| # taz.de -- Ende des Assad-Regimes: Momente, die niemand den Syrern nehmen kann | |
| > Aufgebrochene Zellen, umgestürzte Statuen, wiedervereinte Familien: | |
| > Syrien ist ein anderes Land. Ein Essay über die Bedeutung dieses | |
| > historischen Augenblicks. | |
| Bild: Büste für die Tonne: Ein Mann tritt auf eine Kopfstatue des Vaters von … | |
| Kairo taz | Es war eine der absoluten Konstanten in der arabischen Welt, | |
| dass die Assads Syrien seit über einem halben Jahrhundert mit eiserner | |
| Faust regieren. So wie der Gebetsruf, der fünfmal am Tag von den Minaretten | |
| der Omayaden-Moschee in Damaskus hallt, oder der Bäcker, der jeden Morgen | |
| im Zentrum der syrischen Hauptstadt aufsperrt. Über 50 Jahre bestimmte die | |
| Autokraten-Familie Assad Millionen, nicht nur syrische Biografien. | |
| Ich habe meine eigene Assad-Zeitrechnung. Als 20-Jähriger habe ich unter | |
| Vater Hafiz al-Assad, in Damaskus für ein Auslandssemester studiert. Die | |
| Angst der Menschen war schon damals greifbar. Über Politik wurde nicht | |
| geredet, denn die Spitzel des Regimes waren überall. In den letzten Jahren | |
| stand ich in Damaskus als Journalist auf der Schwarzen Liste, da meine | |
| Berichte dem Regime nicht genehm waren. Heute, mit 61 Jahren, erlebe ich | |
| nach einer auf den sozialen Medien und vor dem Fernseher verbrachten Nacht | |
| das Ende des Sohnes Baschar al-Assad. [1][Das Regime ist Geschichte.] | |
| Es ist ein historischer Moment, für alle Syrer und Syrerinnen, ob sie im | |
| Land sind oder zu den 12 Millionen zählen, die vor dem brutalen Regime in | |
| alle Teile der Welt geflohen sind. Was sie in den letzten Stunden in Syrien | |
| und in Damaskus erleben, sind hochemotionale Szenen. Der Klassiker sind die | |
| allerorts vom Sockel geholten Assad-Statuen, einst Symbol der zementierten | |
| Macht des Regimes. Aber es sind vor allem die Szenen vor den Kerkern des | |
| Regimes, die besonders bewegen. | |
| Zellen wurden von den Rebellen aufgebrochen, hinter denen Menschen | |
| ungläubig auf die geöffneten Türen starren. Allen voran das berüchtigte | |
| [2][Sednaya-Gefängnis], unter den Syrern auch bekannt unter dem Namen „Der | |
| Schlachthof“. Kleine Kinder kommen aus den Zellen voller Frauen gelaufen. | |
| Sie haben in ihrem Leben nichts anderes als Assads Kerker gesehen. Vor | |
| einer der Geheimdienstzentralen mitten in Damaskus laufen ausgezehrte | |
| Männer in Unterhosen zerstreut über die Straße ihrem neuen Leben entgegen. | |
| ## Herzzerreißende Szenen vor Gefängnissen | |
| Das sind keine Einzelfälle. Über hunderttausend Menschen sind in den | |
| Kerkern des Regimes verschwunden. Oft wissen deren Angehörige nicht, ob sie | |
| noch leben, exekutiert oder zu Tode gefoltert wurden. Es gibt | |
| herzzerreißende Szenen der Wiedervereinigung zwischen den Freigelassenen | |
| und deren Müttern. Es werden Fotos von jungen Männern in der Blüte ihres | |
| Lebens verbreitet, bevor sie in Gefangenschaft landeten. Heute sind Bilder | |
| ihrer Freilassung zu sehen, auf ihnen alte ausgemergelte Männer mit grauem | |
| Bart und ausgefallenen Zähnen. | |
| Eine Gruppe junger Männer kann ihr Glück nicht fassen. Am Morgen sollten | |
| sie exekutiert werden. Eine halbe Stunde zuvor ergriffen ihre Wächter die | |
| Flucht vor den Rebellen. Nicht alle Geschichten haben ein Happy End. Viele | |
