# taz.de -- Syrer:innen in Deutschland: „Ich habe nie aufgehört zu hoffen“ | |
> Den Sturz von Diktator Baschar al-Assad haben auch viele Syrer:innen | |
> in Deutschland gefeiert. Die einen wollen unbedingt zurück, andere hier | |
> bleiben. | |
Bild: Najd Boshi | |
Tegernsee und München taz | Am Dienstag, nachdem sie endlich ein wenig | |
geschlafen hatte, schrieb Najd Boshi eine E-Mail an ihre Kolleg:innen | |
von der Tourist-Information Tegernsee: „Als ich ein Kind war, begrüßten wir | |
in der Grundschule die Fahne und das Bild von al-Assad, dem Vater und | |
später dem Sohn. Für immer, für immer al-Assad. Nach 54 Jahren der Gewalt, | |
Ungerechtigkeit, Verbot der Meinung ist er am 8. 12. 24 für immer gestürzt. | |
Drückt uns die Daumen.“ Und weiter: „Im Mampfkammerl gibt es Kuchen, bitte | |
bedient euch.“ Der Kuchen war schnell weg und die Kolleg:innen | |
schrieben: „Ich umarme dich.“ Oder sie kamen zu der Syrerin und sagten: | |
„Ich freue mich.“ | |
Als am vergangenen Sonntag in den frühen Morgenstunden klar war, dass das | |
[1][Assad-Regime sehr schnell zusammengebrochen ist] und der Diktator | |
schließlich nach Moskau floh, [2][feiern Tausende auch auf deutschen | |
Straßen, in Berlin,] im Ruhrgebiet, in Süddeutschland. | |
Najd Boshi hing nachts am Handy, las atemlos die arabischen Nachrichten. | |
„Um zwei Uhr bin ich auf dem Sessel eingeschlafen, war aber bald wieder | |
wach. Und da war Assad weg.“ Sie fuhr die 50 Kilometer nach München, wo | |
Tausende Syrer auf dem Odeonsplatz feierten und die Landesfahnen | |
schwenkten. Die 47-Jährige sagt: „Irgendwann merkte ich, dass ich sehr | |
lange nichts gegessen hatte. Ich hatte es einfach vergessen.“ | |
Vor knapp zehn Jahren war Boshi aus ihrer Heimatstadt Aleppo nach | |
Deutschland geflohen – erst sie allein, dann kamen der damalige Ehemann und | |
die beiden kleinen Kinder nach. Sie erinnert sich, wie ihre Gruppe aus 42 | |
Flüchtlingen von einem Schleuser auf einer kleinen, unbewohnten | |
griechischen Insel ausgesetzt wurde. Sie überlebten, indem sie die Insel in | |
Brand setzten. Da kamen Löschhubschrauber. Dann zahlte sie 3.500 Euro für | |
den wohl echten Pass einer spanischen Frau namens Maria. So kam sie nach | |
Deutschland. Najd Boshi sagt: „Ich danke Maria.“ | |
## Sie ist eine Art Vorzeigemigrantin | |
Die Behörden verlegten sie in das oberbayerische Tegernsee mit seinen nur | |
4.000 Einwohnern, sie lernte Deutsch, jobbte, machte den Bootsführerschein | |
und schipperte Urlauber über den See. Nun ist sie bei der Tourist-Info. | |
Viele sehen Najd Boshi als eine Art Vorzeigemigrantin, im Ort wird sie mit | |
„Servus“ gegrüßt. | |
Als das Assad-Regime fiel, schrieb sie mit ihrer über halb Europa | |
verstreuten Verwandtschaft, um ihre Freude zu teilen. Die Nachrichten | |
ploppten im Sekundentakt auf. „Ein syrischer Freund in der Türkei hat am | |
Telefon geweint“, erzählt sie. Aber was nun? | |
Alle Syrer wissen, dass es viel zu früh ist, konkrete Pläne für die Zukunft | |
zu machen. Was ist zu halten vom Rebellenchef Mohammad al-Golani, der sich | |
versöhnlich und gemäßigt gibt, aber einst Anführer eines Ablegers der | |
Terrortruppe al-Qaida war? „Er zeigt sich als moderner Mann, er strahlt | |
Selbstbewusstsein aus“, sagt Najd Boshi. Ob man ihm aber trauen kann, | |
vermag auch sie nicht zu sagen. | |
Ihre Familie zeigt sich in einer wohl ganz typischen Zerrissenheit. Boshis | |
Tochter studiert Jura in München. Der 17-jährige Sohn macht gerade die | |
Realschule fertig. „Den hat der Umsturz kaum berührt“, so Boshi. Er | |
spricht perfekt Deutsch, „aber nicht gut Arabisch“, und er sieht seine | |
Heimat in Tegernsee. Was sollte er in Aleppo? | |
## Vielleicht in einem Jahr? | |
Die Mutter aber meint: „Ich habe nie aufgehört zu hoffen, irgendwann einmal | |
