| # taz.de -- Irak nach dem Systemsturz in Syrien: „Niemand will mehr kämpfen�… | |
| > Wie blicken Menschen im Irak auf die Umbrüche im Nachbarland Syrien? | |
| > Christen machen sich Sorgen. Café-Besucher wollen nichts von Politik | |
| > wissen. | |
| Bild: Auf den Fernsehbildschirmen in Bagdads Kaffeehäusern, wie hier im Café … | |
| Wir kennen diese Leute. Wir haben nicht vergessen, was al-Qaida, was der | |
| Islamische Staat uns angetan haben. Wenn al-Jolani nun behauptet, er habe | |
| sich von diesen Wurzeln abgewandt, ich glaube es nicht.“ Nadheer Dako, | |
| Priester und Gemeindevorsteher der chaldäischen St.-Josephs-Kathedrale in | |
| Bagdad, schaut mit großer Skepsis auf die Ereignisse im Nachbarland Syrien. | |
| Am 27. November hatte die Rebellengruppe Haiat Tahrir al-Scham (HTS) unter | |
| dem Anführer Abu Mohammed al-Jolani von der syrischen Region Idlib aus | |
| [1][eine Offensive gestartet], bei der sie nur auf geringen Widerstand von | |
| Regierungstruppen stieß. Binnen weniger Tage eroberte die Rebellengruppe, | |
| die früher als Nusra-Front bekannt war und Verbindungen zu al-Qaida hatte, | |
| mehrere Großstädte, darunter Aleppo und Damaskus. | |
| Die taz trifft Pater Dako in seinem Büro neben der Kirche, zwei Tage bevor | |
| die Rebellen [2][Präsident Baschar al-Assad stürzen] und er nach 24 Jahren | |
| Herrschaft nach Russland flieht. „Al-Jolani hat versprochen, die Christen | |
| in Syrien zu akzeptieren und zu schützen. Es wäre ein echtes Wunder, wenn | |
| dieses Versprechen eingehalten wird. Aber was sollen wir tun?“ Pater Dako | |
| schüttelt etwas resigniert den Kopf. „Wir werden tun, was wir immer getan | |
| haben. Uns anpassen oder flüchten.“ | |
| Nadheer Dako weiß aus eigener Erfahrung, dass seine Sorgen um die Gemeinde | |
| im Nachbarland – wo neben dem Irak viele ihrer Mitglieder leben – begründet | |
| sind: Vor dem Einmarsch der USA im Jahr 2003, so erzählt er, „bestand | |
| unsere Gemeinde aus rund 20.000 Mitgliedern. Die katholische chaldäische | |
| Kirche im Irak und unsere Sankt-Josephs-Gemeinde in Bagdad, wir waren neben | |
| Mossul die größte christliche Gemeinschaft im Irak.“ | |
| ## „Islamisten ist nicht zu trauen“ | |
| Heute gehörten zur chaldäischen Kirche in Bagdad vielleicht noch eintausend | |
| Menschen. „Die anderen sind nach dem Zusammenbruch der staatlichen | |
| Strukturen nach dem Sturz Saddam Husseins zunächst vor schiitischen und | |
| sunnitischen Extremisten geflüchtet, später von al-Qaida oder Daesch | |
| (Islamischer Staat, die Red.) getötet worden.“ „Islamisten“, so das Fazit | |
| von Pater Dako, „ist nicht zu trauen.“ | |
| Nach der Einnahme Syriens hatten sich Abgesandte der HTS mit | |
| Kirchenvertretern getroffen und ihnen zugesichert, ihren Glauben weiter | |
| leben zu dürfen. Dass in den bisher von der HTS kontrollierten Gebieten | |
| aber etwa Kreuze im öffentlichen Raum untersagt waren, lässt die | |
| Christinnen und Christen skeptisch bleiben. | |
| In einem Interview mit der katholischen Nachrichtenagentur Agensir nach dem | |
