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# taz.de -- Umsturz in Syrien: Freiheit, für einen Moment
> Nach dem Fall des Assad-Regimes herrschen Freude, Hoffnung und
> Ungewissheit in Damaskus. Eindrücke aus einer Stadt im Umbruch.
Bild: Im Foltergefängnis Sednaya. Die 27jährige Hayat al-Turki sucht ihre Ver…
Damaskus taz | Das Tor zur Folterzentrale steht weit offen. Davor wachen
zwei entspannt wirkende Rebellenkämpfer. Sie laden freundlich ein, ins
Innere zu kommen. Ich zögere.
Von meinen vorigen Aufenthalten in Damaskus erinnere ich mich an dieses
Geheimdienstgebäude im Zentrum der syrischen Hauptstadt. Ein Ort, von dem
niemand sprach, so als gäbe es ihn gar nicht. Trotz der unübersehbaren
hohen Betonmauern, an denen man ängstlich schnell vorbei fuhr. Hier
stehenzubleiben war undenkbar. Es war das Zentrum des
Luftwaffengeheimdienstes in Damaskus, eines von sieben internen
Geheimdiensten, deren einzige Aufgabe es war, das Regime Baschar al-Assads
zu schützen und sich gegenseitig zu überwachen.
Überall im Innenhof liegen jetzt Dokumente auf dem Boden. Die meisten davon
sind Kopien von den Personalausweisen derer, die hier weggesperrt und
gepeinigt wurden. Einige von ihnen haben das Teenageralter kaum
überschritten. Es ist erst ein paar Tage her, dass jene, die hier überlebt
hatten, freigelassen wurden.
Abu Wissam, einer der neuen Wächter, schwingt sich seine Kalaschnikow über
die Schulter und führt ins Innere des Gebäudes. Es riecht leicht nach
Verwesung. In einer Ecke wurden Foltergeräte wie in einer Rumpelkammer
abgestellt. Eisengitter, an denen Menschen kopfüber aufgehängt wurden. Ein
grünes Plastikrohr, mit dem die Gefangenen geschlagen wurden, und allerlei
undefinierbare Metallgestelle und Pfosten voller Haken, mit deren Hilfe die
hier Festgehaltenen in unnatürliche Haltungen gezwungen wurden. Da liegt
ein blutiges T-Shirt. „Das ist der Kerzenstuhl“, sagt Abu Wissam und deutet
auf ein Gestell, bei dem die Sitzauflage fehlt. Darunter wurde eine Kerze
angezündet, nachdem die Gefangenen gezwungen wurden, sich darauf zu setzen.
## „Meine Mutter ist mein Paradies“
Im Büro der Wächter liegt ein Zettel, wahrscheinlich von einem der Folterer
geschrieben. „Das größte Geschenk, das das Leben zu bieten hat, ist der
Tod“, wurde darauf in schöner arabischer Handschrift notiert. Hat der
Verfasser das auch den Gepeinigten gesagt, um ihnen endgültig den Mut zu
nehmen?
Die Zellen liegen im Keller. „Die sind bei allen Geheimdienstgebäuden immer
im Untergeschoss“, sagt Abu Wissam, der mit der Taschenlampe seines Handys
vorausgeht. Es gibt keinen Strom. Jene, die hier unten eingesperrt waren,
sahen niemals Sonnenlicht. Weggesperrt „hinter der Sonne“, wie es auf
Arabisch heißt, um die zu beschreiben, die in den Kerkern verschwunden
sind.
Unter dem Assad-Regime waren es über Hunderttausend Unglückliche, die dort
für immer verschwanden und nie wieder auftauchten.
Abu Wissam leuchtet auf eine riesige getrocknete Blutlache am Boden. Er
zeigt die winzigen Zellen, in denen die Menschen zu Dutzenden eingepfercht
wurden. Viele haben ihre Namen an den Wänden verewigt. Jemand hat ein
Gedicht für seine Mutter geschrieben. „Meine Mutter ist mein Paradies“,
heißt es dort. Sie alle hatten sicherlich nicht geahnt, dass der Tag kommen
würde, an denen jemand anderes außer ihnen und ihren Mitgefangenen diese
Inschriften sehen würde. „Gestern kam ein Mann hierher und hat nach
irgendetwas von seinem Vater gesucht, der hier vor Jahren weggesperrt
wurde. Er hat dann dessen Namen in einer der Zellen gefunden. Auch der Tag
seiner Verhaftung war dort eingeritzt“, berichtet Abu Wissam.
## Die Freiheit beginnt mit der Öffnung der Zellen
„An jenem Tag musste dieser Sohn mit ansehen, wie sein Vater für immer
weggebracht wurde. Er hat ihn nie wieder gesehen. Jetzt hat er als einzige
Erinnerung seinen Namen, verewigt in einer der dunklen Kellerzellen. Der
Fund ist wie eine Art Abschluss und gleicht einem Begräbnis. Er konnte
seinen Vater nie begraben.“
Eine mumifizierte Ratte liegt am Boden. Nur noch Skelett und Fell zeugen
von den tierischen Bewohnern dieses Ortes.