zurückzukehren.“ Vielleicht an die Uni, wo sie als Anglistin einst | |
gearbeitet hatte. Jetzt gibt sie in Tegernsee abends einen | |
Englischsprachkurs. In einem Jahr vielleicht möchte sie nach Aleppo fahren | |
und schauen, wie es dort dann ist. Sie sagt aber auch: „Deutschland hat | |
viel Geld in uns Syrer investiert. Auch deshalb sollten wir nun hier | |
arbeiten und Steuern zahlen.“ | |
Die Stimme von Ahmat S. überschlägt sich immer wieder während des | |
Telefonats mit ihm in Stuttgart. Wie Najd Boshi unterrichtet auch er | |
Englisch. Seine Frau ist Mathematikerin. „Jetzt haben wir endlich wieder | |
ein Land“, ruft der 38-Jährige. „Jetzt kann man Syrien bewundern.“ | |
35 Tage war S. einst in einem Foltergefängnis in Haft, „weil ich bei einer | |
Demonstration dabei war.“ Was er im Gefängnis gesehen hat, sei | |
„unbeschreiblich“ gewesen: „Kinder, Alte, behinderte Menschen, alle im | |
Gefängnis.“ | |
Nun hat das Paar drei kleinere Kinder. Dem Lehrer ist die Sprache äußerst | |
wichtig, das sagt er mehrfach. Deshalb sprechen die Kinder Deutsch, | |
Arabisch und Englisch. Später soll dann noch Französisch hinzukommen. Ahmad | |
S. hat an der Real- und an der Berufsschule unterrichtet, jetzt ist er | |
selbstständig. | |
## Man kann nicht einfach nach Damaskus gehen | |
S. hat viele Vorstellungen von einer möglichen Zukunft. Er denkt daran, wie | |
es wäre, in Damaskus eine Firma aufzubauen, die den vielen Rückkehrern | |
hilft, sie beim Ankommen und den ersten Schritten unterstützt. Doch er | |
meint auch: „Wegen der Kinder werden wir wohl eher hierbleiben.“ Man könne | |
„nicht einfach nach Damaskus gehen, ein Haus kaufen und dort ganz normal | |
arbeiten und leben“. | |
[3][Omara Chaar wiederum stand vor mehr als neun Jahren,] im Herbst 2015, | |
am Bahnhof in Passau. Da stand er, selbst erst vor einigen Wochen | |
angekommen, mit Flüchtlingshelfern am Gleis. Mit dem Megafon rief er den | |
aus den Zügen strömenden Syrern zu: „Ihr seid in Deutschland, ihr seid in | |
Sicherheit. Ihr braucht keine Angst mehr zu haben.“ Der heute 30-Jährige | |
studierte in Passau Journalistik und Kommunikation und arbeitet jetzt als | |
Journalist und im Marketing. Sein erster Gedanke nach den Ereignissen der | |
vergangenen Tage: „Ich darf wieder nach Hause.“ Er könnte auch jederzeit | |
zurück, denn Chaar hat seit Längerem den deutschen Pass. | |
„Syrien ist befreit von diesem Miststück Assad und seiner family“, sagt er. | |
„Und der ist abgehauen, der Feigling.“ Einerseits meint Chaar, dass Syrien | |
„jetzt noch nicht stabil genug ist“. Doch sagt er auch: „Wir wollen alle | |
zurückkehren. Wir haben Bock, wir haben volle Energie.“ Viele Auslandssyrer | |
haben gelernt, haben sich qualifiziert. „Zu einem großen Teil müssen wir | |
die Zukunft gestalten.“ | |
Baden-Württemberg, Waiblingen bei Stuttgart. Jehia Sawas, 27, sagt: „Wir | |
haben dauernd die Nachrichten geschaut, wir konnten das nicht glauben.“ Am | |
Sonntagnachmittag feierte er mit vielen anderen in der Stuttgarter | |
Innenstadt. Sie hätten „tatsächlich gesehen, dass er nicht mehr an der | |
Macht ist“. Er – der Despot Baschar al-Assad. Für Sawas ist klar: „Für | |
seine Verbrechen muss er unbedingt vor ein Gericht kommen.“ | |
## „Normal religiös“ | |
Jehia Sawas war noch keine 18 Jahre alt, als er nach Deutschland kam. „Ich | |
machte Sprachkurse, die Hauptschule, dann die Realschule.“ Schließlich | |
schloss er eine Ausbildung zum Zimmermann ab, jetzt arbeitet er als Geselle | |
– „Vollzeit mit einem unbefristeten Vertrag“. Im Juni hat er geheiratet. | |
Doch Jehia Sawas hat auch Sorgen. Die Familie ist weit verstreut, seine | |
Mutter lebt mit 73 Jahren allein in Aleppo. „Den Rest ihrer Zeit würde ich | |
gern mit ihr sein.“ Aber: „Wenn ich jetzt zurückgehe, wie soll das | |
funktionieren?“ Derzeit kann er monatlich 200 Euro in die Heimat schicken. | |