| Fall Assads sagte der Patriarch der Kirche von Nadheer Dako: „Die | |
| bewaffneten Oppositionsführer, die die Macht ergriffen haben, sagen, dass | |
| sie ein ziviles Regime wollen.“ Ein neues Syrien, das die Menschenrechte | |
| achte und dessen Regierung alle politischen und sozialen Akteure der | |
| Gesellschaft einbeziehe. „Wir hoffen, dass sie das ernst meinen.“ | |
| ## Hoffnung auf Ruhe | |
| Andere Menschen in Bagdad sind weniger skeptisch. Sie hoffen, dass ihr | |
| Nachbarland jetzt endlich zur Ruhe kommt. „Niemand will mehr kämpfen“, sagt | |
| Hassan, ein ungefähr 30-jähriger Mann, den die taz in einem der | |
| traditionellen Teehäuser in der Altstadt von Bagdad trifft. Er findet es | |
| wichtig, dass HTS-Führer al-Jolani gesagt hat: „Die Zeit der Kriege ist | |
| vorüber.“ | |
| Offiziell war die schiitische Parteienkoalition, [3][die derzeit in Bagdad | |
| die Regierung stellt], mit dem syrischen Herrscher Baschar al-Assad | |
| freundschaftlich verbunden. Die Regierung und die sie stützenden | |
| schiitischen Milizen sind enge Verbündete des Iran – manche in Bagdad | |
| bezeichnen sie gar als iranische Vasallen. Entsprechend rang sich | |
| Ministerpräsident Mohammed Shia al-Sudani wenige Tage vor dem Fall von | |
| Damaskus noch dazu durch, Assad militärische Unterstützung von | |
| irakisch-schiitischen Milizen zu versprechen. | |
| Doch als dann eine einzige schiitische Miliz tatsächlich Richtung Damaskus | |
| aufbrechen wollte, wurde sie unmittelbar hinter der Grenze von in Syrien | |
| stationierten US-Truppen bombardiert und zog sich schnell wieder zurück. | |
| Der einflussreiche schiitische Geistliche, Politiker und Milizenführer | |
| Muqtada as-Sadr, der schon länger auf Abstand zum Iran drängt, gab gleich | |
| die Parole aus, kein schiitischer Kämpfer werde mehr Assad zu Hilfe eilen. | |
| Angesichts dieser Reaktionen wollte Ministerpräsident al-Sudani dann auch | |
| nur noch die Grenze zwischen Irak und Syrien besser sichern und ließ den | |
| Grenzübergang schließen. Die vormalige sogenannte [4][„Achse des | |
| Widerstands“], die vom Iran über den Irak nach Syrien bis zur Hisbollah in | |
| den Libanon reichte, endete damit bereits im Irak. | |
| ## „Wir sind müde von den Kriegen“ | |
| Für die meisten Einwohner von Bagdad ist es deshalb indirekt auch eine | |
| Erlösung, dass es mit Assad nun zu Ende gegangen ist und sie keine | |
| Verpflichtung mehr haben, ihn oder die Hisbollah im Libanon noch zu | |
| unterstützen. „Wir sind so unglaublich müde von den ganzen Kriegen“, sagt | |
| die Journalistin Kholoud Alamiry, die von Bagdad aus die Website | |
| „[5][al-menasa.net]“ betreibt. Die Website beschäftigt sich hauptsächlich | |
| mit Alltagsproblemen. „Ich habe vor Jahren aufgehört, über Parteipolitik | |
| und die Regierung zu schreiben. Es ist so ermüdend.“ | |
| Nicht nur Kholoud Alamiry, die sich jetzt vor allem für Umweltschutz und | |
| Frauenrechte engagiert, geht es so. Bei den letzten Wahlen im Irak 2021 | |
| gingen lediglich 40 Prozent der Wahlberechtigten wählen. Auf den | |
