# taz.de -- Umwälzungen in Syrien: Aufstieg und Fall der Familie Assad | |
> Zwischen Sozialismus und Islamismus regierte ein krimineller Clan mehr | |
> als 50 Jahre in Syrien. Ein Stück Weltgeschichte. | |
Bild: 2019 noch allgegenwärtig: das Konterfei von Assad an einem Checkpoint in… | |
Schon von weitem war sein Gesicht zu erkennen: ein gütig blickender Baschar | |
al-Assad, im Hintergrund die Fahne mit den zwei Sternen. Kurz vor dem | |
Grenzübergang vom Libanon nach Syrien hing dieses Plakat über der Straße, | |
mit einer Botschaft: Die Syrische Arabische Republik gehört der Familie | |
al-Assad. Überall in Syrien erinnerten bis vor Kurzem Statuen, Plakate und | |
Porträts daran, unter wessen Gnade man sich bewegte. Selbst am Eingang der | |
Ummayaden-Moschee von Damaskus blickte der säkular-sozialistische Präsident | |
von der Wand herab. | |
Jetzt nicht mehr. In dieser zentralen Moschee hielt der Anführer der | |
siegreichen Rebellen, Abu Mohammad al-Golani, am 8. Dezember seine erste | |
große Rede. [1][Mit einer Blitzoffensive seiner HTS-Miliz] hatte al-Golani | |
vom nordwestlichen Idlib aus große Teile des Landes erobert. | |
Rebellengruppen aus dem Süden, die in den Kampf einstiegen, nahmen | |
schließlich auch die Hauptstadt ein. Das Regime der Familie al-Assad ist | |
nicht mehr. [2][Feiernde reißen die Porträts herunter und zerschlagen die | |
Statuen]. | |
Am Aufstieg und Fall dieser Familie aber lässt sich die jüngere Geschichte | |
Syriens erzählen – und die der ganzen Region. Pan-Arabismus und | |
Sozialismus, der Aufstieg des sunnitischen Dschihadismus wie der | |
Islamischen Republik Iran, Russlands Einfluss als globaler Akteur. Und | |
schließlich: die Neuordnung seit dem [3][7. Oktober 2023]. | |
1963 putschte Hafez al-Assad, ein ehrgeiziger junger Luftwaffenoffizier, | |
die sozialistische Baath-Partei mit an die Macht in Syrien. Das Land war | |
gerade erst aus der Vereinigten Arabischen Republik – einem Staatengebilde | |
aus Syrien und Ägypten – ausgebrochen. Al-Assad, Sohn einer armen | |
alawitischen Familie, witterte im arabischen Sozialismus seine Chance. So | |
wie viele Angehörige von Minderheiten in muslimisch dominierten | |
Gesellschaften. | |
## Al-Golanis Vater verlor seine Heimat, die Golanhöhen | |
Der Pan-Arabismus hatte zu dieser Zeit schon an Relevanz verloren. Dass | |
Ägyptens Präsident Jamal Abdel Nasser sein Land, Syrien und Jordanien 1967 | |
in eine schmerzhafte Niederlage gegen Israel führte, war das Ende dieser | |
arabischen Einigkeitsbewegung. Syrien verlor die Golanhöhen an Israel. Und | |
ein Mann seine Heimat, dessen Sohn heute über das Schicksal Syriens | |
entscheidet: Abu Mohammad al-Golani, Anführer der HTS. | |
1970 kam Offizier Hafez al-Assad durch einen weiteren Putsch selbst an die | |
Macht. Er verwandelte Syrien vollends in eine Diktatur. 1973 verloren die | |
arabischen Staaten den nächsten Krieg gegen Israel. Ihre wirtschaftlichen | |
Versprechen konnten sie kaum einlösen, während die Vetternwirtschaft | |
gedieh. Die in Ägypten gegründete Muslimbruderschaft gewann auch deshalb in | |
der gesamten Region an Einfluss. | |
Als 1979 die Sowjetunion in Afghanistan einmarschierte, unterstützten junge | |
Männer aus verschiedenen muslimischen Ländern die Gegenbewegung dort. | |
Historikern gilt dieser Krieg als Geburtsstunde des internationalen | |
Dschihadismus. Zeitgleich verwandelte sich das Kaiserreich Persien zur | |
Islamischen Republik Iran. Die schiitischen Mullahs und Hafez al-Assad, | |
vorgeblich säkular-sozialistisch, wurden Partner. | |
Auch in al-Assads Herrschaftsgebiet nahmen die Proteste und Angriffe der | |
Muslimbruderschaft zu. 1982 marschierte das syrische Militär auf die Stadt | |
Hama, um einen dieser Aufstände zu beenden. Drei Wochen lang belagerte es | |
die Stadt, zwischen 10.000 und 40.000 Menschen starben. Das Verhältnis der | |
sunnitischen Mehrheitsbevölkerung zum Alawiten al-Assad war schwer | |
beschädigt. | |
## Die jungen Assads verkauften sich gut | |
Doch während in den Neunzigerjahren der Dschihadismus weltweit erstarkte | |
und al-Qaida darin eine Art Führungsposition erwarb, blieb es in Syrien | |
relativ ruhig. Hafez al-Assad wurde älter. Doch sein Sohn Bassel, zum | |
Nachfolger auserkoren, starb bei einem Autounfall auf den Straßen von | |
Damaskus. Er habe einen Flug nach Deutschland erreichen wollen, hieß es. | |
