# taz.de -- Nach dem Fall von Assad in Syrien: Douma sucht nach Gerechtigkeit | |
> In der Rebellenhochburg verübte wohl das Ex-Regime 2018 einen | |
> Giftgasangriff. Lange trauten sich die Bewohner nicht, davon zu erzählen. | |
> Bis jetzt. | |
Bild: Zwischen verlassenen und beschädigten Häusern: Eine Straße in Douma | |
Douma taz | Wer sich in die Region Ost-Ghouta verirrt, könnte meinen, | |
plötzlich in ein Kriegsgebiet katapultiert worden zu sein. Eben fuhr man | |
doch noch zwischen historischen Gebäude hindurch, zwischen Hotels, Cafés | |
und feinen Restaurants im Zentrum der syrischen Hauptstadt Damaskus. Dann | |
kurz auf die Schnellstraße 5 – und 15 Kilometer weiter scheint es, als | |
befände man sich wieder mitten im Bürgerkrieg. Und Jahren zurück in die | |
Vergangenheit geworfen. | |
Ein ehemaliger Checkpoint der syrischen Armee an der Schnellstraße 5 ist | |
menschenleer, das Häuschen von Schüssen durchsiebt. Ein Vorgeschmack auf | |
das, was gleich kommen wird. Entlang der ländlichen Straße ziehen sich | |
Felder, die vor Jahrzehnten Ost-Ghouta den Ruf als grüner Streifen Syriens | |
einbrachten. Und vor ihnen stehen die Ruinen: Skelette aus Zement, aus | |
denen Betonsäulen wie Arme in den Himmel ragen. Ausgeweidete Häuser, vom | |
Leben verlassen. | |
Fährt man weiter hinaus, in die Kleinstadt Douma, wirkt die Landschaft in | |
der nebeligen, grauen Luft des kühlen Morgens noch geisterhafter: Viele | |
Häuser sind heute noch verlassen, die Außenwände mit Einschusslöchern | |
übersät, Fensterscheiben und Türen teils herausgebrochen. Die nackten | |
Ziegel sind schwarz vom Ruß, die fehlende Fassaden lassen ins Innere der | |
Gebäude blicken: An einigen sind noch Spuren vergangener Pracht erkennbar – | |
marmorähnliche Fliesen, verzierte Fenstergitter. Rostige Klettergerüste | |
stehen auf dem verwaisten Kinderspielplatz. | |
Douma ist wie ein Tor in eine Vergangenheit, die man am liebsten hinter | |
sich lassen und wieder vergessen möchte. [1][Doch vergessen, das wollen die | |
Einwohner*innen von Douma nicht.] Und selbst wenn sie es möchten, wie | |
könnten sie? | |
## „Wir sahen dickes, gelbliches Gas hereinströmen“ | |
In einem recht gut befüllten Minimarkt, vor den Regalen voller Reis- und | |
Nudelpackungen, steht Nasser Amir Hanan. Er will jetzt etwas tun, was er | |
sich in den vergangenen sechs Jahren kaum getraut hat: erzählen. Hanan ist | |
28 Jahre alt und nach eigenen Angaben ein Überlebender [2][des | |
Giftgasangriffs auf Douma durch die Luftwaffe von Baschar al-Assad am 7. | |
April 2018.] | |
„Wir Männer machten uns gerade bereit für das Abendgebet. Wir hörten das | |
Geräusch eines Geschosses, das auf das Dach unseres Gebäudes fiel.“ Wie die | |
meisten Menschen habe er sich bereits in einem Schutzraum im Untergeschoss | |
aufgehalten. Denn die Bomben seien den ganzen Tag lang gefallen. „Plötzlich | |
hörten wir ein Geräusch wie von einem Gasleck und sahen dickes, gelbliches | |
Gas in den Raum strömen. Wir rannten nach draußen. Die Menschen versuchten, | |
in ihre Wohnungen zu gelangen, um sich das Gesicht abzuwaschen.“ Doch der | |
Luftangriff habe bereits das ganze Haus mit Giftgas gefüllt. „Ich kam als | |
Letzter aus dem Schutzraum und als ich endlich die Treppen erreichte, | |
fühlte mich plötzlich sehr müde. Ich konnte noch etwa fünf Meter gehen, | |
dann fiel ich zu Boden.“ | |
Drei Tage, sagt er, lag er im Koma, bevor er in einem Krankenhaus | |
aufwachte. Ehe er das Bewusstsein verlor, erinnerte er sich, sei Schaum aus | |
seinem Mund gelaufen. Heute noch kämpft er mit den Nachwirkungen: Starke | |
Gerüche seien für ihn kaum zu ertragen. In manchen Nächten wacht er mit | |