| Fernsehbildschirmen in Bagdads Kaffeehäusern läuft fast nur noch Fußball, | |
| eventuell noch eine andere Sportsendung, aber auf keinen Fall mehr Politik. | |
| „Keiner will das mehr sehen“, sagt Hassan. „Wir wollen nur noch in Ruhe | |
| gelassen werden und uns um unser eigenes Leben kümmern.“ Der größte | |
| Aufreger im Irak sei jetzt, wenn Barcelona gegen Real Madrid spielt. Bagdad | |
| sei praktisch in zwei Fan-Lager gespalten. Beim Clásico in Spanien – wenn | |
| die zwei großen Clubs gegeneinander spielen – ist die Polizei in Bagdad in | |
| Alarmbereitschaft. | |
| Seit Saddam Hussein 1979 die Macht im Irak erobert hatte und Präsident | |
| wurde, hat das Land fast nur Krieg oder kriegsähnliche Zustände erlebt, | |
| mehr als 40 Jahre. Zuerst der achtjährige Krieg gegen den Iran unter | |
| Ajatollah Ali Chamenei, mit insgesamt einer Million Toten, dann der | |
| Einmarsch in Kuweit mit dem anschließenden Krieg des damaligen | |
| US-Präsidenten George Bush Senior, dann die Sanktionen, die die irakische | |
| Bevölkerung sehr hart trafen und dann der erneute US-Angriff von George W. | |
| Bush Junior im Jahr 2003. Danach wurde es erst richtig schlimm, als der | |
| Bürgerkrieg zwischen Schiiten und Sunniten begann und die sunnitischen | |
| Terrororganisationen al-Qaida und „Islamischer Staat“ das Land verwüsteten. | |
| Erst seit Kurzem ist eine relative Ruhe eingekehrt. | |
| Man kann jetzt wieder gefahrlos durch die Stadt laufen. Es gibt in der | |
| Innenstadt keine schiitischen oder sunnitischen Viertel mehr, die Leute | |
| haben keine Angst mehr voreinander. Seit im Oktober 2022 der erfahrene | |
| Pragmatiker Mohammed Shia al-Sudani als Chef einer schiitischen | |
| Mehrparteienkoalition die Regierung übernommen hat, gibt es erstmals seit | |
| Jahrzehnten wieder so etwas wie Bemühungen um eine Verbesserung der | |
| Lebensverhältnisse, vor allem in Bagdad. | |
| ## Bagdad liegt in Trümmern | |
| Die einst stolze Metropole am Tigris hat es aber auch dringend nötig. Fast | |
| alles, was die Stadt einmal lebenswert gemacht hat, ist kaputt. Die Parks | |
| am Tigris, die früher von Teegärten und Fischrestaurants gesäumt waren, | |
| liegen in Trümmern. Einstige Luxushotels sind zu Ruinen mit | |
| rauchgeschwärzten Fenstern geworden. Die Altstadt um die Raschid-Straße | |
| nördlich vom Tahrir-Platz, einst ein orientalischer Traum unter Kolonnaden, | |
| besteht jetzt aus einem Gewusel von Händlern zwischen Ruinen. Doch es wird | |
| auch gebaut. | |
| Ein winziger Teil der Altstadt um den ehemaligen osmanischen | |
| Gouverneurspalast ist restauriert worden, der Palast ist heute ein | |
| Kulturzentrum. Neben den Ruinen entstehen neue Geschäftshäuser, und auch | |
| einige neue Luxushotels werden gebaut. | |
| Neben geradezu dystopischen Ruinenvierteln werden neue Wohnhäuser | |
| errichtet. Die sind auch dringend nötig, denn die Bevölkerungszahl von | |
| Bagdad hat sich seit der Zeit Saddam Husseins durch Kriegs- und | |
| Binnenflüchtlinge aus dem ganzen Land und einer hohen Geburtenrate von 3 | |
| auf 9 Millionen Einwohner verdreifacht. Fast alle kämpfen ums tägliche | |
