# taz.de -- Zukunft der Kurden in Syrien: Traum und Trauma | |
> Was wird aus den Kurden nach dem Sturz Assads? Die neuen Machthaber in | |
> Damaskus sind gegen ihre Autonomiepläne, PKK-Führer Öcalan könnte helfen. | |
Bild: Leider könnte es sich wiederholen, daß die Kurden vom Westen fallen gel… | |
„Am Ende sind es immer die Kurden, die fallen gelassen werden.“ Dieser Satz | |
bezeichnet ein kurdisches Trauma, das sich durch schlechte Erfahrungen mit | |
ihren Alliierten seit dem Ersten Weltkrieg herausgebildet hat. Es scheint | |
so, als wenn den [1][syrischen Kurden] dieses Schicksal nun erneut blühen | |
könnte. | |
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan, durch den Erfolg seiner | |
Partner vom HTS massiv gestärkt, will nämlich die Situation nutzen, um die | |
Kurdenfrage in Syrien in seinem Sinne zu regeln. Er droht mit einem | |
[2][großangelegten militärischen Angriff], aber es gibt auch Verhandlungen, | |
die vielleicht eine friedliche Lösung ermöglichen. | |
Im Augenblick stehen nur noch 2.000 US-amerikanische Soldaten zwischen | |
einem türkischen Einmarsch in [3][Nordostsyrien] und den kurdischen | |
Volksverteidigungseinheiten (YPG). Der designierte US-Präsident Donald | |
Trump hat bereits erklärt, wie sehr er Erdoğan für seine erfolgreiche | |
„Übernahme“ Syriens bewundert: [4][Die USA könnten die syrischen Kurden | |
tatsächlich bald fallen lassen.] | |
Die Kurden sind in Syrien praktisch seit dem Ende des Osmanischen Reiches | |
eine unerwünschte Minderheit. Weil sie ethnisch keine Araber sind, hatten | |
sie nie eine legitime Vertretung in Damaskus. Ein großer Teil gilt als | |
[5][staatenlos], weil ihnen nach einer Volkszählung 1962 ihre Papiere | |
abgenommen wurden. Begründung: Sie seien illegal aus der Türkei | |
eingewandert. | |
## Die Anhänger Öcalans setzten sich durch | |
Als der Bürgerkrieg in Syrien 2011 begann, hielten die Kurden sich heraus. | |
Sie trauten weder dem Assad-Regime noch der überwiegend | |
sunnitisch-islamistischen Opposition. Politisch waren sie gespalten in | |
Anhänger der türkisch-kurdischen PKK und deren Gründer Abdullah [6][Öcalan] | |
sowie in Anhänger der im Nordirak dominierenden Partei des | |
[7][Barsani]-Clans. Nach und nach setzten sich jedoch die Anhänger Öcalans | |
durch. Die Stunde der PKK-nahen Partei PYD und ihres bewaffneten Arms YPG | |
kam, als die Kurden wider Willen doch in den Bürgerkrieg hineingezogen | |
wurden: Es war der „Islamische Staat“ (IS), der auf dem Höhepunkt seiner | |
Macht die kurdische Stadt Kobanê angriff. | |
Mit Unterstützung der US-Luftwaffe gelang es der YPG im Winter 2015/16, den | |
IS aus Kobanê wieder zu vertreiben. Aus der Verteidigung gegen den IS wurde | |
dann der große Feldzug zur Vernichtung des IS in Syrien. Während die USA | |
aus der Luft angriffen, formten sie mit Militärberatern eine Bodentruppe, | |
die sogenannten Democratic Syrian Forces (DSF), in denen zwar auch | |
arabische Gruppen vertreten waren, die kurdische YPG aber klar dominierte. | |
In diesem Kampf gegen den IS konnte die DSF mit US-Unterstützung fast das | |
gesamte Gebiet nordöstlich des Euphrats unter ihre Kontrolle bringen, | |
einschließlich der syrischen Ölfelder. | |
Offiziell fordert Erdoğan einen Rückzug der YPG-Milizen aus einer 30 | |
Kilometer tiefen Pufferzone entlang der türkisch-syrischen Grenze. Diese | |
soll dann von der Türkei kontrolliert werden, genauer von mit ihr | |
verbündeten syrischen Milizen. Hier liegen zwei der drei wichtigsten | |
kurdischen Städte: Kobanê und Qamischli. Neben den USA und der Türkei wird | |
aber die neue syrische Regierung in Damaskus eine entscheidende Rolle bei | |
der Neuordnung des Landes spielen. | |
Bereits vor wenigen Tagen hat der zweite Mann im HTS, Militärführer Hassan | |
al-Hamwi, erklärt, in Zukunft würden natürlich auch die heute von den | |
Kurden kontrollierten Gebiete unter den Machtbereich der Regierung fallen. | |
Eine autonome Kurdische Region sehe er nicht, „Syrien wird nicht geteilt.“ | |
In diesem Sinne will das HTS auch alle Milizen einschließlich der eigenen | |
auflösen und eine integrierte syrische Armee aufbauen. Erfahrungen aus dem | |
Libanon und dem Irak zeigen, dass das schwierig werden könnte. | |
## Warum nicht einen kurdischen Staat formen? | |
Für die Kurden stellt sich zunächst die Frage, ob sie überhaupt vollwertige | |
syrische Staatsbürger werden und welche kulturellen Rechte ihnen zustehen. | |
Eine in vielen Köpfen präsente Frage: Wenn schon eine Neuordnung ansteht, | |
warum dann nicht einen kurdischen Staat aus den überwiegend kurdisch | |
besiedelten Gebieten in Syrien, der Türkei, dem Irak und dem Iran formen? | |
Da die Kurden aber wissen, dass sie damit alle vier Staaten gegen sich | |