In Aleppo wäre er wohl arm wie die anderen auch. „Und hier habe ich für | |
meine Zukunft gearbeitet, hier ist meine Zukunft – leider.“ | |
Der Sohn sieht sich in der Pflicht. Als Gast oder Urlauber wird er nicht | |
nach Syrien reisen. „Meine Mutter hat keine Heizung und keine normale | |
Küche.“ Wenn er kommt, will der Zimmermann helfen, will anpacken. „Und man | |
sollte einiges an Geld mitbringen.“ In Waiblingen lebt Jehia Sawas mit | |
seiner Frau bei einem befreundeten Ehepaar zur Miete. Er sagt, er sei | |
„normal religiös“. „In unserem Haus feiern wir alle Feste gemeinsam, die | |
christlichen und die muslimischen.“ | |
Direkt nach dem Fall des syrischen Regimes ist in Deutschland [4][eine | |
Rückführungsdebatte entbrannt,] neue Asylentscheidungen trifft das | |
Bundesamt für Migration (Bamf) derzeit nicht. Jehia Sawas möchte dazu | |
unbedingt etwas sagen und will, dass es in der Zeitung steht. „Die | |
Politikerin Weidel von der AfD will die Syrer jetzt alle abschieben, stimmt | |
das?“ Ja, durchaus. „Das ist abnormal. Und das Gehalt von Weidel kommt von | |
unseren Steuern?“ Ja, sie ist Bundestagsabgeordnete. „Abnormal.“ Genau so | |
soll man es schreiben. | |
## Ist der Bruder noch am Leben? | |
Etwas anderes liegt Sawas noch schwerer auf der Seele. „Mein Bruder ist | |
seit 2016 im Gefängnis verschwunden“, erzählt er. Rayid ist neun Jahr älter | |
als Jehia. Warum man ihn einsperrte, weiß niemand. Er wollte bei einer | |
Behörde ein Dokument abholen und wurde verhaftet. Ist Rayid noch am Leben? | |
Er kam ins [5][berüchtigte und mittlerweile weltbekannte Foltergefängnis | |
Sednaya], nördlich von Damaskus. Amnesty International bezeichnet dieses | |
als „Schlachthaus“. Zehntausende Syrer wurden darin gequält, oft bis zum | |
Tode. Man wollte sie langsam brechen und zerstören, Folter war eine große | |
Spezialität des Assad-Regimes. Von oben sieht das in den 1980er Jahren | |
erbaute Sednaya aus wie ein Mercedes-Stern ohne Kreis. | |
Rayid hatte zum Zeitpunkt seiner Verhaftung eine Frau und drei kleine | |
Kinder. Die Frau durfte ihn 2017 einmal besuchen. „Sie hatte ihn am Anfang | |
nicht mehr erkannt“, erzählt Jehia Sawas. Und er hatte sie gebeten, nicht | |
wiederzukommen. Jetzt werden die Menschen aus Sednaya befreit und geborgen. | |
Viele sind tot, doch manche leben. Von Rayid fehlt weiterhin jede Spur. | |
14 Dec 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Ende-des-Assad-Regimes/!6051443 | |
[2] /Syrische-Diaspora-in-Berlin/!6051597 | |
[3] /Fuenf-Jahre-in-Deutschland/!5706675 | |
[4] /Abschiebungen-syrischer-Gefluechteter/!6051529 | |
[5] /Sednaya-Gefaengnis-in-Syrien/!6051689 | |
## AUTOREN | |
Patrick Guyton | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Syrien | |
Baschar al-Assad | |
Schwerpunkt Flucht | |
Integration | |
GNS | |
Irak | |
Schwerpunkt Syrien | |
Türkei | |
Saddam Hussein | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Irak nach dem Systemsturz in Syrien: „Niemand will mehr kämpfen“ | |
Wie blicken Menschen im Irak auf die Umbrüche im Nachbarland Syrien? | |
Christen machen sich Sorgen. Café-Besucher wollen nichts von Politik | |
wissen. | |
Umwälzungen in Syrien: Aufstieg und Fall der Familie Assad | |
Zwischen Sozialismus und Islamismus regierte ein krimineller Clan mehr als | |
50 Jahre in Syrien. Ein Stück Weltgeschichte. | |
Nach dem Umsturz in Syrien: Was kommt nach Assad? | |
Der islamistische HTS-Chef al-Jolani hat die Macht übernommen. Millionen | |
Syrer*innen und die internationale Weltgemeinschaft blicken auf das Land | |
im Umbruch. | |
++Nachrichten zum Umsturz in Syrien++: Assads Baath-Partei stellt Arbeit ein | |
Die Partei des gestürzten Machthabers Baschar al-Assad gibt Vermögen, Geld | |
und Waffen an die neue Regierung ab. USA melden Abzug russischer Schiffe. |