Es ist ein Ort des Grauens. Man möchte alle Eindrücke nach einem Besuch von
sich abwaschen, die Erinnerung an diesen Ort vergessen. Aber für alle, die
hier traumatisiert wurden, oder für die Angehörigen, die in diesen Zellen
ihre Liebsten verloren haben, ergibt sich auch eine große offene Rechnung.
Jene, die hier verhörten, folterten und peinigten, jene, die die Befehle
dafür gaben und dieses System der Unterdrückung aufbauten – werden sie alle
jemals zur Rechenschaft gezogen werden? Die Freiheit beginnt mit der
Öffnung der Zellen. Die Gerechtigkeit beginnt damit, die Peiniger nicht
davonkommen zu lassen.
Doch was wollen die neuen Machthaber, die meist islamistischen
Rebellengruppen, die innerhalb von nur zehn Tagen das implodierte System
Assads gestürzt haben?
## Welches System stellen sich die Rebellen vor?
Vor einem der alten Offiziers-Clubs im Zentrum von Damaskus, direkt neben
dem ehemaligen Militärhauptquartier, ist ein halbes Dutzend Rebellenkämpfer
stationiert. Sie gehören der islamistischen Hayat Tahrir al-Sham (HTS) an,
der größten Rebellengruppe. Sie zeigen ihren Jeep mit aufmontiertem
Granatwerfer, mit dem sie vor wenigen Tagen aus der nördlichen Provinz
Idlib bis in die Hauptstadt fuhren. Der Granatwerfer kam bisher kaum zum
Einsatz, erzählen sie. Das Regime und seine Truppen lösten sich vor ihren
Augen auf. „Wir waren selbst überrascht, wie schnell es ging. Aber das
zeigt, wie schwach das Regime war“, sagt einer.
Sie haben ein paar Sofas aus dem Offiziers-Club nach draußen geholt, in der
Mitte haben sie eine Feuerstelle eingerichtet. Einer der Männer nimmt einen
Bilderrahmen, in dem die Reste eines Porträts des gestürzten Präsidenten
Baschar al-Assad zu sehen sind, und zerbricht ihn in kleine handliche
Stücke. So finden die Reste des Diktators nun Verwendung: als Brennholz
fürs Teekochen.
Die jungen Männer kommen aus einfachen Verhältnissen, haben wenig Bildung
genossen. Der älteste von ihnen ist Khaled. Er ist 32 Jahre alt, sieht aber
mindestens 10 Jahre älter aus. Er ist vor 13 Jahren von Homs vor den
Truppen des Regimes nach Idlib geflüchtet. Dort stand er vor dem Nichts und
schloss sich dann den Rebellen an.
Ich frage sie, was für eine Art neues Syrien sie sich vorstellen. Es müsste
ein islamisches Syrien sein, antworten sie. Aber Syrien bestehe doch aus
vielen unterschiedlichen Religionsgruppen, Christen und anderen
Minderheiten. Was ist mit denen? Man werde gut mit ihnen umgehen, sie
beschützen, sagen sie. Sie seien in Sicherheit, antworten sie. Sie alle
wollten eine funktionierende Regierung, Meinungsfreiheit und auch Wahlen,
sagen sie.
Was aber, wenn die Mehrheit der Wähler einen säkularen Staat und eine
Trennung von Staat und Religion will, frage ich. Sie schütteln die Köpfe.
Das könnten sie auf keinen Fall akzeptieren. Assad sei auch ein säkularer
Diktator gewesen.
Schließlich kommt einer ihrer Offiziere vorbei. Er nennt sich Abu Obeida.
Er fungiert scheinbar als eine Art Politkommissar, sei dafür
verantwortlich, dass sich die Truppen islamisch-gemäß verhalten, beschreibt
er seine Aufgabe. Er könnte auch radikaler Islamist sein. Mit langem Bart,
ein wenig nach afghanischer Mode gekleidet. Ob er das alte Regime zur
Rechenschaft ziehen will? „Was die neue Regierung angeht, wir haben allen
Soldaten, die Militärdienst leisten mussten und die Waffen abgelegt haben,
ihre Sicherheit garantiert. Aber wenn es Beschwerden gibt, über Menschen,
die gefoltert, verhört und getötet haben, dann werden die zur Rechenschaft
gezogen“, kündigt er an.
Dem würde die Mehrheit der syrischen Bevölkerung wohl zustimmen. Aber wie
wollen die neuen Machthaber das schaffen, mit Richtern, die bisher nach
Wunsch des Regimes geurteilt haben, und einem Staatsapparat, den sie nun
übernehmen, der aber vollkommen auf das alte Regime zugeschnitten ist? Man
habe qualifizierte Leute und Spezialisten aus der Provinz Idlib. Aber jetzt
brauche es welche für alle Orte Syriens, meint Abu Obeida. „Das bedarf
einiges an Organisation. Es ist eine Frage der Zeit. Hoffentlich dauert das
nicht all zu lange“, sagt er.
