwei Bilder: vor und nach der | |
Gefangenschaft. Auf dem zweiten Bild sieht Khalas stark ausgehungert aus, | |
das Gesicht fahl und eingefallen. | |
## Einige Leichen warten noch auf Identifizierung | |
Wirklich abschließen mit dem Geschehenen kann wohl niemand, der von den | |
Schrecken Sednayas heimgesucht wurde. Verwandte von Verschwundenen suchen | |
nun nicht nur in den Gefängnissen nach Spuren, sondern pilgern zu | |
Krankenhäusern und Leichenhallen. | |
Im Al-Mujtahid-Krankenhaus liegt ein älterer Mann in einem Bett neben einem | |
weiteren Patienten, eine Infusion im Arm. Die Luft riecht nach | |
Medikamenten, die Maschinen piepsen. Der Mann kam mit Tuberkulose und einer | |
Hirnblutung aus Sednaya, erzählt Arzt Nizar Sanawbar. Auf Fragen antwortet | |
der Patient nur mühsam in kurzen Sätzen. Er sei auf den Kopf geschlagen | |
worden, jede Woche seien etwa 50 Menschen getötet worden, sagt er. Er habe | |
den Ofen gesehen, in dem Leichen verbrannt wurden. Unter welchen Umständen, | |
ist unklar. „Glücklich“ sei er über seine Freilassung. | |
Helfer berichten von Freigelassenen mit Hautkrankheiten, aber vor allem | |
geistigen Problemen. Manche seien nicht mehr bei sich. Andere haben es | |
nicht mehr auf den eigenen Beinen nach draußen geschafft. „Einer war nur | |
noch eine Tüte mit Knochen“, erzählt Sanawbar. 14 von über 30 Toten | |
warteten noch auf Identifizierung, einige zeigten Zeichen von Verbrennungen | |
und Folter. Sie seien zwischen 16 und 60 Jahren alt gewesen. | |
In der Leichenhalle gehen Familien von einem Körper zum nächsten. Mehrere | |
kommen weinend heraus. Manchen Leichen fehlen die Augäpfel, andere sind | |
verkohlt. „Ich kann sein Gesicht nicht erkennen, ich weiß nicht, ob er es | |
ist“, schluchzt verzweifelt eine Frau in schwarzem Schleier, die ihren | |
vermissten Sohn sucht. | |
In Sednaya haben die Ehrenamtlichen ihren Einsatz inzwischen beendet. | |
Zufrieden sind sie nicht. „Vieles fehlt“, sagt al-Slebi und bricht in | |
Richtung Bus auf. Die Angehörigen suchen weiter. Aus einer der Zellen | |
fliegt ein Spatz heraus. Für manche ist der Weg zur Wahrheit noch lang. | |
Andere finden zurück [4][in die Freiheit]. Sie haben es aus der Hölle | |
geschafft. | |
20 Dec 2024 | |
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