Atemnot auf. Hanan zeigt auf seinen blauen Asthma-Inhalator, der auf dem | |
Ladentisch liegt. | |
Hanan, eingepackt mit schwarzem Schal und dickem Kapuzenpullover, blickt | |
ins Leere. Von seiner Familie hat er als einziger überlebt. Sein jüngerer | |
Bruder, seine im siebten Monat schwangere Ehefrau, seine Mutter, | |
Schwestern, Tante – alle starben. Kurz nach dem Luftschlag habe er | |
aufgehört, mit Journalist*innen zu reden, sagt Hanan. Zu gefährlich sei | |
das gewesen. Der Geheimdienst habe ihn im Krankenhaus mit dem Auto | |
abgeholt, ihm gedroht, sollte er über den Vorfall sprechen. „Sie sagten, | |
die Rebellen seien dafür verantwortlich.“ | |
## „Hier riefen die Menschen einst zur Freiheit auf“ | |
Laut einer Untersuchung der Organisation für das Verbot chemischer Waffen | |
(OPCW) soll am Abend des 7. April 2018 mindestens ein Helikopter der | |
syrischen Eliteeinheit „Tiger Forces“ zwei Zylinder mit toxischem Chlorgas | |
auf zwei Wohnhäuser in Douma geworfen haben. Einer landete auf dem Dach des | |
Gebäudes, zerbrach, hochkonzentriertes Gas trat aus. Mindestens 43 Menschen | |
starben, Dutzende wurden verletzt. [3][Douma war damals schon lange eine | |
Hochburg der Rebellengruppe Freie Syrische Armee und stand wie das gesamte | |
Ghouta seit 2013 unter Belagerung von Assads Streitkräften.] Dessen | |
Regierung bestritt 2018 jede Beteiligung am Giftgasangriff. | |
Einige Kinder tragen Tüten voller frisches Brot nach Hause, laufen an | |
Hanans Geschäft vorbei. Der 28-Jährige sagt, jetzt habe er alles erzählt. | |
Und widmet sich wieder seinen Kunden. Es ist Samstag und auf der Straße | |
sind vor allem Jugendliche zu sehen, gelegentlich auch ganz in schwarz | |
verschleierte Frauen mit Einkäufen im Arm. Drei Kinder kicken nach einem | |
Ball, und rennen dann in eine Gasse. | |
In einer dieser Gassen steht Tawfiq Ali Diab in Wollpullover und Mütze. | |
Wenige Meter hinter ihm ragt ein halb kollabiertes, zersprengtes Gebäude in | |
den Himmel. „Nach Beginn der Revolution riefen die Menschen hier einst zur | |
Freiheit auf“, erzählt der 78-Jährige. „An dem Tag bewarf uns Assad mit | |
Fassbomben.“ Diab war ebenfalls im Schutzraum, als die Gaskanister vom | |
Himmel fielen. Zusammen mit seiner Ehefrau und den Kindern harrte er in dem | |
beengten, unterirdischen Raum aus. | |
„Gegen 19 Uhr fiel das Fass“, sagt er: ein dumpfer Aufschlag auf dem Dach. | |
Er sei als Erster nach draußen gelaufen, sagt er. Die Menschen seien ihm | |
nachgelaufen. Jemand habe geschrieben: „Chemieangriff“. Die Luft sei von | |
dem gelblichen Gas gesättigt gewesen, habe im Hals gebrannt, den Atem | |
ersticken lassen. Die Männer, Frauen, Kinder seien panisch losgerannt, auf | |
der Suche nach Wasser. Und dann seien sie umgefallen, einer nach dem | |
anderen. | |
## „Sie drohten, mich nach Sednaya zu bringen“ | |
Auch er selbst sei umgekippt, erzählt er. 40 Menschen seien an dem Tag | |
gestorben, erinnert er sich. Diabs Familie war unter ihnen. „Meine gesamte | |
Familie ist tot: Hanan, Omar, Mohammed, Ali, Joudy. Mein Bruder, meine | |
Nachbarn. Nur sechs von uns blieben am Leben.“ Er zückt sein Handy und | |
zeigt Bilder von lächelnden Kindern, einer jungen Frau. | |
Auch Diab berichtet von Verhören, Drohungen, Einschüchterungen durch den | |
Sicherheitsapparat nach dem Angriff. „Sie drohten, mich nach Sednaya zu | |
bringen“, dem berüchtigten Foltergefängnis nahe Damaskus. Und erzählt | |
weiter: Von Leichen, die beschlagnahmt wurden. Von Menschen, die dazu | |
gezwungen wurden, einen Meineid zu leisten, bloß nicht das Regime zu | |
beschuldigen. Froh sei er, dass Assad jetzt weg ist. | |