| Menschen suchen in den letzten Stunden verzweifelt nach ihren Vätern, | |
| Brüdern oder Schwestern, ohne zu wissen, ob sie überhaupt noch am Leben | |
| sind. Eine Mutter steht vor dem Gefängnis. Ihr Sohn sei dort ermordet | |
| worden. Aber jetzt, sagt sie, könne sie wenigstens in Frieden sterben. In | |
| Trauer, aber doch erleichtert, dass es vorbei ist. | |
| Viele der Gefangenen sind komplett verwirrt. Manche glauben sogar, dass | |
| noch der Vater des jetzt gestürzten Präsidenten, Hafiz al-Assad, an der | |
| Macht ist. Sie leben noch, aber die Folterknechte des Regimes haben ihre | |
| Köpfe und Seelen für immer zerstört. | |
| All das sind Momente, die sich in den letzten Stunden kollektiv ins | |
| syrische Gedächtnis eingebrannt haben, so wie der Mauerfall damals in | |
| Deutschland. Es sind Momente, die niemand den Syrern nehmen kann, bei aller | |
| Skepsis und Ungewissheit, wie es nun eigentlich weitergeht. | |
| Denn das ist völlig offen. Unkenrufe warnen vor einem neuen Afghanistan, | |
| war doch eine der wichtigsten Rebellengruppen einst mit al-Qaida | |
| affiliiert. Manche der Rebellen haben als militante radikale Islamisten im | |
| Irak gegen die US-Truppen gekämpft, darunter auch der Chef [3][der | |
| führenden Rebellengruppe HTS], Abu Muhammad al-Jolani. Heute redet er aber | |
| anders, etwa im Interview mit CNN. Er spricht davon, auch religiöse | |
| Minderheiten schützen zu wollen und ein Syrien der Institutionen | |
| aufzubauen, an dem alle teilnehmen. Die Tage der Willkür sollen vorbei | |
| sein. Niemand weiß: Hat al-Jolani Kreide gefressen und ist eigentlich ein | |
| radikal-islamistischer Wolf im demokratisch moderaten Schafspelz? Oder ist | |
| es doch so, wie er selbst sagt, dass er über die Jahre einen politischen | |
| Lernprozess durchgemacht hat, der ihn reifer und weiser gemacht hat? Man | |
| würde Syrien Letzteres wünschen. | |
| Andere prophezeien Syrien ein ähnliches Schicksal wie Libyen nach dem Sturz | |
| Muammar al-Gaddafis. Ein Land, das nun im Chaos versinken wird, im Kampf | |
| zwischen den verschiedenen bewaffneten Milizen, um die Macht im Land. Doch | |
| zumindest bis zu diesem Zeitpunkt scheinen die Rebellen zu versuchen, einen | |
| friedlichen und geordneten Übergang der Macht zu versuchen. Offensichtlich | |
| waren sie mit dem letzten Premierminister Assads, Mohammed Ghazi al-Jalali | |
| in Kontakt. Denn Assad war gerade einmal ein paar Minuten nach seiner | |
| Flucht aus Damaskus mit seinem Flugzeug in der Luft, da meldete sich | |
| bereits sein bisheriger Premier von zu Hause in Damaskus per Videobotschaft | |
| an die Nation. Er verkündete, mit den Rebellen kooperieren zu wollen und | |
| die staatlichen Institutionen auf eine ordentliche Weise zu übergeben. | |
| Ein starker Einsatz: Der Diktator und seine Familie waren über Nacht | |
| geflohen, und sein Regierungschef verhält sich mutig wie der Kapitän im | |
| sinkenden Schiff, um den Staat und dessen Institutionen zusammenzuhalten. | |
| Es ist auch ein Zeichen an den gesamten Assad-Verwaltungsapparat, nun nicht | |
| in Panik zu verfallen. Zu oft haben die Araber schmerzhaft erlebt, was | |
| passiert, wenn sich ein Staat auflöst, etwa in Libyen oder im Irak. Und als | |
| hätte [4][al-Jolani] nur auf dieses Zeichen gewartet, erließ er kurz darauf | |