aufbringen und auch international keine Unterstützung erwarten könnten, | |
wollen sie wenigstens weitgehende Autonomie. Vorbild ist das kurdische | |
Autonomiegebiet im Nordirak. Wir sehen im Irak, was das bedeutet: Einen | |
schwachen Zentralstaat, in dem die Kurden im Norden und die schiitischen | |
Milizen im Süden machen, was sie wollen und die Regierung in Bagdad wenig | |
zu sagen hat. Die Alternative ist vielerorts im Nahen Osten bislang ein | |
starker Zentralstaat, der seine Ansprüche repressiv durchsetzt. | |
Syrien hätte jetzt die Möglichkeit, etwas Neues zu versuchen. Der | |
politischen, ethnischen und religiösen Situation des Landes entsprechend | |
würde sich ein föderaler Staat mit einem fairen Interessenausgleich | |
zwischen allen Landesteilen anbieten. Das wäre für diese Region zwar ein | |
Novum, ist aber immerhin denkbar. | |
Das Land ist nach 13 Jahren Krieg so erschöpft, dass niemand mehr kämpfen | |
will. Viele Menschen sorgen sich um die nächste Mahlzeit und brauchen | |
dringend Hilfe. Der Versuch, ein inklusives, nicht repressives Syrien | |
aufzubauen, würde von der Internationalen Gemeinschaft sicher auch | |
materiell unterstützt werden. Geld für den Wiederaufbau würde fließen, von | |
dem auch die Nachbarländer, speziell die Türkei, profitieren könnten. | |
Eventuell könnte auch die Erdoğan-Regierung eine solche Entwicklung | |
unterstützen. | |
Eine Rolle könnte dabei Öcalan spielen. Hinter den Kulissen lässt Erdoğan | |
seit Wochen bei dem seit 25 Jahren inhaftierten Gründer der PKK sondieren, | |
ob er bereit ist, sich für ein Ende des bewaffneten Kampfes der Kurden | |
einzusetzen. Öcalan hat nicht nur unter den Kurden in der Türkei, sondern | |
auch in Syrien großen Einfluss. Die Kurden bekämen dann zwar keinen eigenen | |
Staat, aber wichtige Mitspracherechte. | |
24 Dec 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Tuerkische-Besatzung/!6057608 | |
[2] /Tuerkische-Angriffe-auf-Kurden-in-Syrien/!6052144 | |
[3] /Kurdisch-verwaltete-Region-in-Syrien/!5827362 | |
[4] /Blinken-in-Ankara/!6056230 | |
[5] /Werbekampagnen-vor-Olympia/!6023654 | |
[6] /Syrischer-Journalist-ueber-Assads-Sturz/!6052183 | |
[7] /Tuerkei-und-Israel-nach-Assad-Sturz/!6051754 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Gottschlich | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Syrien | |
Kurden | |
Autonome Kurdenregion | |
GNS | |
Schwerpunkt Türkei unter Erdoğan | |
Opposition in der Türkei | |
Kiel | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Ost-Ghouta | |
Türkei | |
PKK | |
Schwerpunkt Syrien | |
Schwerpunkt Syrien | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Historische Wende: Abdullah Öcalan verkündet Auflösung der PKK | |
Vertreter der kurdischen Partei DEM haben eine Erklärung des inhaftierten | |
PKK-Anführers verlesen: Öcalan ruft zum Ende des bewaffneten Kampfes auf. | |
Kurdische Partei DEM: Kommt bald der Frieden zwischen Türkei und PKK? | |
Die Annäherung an die militante Kurdenorganisation befindet sich in einer | |
entscheidenden Phase. Die kurdische Partei DEM will „vertrauensbildende | |
Maßnahmen“. | |
Demonstration in Kiel: Kurden vermuten „IS“ hinter Messerangriff | |
Die kurdische Community wertet den Angriff auf den Demonstranten als | |
Zeichen für Bedrohung durch Islamisten. Die AfD nutzt die Tat für den | |
Wahlkampf. | |
Lage der Alawiten in Syrien: Eine Stadt im Zwielicht | |
Im syrischen Küstenort Tartus leben viele Alawit*innen. Auch Ex-Diktator | |
Assad ist Alawit. Jetzt fürchten viele von ihnen Rache. Ein Besuch. | |
Nach dem Fall von Assad in Syrien: Douma sucht nach Gerechtigkeit | |
In der Rebellenhochburg verübte wohl das Ex-Regime 2018 einen | |
Giftgasangriff. Lange trauten sich die Bewohner nicht, davon zu erzählen. | |
Bis jetzt. | |
Inhaftierter Kurdenführer Öcalan: Frieden mit der Türkei ist möglich | |
Nach der türkischen Regierung stimmt der inhaftierte PKK-Chef Öcalan einem | |
neuen Friedensprozess zu. Zwei kurdische Politiker durften ihn besuchen. | |
Hausdurchsuchung bei Hamburger Studentin: Kapitalismuskritik? Lieber ohne Kurden | |
Die Polizei durchsucht das WG-Zimmer einer Frau, die 2023 einen Kongress | |
mit kurdischen Gruppen organisiert hat. Schon damals intervenierte der | |
Staat. | |
Türkische Angriffe auf Kurden in Syrien: Kein bisschen Frieden | |
Der türkische Präsident Erdoğan fühlt sich nach dem Sturz Assads als | |
Sieger. Nun plant er einen Angriff, der die Region destabilisieren würde. | |
Syrischer Journalist über Assads Sturz: „Endlich ist dieser Spuk vorbei“ | |
Arta FM macht Radio für den Nordosten Syriens. Der Leiter hofft nach dem | |
Fall des Regimes auf Pressefreiheit – und sorgt sich um türkische Angriffe. |