In ganz Syrien feiern Menschen den Fall des ehemaligen Regimes. Auch in | |
Douma sind sie glücklich, dass Assad weg ist. Doch Jubel, geschwenkte | |
Fahnen und Feuerwerk, das freudige Erwarten, das in Damaskus auf den | |
Straßen und in den Bars zu spüren ist, lässt sich hier kaum finden. Es ist | |
eine leise Freude, die von Armut, Traurigkeit und Trauma überschattet wird. | |
Von dem Kampf ums Überleben, an den sich die Menschen hier gewöhnt haben. | |
Es bleibt das Gefühl, als hätte man auf der großen Syrien-Party etwas | |
vergessen: diejenigen, die es sich nicht leisten können, zu feiern. | |
„Hier arbeiten wir nur, um zu essen“, sagt ein Mann, der anonym bleiben | |
möchte. Und zeigt auf ein offenes Rohr, das aus einem Haus herausragt. Eine | |
dicke, weiße Rauchwolke läuft aus, breitet sich in die gesamte Straße aus. | |
Es riecht unerträglich chemisch. „Sie verbrennen Plastik, Verpackungen, um | |
sich warm zu halten. Treibstoff können sie sich nicht leisten“, sagt er. | |
Der Preis für einen Baustein liege bei 2.000 syrischen Pfund, etwa 14 Cent, | |
hinzu kommen 6.000 für die Handwerker. „Wenn wir die gesamte Stadt wieder | |
aufbauen sollten…“, sagt er und schweigt dann. Sein Haus habe weder | |
Fensterscheiben noch Türen, nur um sich aufzuwärmen habe er Tag und Nacht | |
gearbeitet. „Diese Armut beeinflusst die Menschen“, betont er. Noch eher | |
als die Politik. | |
## Große Teile der Region Ost-Ghouta wurden im Krieg zerstört | |
In Douma ist Handy-Empfang nur schwer zu finden. Im Hintergrund sind immer | |
wieder Schüsse zu hören, sie tragen zur martialischen Kulisse bei. Eine | |
Katze sucht nach essbaren Resten in den verlassenen Mülltüten am | |
Straßenrand. Einige Straßen weiter wühlt ein älterer Mann im Abfall. | |
Eine Satellitenanalyse der Vereinten Nationen zeigte Ende 2017, dass fast | |
4.000 Gebäude im westlichen Teil der Region Ost-Ghouta komplett zerbombt | |
waren, 5.000 schwer und 3.500 zum Teil beschädigt. In einem der Dörfer | |
dort, Jobar genannt, waren 93 Prozent aller Häuser zerstört. Während das | |
syrische Armee von Assad die Region belagerte, waren nach Schätzungen des | |
Norwegian Refugee Council mindestens zwölf Prozent aller Kinder unter fünf | |
Jahren unterernährt. | |
Anderthalb Millionen Menschen lebten vor dem Krieg in Ost-Ghouta. Die | |
Rebellen übernahmen 2012 die Kontrolle, bis sie sich 2018 in den Norden | |
zurückzogen. [4][In Douma, das in den Händen einer islamistischen | |
Rebellengruppe war, hatten sich Ende März 2018 die letzten | |
Widerstandskämpfer verschanzt.] Nach dem Gasangriff vom 7. April flogen die | |
USA, Großbritannien und Frankreich Luftangriffe auf drei von [5][Assads | |
Chemie-Munitionslagern.] | |
Die Erzählungen der Menschen in Douma decken sich mit den Ergebnissen der | |
Untersuchung von OPCW. Tawfiq Ali Diab hofft nun auf eine erneute | |
Untersuchungskommission, die das Verbrechen in Douma beleuchtet. Und sagt: | |
„Ich suche nach Gerechtigkeit in diesem Leben und sehe Gerechtigkeit im | |
nächsten“. Der junge Nasser Amir Hanan lebt noch in seinem alten Haus. Doch | |
die Möbelstücke habe er allesamt ausgetauscht. Sein einziger Wunsch ist | |
ebenfalls: Gerechtigkeit. | |
30 Dec 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Offener-Brief-von-Giftgas-Ueberlebenden/!5011517 | |
[2] /Kommentar-Eingreifen-in-Syrien/!5495419 | |
[3] https://www.disorient.de/magazin/warum-das-syrische-regime-ost-ghouta-so-ha… | |
[4] /Stimmen-aus-Ost-Ghouta/!5484383 | |
[5] /Giftgasangriffe-im-Syrien-Krieg/!5394168 | |
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Serena Bilanceri | |
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