| Überleben. Wer keinen Job beim Staat ergattern konnte, fährt Taxi, baut | |
| sich einen kleinen Teewagen, mit dem er durch die Straßen zieht oder putzt | |
| Schuhe. Doch es herrscht Frieden und vorsichtiger Optimismus. Es kommen | |
| sogar Iraker aus dem Ausland zurück, erzählt Kholoud Alamiry. | |
| „Die Milizen haben das Land untereinander aufgeteilt und bekämpfen sich | |
| jetzt nicht mehr“, bestätigt auch Pater Dako. Dadurch gibt es auch für die | |
| Christen in Bagdad wieder Hoffnung. Eine Gruppe von Studenten, die aus | |
| Kerbala nach Bagdad gekommen ist, um sich den kleinen Teil restaurierter | |
| Altstadt und das dortige Kulturzentrum anzuschauen, ist noch wesentlich | |
| optimistischer. Sie studieren Englisch, erzählen sie, weil sie glauben, | |
| „dass bald wieder viele Touristen in unser Land kommen werden“. Kämpfen | |
| will hier jedenfalls niemand mehr. In Bagdad scheinen die chaotischen | |
| Szenen aus Damaskus weit weg. Doch ein friedliches Syrien würde auch dem | |
| Irak sehr helfen. | |
| Mitarbeit: Lisa Schneider | |
| 15 Dec 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Angriffe-gegen-Baschar-al-Assad/!6048703 | |
| [2] /Ende-des-Assad-Regimes/!6051443 | |
| [3] /Schiiten-im-Irak/!5871973 | |
| [4] /Iran-und-die-Welt/!6029682 | |
| [5] https://www.al-menasa.net/ | |
| ## AUTOREN | |
| Jürgen Gottschlich | |
| ## TAGS | |
| Irak | |
| Bagdad | |
| Katholische Priester | |
| Schwerpunkt Syrien | |
| Alltag | |
| GNS | |
| Irak | |
| Schwerpunkt Syrien | |
| EU-Kommission | |
| Schwerpunkt Syrien | |
| Schwerpunkt Syrien | |
| Schwerpunkt Syrien | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Massengräber im Irak: 100 Leichen kurdischer Frauen und Kinder werden exhumiert | |
| Die Behörden nehmen an, dass die Opfer unter der Herrschaft Saddam Husseins | |
| in den 1980er Jahren getötet wurden. Jetzt wird das Massengrab ausgehoben. | |
| Foltergefängnisse in Syrien: Den Kerker im Kopf | |
| Der Syrer Muhammad Daud saß 13 Jahre in Haft des gestürzten Regimes von | |
| Baschar al-Assad – und ist nun ein gebrochener Mann. Wie seine Familie ihm | |
| helfen soll, weiß sie nicht. | |
| EU-Außenministertreffen in Brüssel: EU entsendet Diplomaten nach Syrien | |
| Wenig Frohes, viel Düsteres: Am Montag hat sich die neue | |
| EU-Außenbeauftragte Kallas mit den Außenministern zur Lage in Syrien, | |
| Ukraine und Georgien beraten. | |
| Syrer:innen in Deutschland: „Ich habe nie aufgehört zu hoffen“ | |
| Den Sturz von Diktator Baschar al-Assad haben auch viele Syrer:innen in | |
| Deutschland gefeiert. Die einen wollen unbedingt zurück, andere hier | |
| bleiben. | |
| Umsturz in Syrien: Freiheit, für einen Moment | |
| Nach dem Fall des Assad-Regimes herrschen Freude, Hoffnung und Ungewissheit | |
| in Damaskus. Eindrücke aus einer Stadt im Umbruch. | |
| Ende des Assad-Regimes: Momente, die niemand den Syrern nehmen kann | |
| Aufgebrochene Zellen, umgestürzte Statuen, wiedervereinte Familien: Syrien | |
| ist ein anderes Land. Ein Essay über die Bedeutung dieses historischen | |
| Augenblicks. |