| den Befehl an seine Einheiten in Damaskus, in keine staatlichen | |
| Institutionen einzudringen. Beide Seiten versuchen, den Kollaps des alten | |
| Regimes in geordnete Bahnen zu lenken. | |
| Ob das am Ende alles so funktioniert wie präsentiert, sei dahingestellt. | |
| Sind die Kämpfer der einstigen al-Qaida-nahen Nusra-Front und der daraus | |
| entstanden HTS wirklich zu weltoffenen Islamisten geworden, die in Syrien | |
| ein „all inclusive“-System schaffen wollen? Und wie viele Beispiele gibt es | |
| in der Geschichte, in der die Männer mit den Waffen am Ende ihre Macht an | |
| eine zivile Verwaltung abgeben, die dann vielleicht sogar Wahlen | |
| organisiert? „Etwas unwahrscheinlich, möchte man auf die erste Frage, und | |
| „nicht viele“ auf die zweite antworten. Aber wer weiß, vielleicht wird | |
| Syrien zu einem leuchtenden Beispiel. | |
| Man würde es den Menschen nach so viel Leid wünschen. Man hat Angst, mit | |
| seiner Hoffnung falsch zu liegen und es am Ende vorgehalten zu bekommen, | |
| wie naiv man gewesen sei. Aber es lohnt sich, sie dennoch auszusprechen – | |
| die Hoffnung, die nicht in Syrien sterben soll. Und man will den Syrerinnen | |
| und Syrern eine Chance geben, trotz aller skeptischen Beobachtung von | |
| außen. Sie hätten es verdient. | |
| Apropos außen, vieles wird davon abhängen, wie sich die verschiedenen | |
| regionalen Köche verhalten, die seit Jahren in der syrischen Küche ihre | |
| Süppchen kochen. Die Regionalmächte Türkei mit den Rebellen, der Iran mit | |
| dem Regime und Russland als internationale Player. Und was ist mit den USA, | |
| deren Soldaten immer noch im Nordosten Syrien stationiert sind? Und wie | |
| verhält sich Israel? Die Interessen der Köche könnten unterschiedlicher | |
| nicht sein. | |
| Die Türkei möchte den Einfluss der Kurden in Nordsyrien eindämmen. | |
| Gleichzeitig will Ankara eine einigermaßen stabile Situation in Syrien | |
| schaffen, die die Rückkehr der fast vier Millionen syrischen Flüchtlinge | |
| ermöglicht, die heute in der Türkei leben. Der Iran, wenn er schon seinen | |
| Einfluss auf Syrien mit dem Ende des Regimes verliert, möchte wenigstens | |
| noch irgendwie die Nachschubwege der Hisbollah erhalten. Man fragt sich, | |
| was ist hinter den Kulissen gelaufen? Warum gehen die von der Türkei | |
| unterstützen Rebellen im Moment relativ zahm vor? | |
| Und warum hat der Iran keine Gegenoffensive mithilfe iranischer | |
| Revolutionsgarden und schiitischer Milizen organisiert, um dem Regime Assad | |
| doch noch unter die Arme zu greifen? Hat man sich da im Hintergrund auf | |
| etwas geeinigt? Die Türkei wirkt auf den ersten Blick wie der Sieger, aber | |
| die Häme gegenüber dem Iran bleibt aus. Und auch die arabischen | |
| Golfstaaten, allen voran Saudi-Arabien, suchen immer noch eher einen | |
| Ausgleich mit ihrem einstigen Erzfeind Iran. Je mehr all diese Länder an | |
| einem Strang ziehen, desto größer ist die Chance, dass ein Syrien ohne | |
| Assad nicht entgleist. | |
| Es stimmt sicher, dass mit dem Fall des Regimes Assad die Karten in der | |
| Region neu gemischt werden. Aber diejenigen, die sie mischen, das sind | |
| dieselben geblieben. | |
| 8 Dec 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Karim El-Gawhary | |
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