Die al-Assads waren trotz allem noch nicht geächtet im Westen. | |
Als Hafez al-Assad 2000 an einem Herzinfarkt starb, besuchte die damalige | |
US-Staatssekretärin Madeleine Albright die Beerdigung, eine „große Figur in | |
der Region“ nannte sie den Diktator. | |
Nachfolger von Hafez wurde sein zweiter Sohn Baschar, damals 34 Jahre alt, | |
ein Augenarzt, der in London gearbeitet hatte. An seiner Seite: die | |
elegante, britisch-syrische Asma. Große Hoffnungen lagen auf den beiden. | |
Ein paar Reformen, etwas mehr Teilhabe für die Bevölkerung, die jungen | |
al-Assads verkauften sich gut. | |
Als 2003 die USA in den Irak einmarschierten, ließ Baschar al-Assad | |
Islamisten aus den Gefängnissen frei, um sie im Irak gegen die | |
„Imperialisten“ kämpfen zu lassen. Das rächte sich später, als sie in ih… | |
Heimat zurückkehrten und sich gegen ihn selbst wandten. Unter diesen jungen | |
Männern war auch Abu Mohammad al-Golani. | |
## Assad setzte sogar Giftgas ein | |
Nach wie vor kamen internationale Studierende nach Syrien, um Arabisch zu | |
lernen, Reisebüros verkauften Trips zu den Ruinen Palmyras, das Modemagazin | |
Vogue beschrieb Asma al-Assad als „Rose in der Wüste“. Dann kam der | |
arabische Frühling. | |
In Tunesien und Ägypten fielen 2011 die Diktatoren und in der südsyrischen | |
Stadt Daraa schmierten Jugendliche an die Wand ihrer Schule: „Du bist an | |
der Reihe, Doktor.“ Al-Assad ließ die Festgenommenen foltern. Auch weil das | |
Regime brüsk ablehnte, die Jungen freizulassen und den Eltern riet, einfach | |
neue Kinder zu zeugen, wurde aus kleinen Demos im Süden eine Welle des | |
Protests im ganzen Land. | |
Al-Assad reagierte mit maximaler Härte, setzte sogar Giftgas ein. | |
Islamistische Gruppen erstarkten – darunter auch die von al-Golani geführte | |
al-Nusra-Front und der Islamische Staat. Hunderttausende starben, Millionen | |
Menschen flohen. Schließlich wurde Russland – das als Nachfolgestaat der | |
Sowjetunion die freundlichen Beziehungen zum nominell sozialistischen | |
Syrien weitergeführt hatte – zum Beschützer al-Assads. | |
2017 hatten sich die Wogen geglättet, der IS war im Osten zurückgeschlagen, | |
doch al-Assad hatte Gebiete im Norden verloren. An die HTS, an die von der | |
Türkei unterstützte Syrische Nationale Armee (SNA) und an [4][die kurdische | |
Selbstverwaltung Rojava]. | |
## Er ignorierte die Veränderungen in der Region | |
Auch sonst blieb vom syrischen Staat wenig übrig: An Checkpoints musste man | |
alle paar Kilometer Wegzoll bezahlen. Denn die Gehälter der | |
Staatsbediensteten und Militärs betrugen kaum mehr 100 Euro. | |
Der Strom fiel fast dauerhaft aus. [5][Captagon, eine billige synthetische | |
Droge, eroberte von Syrien aus den arabischen Raum]. Al-Assad und seiner | |
Familie aber ging es gut, sie schafften ihr Geld ins Ausland, viel davon | |
nach Russland. Shops boten Tassen mit den Gesichtern Wladimir Putins an, | |
oder des Hisbollah-Führers Hassan Nasrallah an. | |
Der Krieg war kaum zu vergessen: Sattelitenbilder deuteten die Massengräber | |
in der Erde rund um das Gefängnis Sadnaya an. Durch die Silhouetten der | |
zerbombten Vorstädte von Damaskus schien in der Nacht der Mond. Aufgebaut | |
wurden sie nie. Im Zentrum der Stadt wurden die Spuren des Krieges | |
schleunigst beseitigt, doch fuhr man weiter hinaus, rosteten die Karkassen | |
ausgebrannter Autoreste am Straßenrand. | |
Dann begann Wladimir Putin im Februar 2022 seinen Überfall auf die gesamte | |
Ukraine und zog dafür Soldaten und Equipment aus Syrien ab. Im Oktober 2023 | |
überfiel die Hamas Israel, das bombardierte Gaza, musste zum ersten Mal | |
direkt mit Iran kämpfen und ging gegen die Hisbollah vor. Al-Assad schien | |
die Veränderungen in der Region zu ignorieren. | |
Am 27. November, [6][am Tag, als im Libanon zwischen den Resten der | |
Hisbollah und Israel eine Waffenruhe in Kraft trat], witterte al-Golani | |
seine Chance. Nur zwei Wochen später saß al-Assad in einem Flugzeug nach | |
Russland, wo seine Familie bereits wartete. Plakate und Bilder sind einfach | |
abzuhängen. Anderes wird nach 54 Jahren Diktatur viel schwerer zu verändern | |
sein. | |
14 Dec 2024 | |
## LINKS | |
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## AUTOREN | |
Lisa Schneider | |
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