## Die Zukunft ist ungewiss
Auch er betont, dass er natürlich ein islamisches Syrien wolle. Aber was
für einen Staat er sich vorstellt, da bleibt er vage. „Der Begriff
Islamisten, mit dem sie uns bezeichnen, ist ein konstruierter Begriff. Wir
sind Muslime. Wir werden freundlich zu unseren Nachbarn sein und niemandem
schaden. Wir haben nicht vor, irgendjemandem etwas aufzwingen, wir wollen
niemanden dominieren oder unterdrücken“, führt er aus.
Glaubt er, dass diese Worte die Minderheiten im Land, zum Beispiel dies
Christen beruhigen werden? „Niemand kann sich am Ende einer ganzen Nation
aufzwingen. Keine Religion, keine islamische Gemeinschaft. Am Ende werden
die Menschen bestimmen, wer sie regieren soll“, sagt er und lädt zu einem
weiteren Tee ein. Es ist eine merkwürdige Mischung aus Freiheitsgedanken,
auch geboren aus dieser Stunde, den Diktator losgeworden zu sein, und ihrem
islamistischen Hintergrund, der wahrscheinlich mit jedem Tag ihrer
Herrschaft mehr in den Vordergrund rücken wird. Nach der vierten Tasse Tee
mit den Rebellen und vielen Diskussionen, gibt es vor allem eines: mehr
Fragen, wie es mit diesem Land und seinen Menschen weiter gehen wird.
Im Viertel Bab Touma in der Damaszener Altstadt leben vorwiegend Christen.
Wenige Tage nach dem Sturz Assads kehrt hier eine Art Normalität ein.
Geschäfte haben wieder geöffnet, die Menschen spazieren durch die Gassen.
Hier ist auch der Sitz der armenisch-katholischen Kirche. Deren Erzbischof
George Asadorian hat gemischte Gefühle. „Veränderung geht immer mit Ängsten
einher“, sagt er. Immer wenn es Veränderungen im Nahen Osten gegeben hat,
ob im Irak, in Libyen oder in Ägypten, ging das mit Angriffen gegen
Christen einher. „Die neuen Machthaber haben keine terroristische Agenda,
aber sie haben einen extrem radikalen Hintergrund und das macht uns Angst“,
sagt er.
Er erzählt auch, dass es bereits mehrere Treffen zwischen den christlichen
Oberhäuptern und Vertretern der HTS gegeben habe. „Sie haben uns
versichert, dass alles besser wird und wir keine Angst haben sollten. Die
Botschaft, die sie uns immer wieder schicken, lautet: „Habt keine Angst“,
fasst er die Treffen zusammen.
Die Nationale Koalition und die Freie Syrische Armee hätten erklärt, dass
sie sogar über einen säkularen Staat nachdächten, also eine Trennung
zwischen Staat und Religion. „Das ist genau das, was wir wollen. Ein Land
für alle seine Menschen. Religiöse Differenzen trennen. Säkularismus
vereint. Sie haben uns versprochen, dass sie an einem Land arbeiten, in dem
alle ein Zuhause haben“, sagt Asadorian.
## „Wir müssen alle zusammenarbeiten“
Dann mitten im Gespräch ist plötzlich eine Salve aus einem
Schnellfeuergewehr zu hören. Irgendwo in einer der Gassen der Altstadt.
Eine kurze Erinnerung daran, dass die Lage noch nicht stabil ist. „Hörst du
die Schüsse? Das ist nicht ermutigend“, sagt der Erzbischof. „Aber wir
sollten abwarten.“ Er könne den Menschen, die aus dem Land geflüchtet sind,
gerade noch nicht guten Gewissens sagen, dass alles in Ordnung sei und sie
zurückkommen könnten. „Wir warten ab und wir bieten unsere Kooperation an,
um ein besseres Syrien für alle zu schaffen. Wir müssen alle
zusammenarbeiten für den Frieden in Syrien.“
Syrien und Damaskus werden gerade von so vielen widersprüchlichen Gefühlen
beherrscht. Da ist Freude darüber, dass das brutale Assad-Regime Geschichte
ist. Hoffnung darauf, dass nun alles besser wird. Aber es gibt auch eine
riesige Ungewissheit und Unsicherheit, wie es nun weitergeht.
Die Widersprüche sind oft in einer Szene greifbar. Während ein Autokorso
mit jungen Leuten, hupend, freudig und singend durch die Innenstadt fährt,
winken die bärtigen neuen Machthaber, die Kalaschnikow über die Schulter
geschwungen, den Jugendlichen zu und tanzen mit. Am Himmel sind israelische
Kampfjets zu hören. Es folgt eine Explosion in der Ferne. Eine weitere
syrische Militärinstallation geht in Flammen auf. All das sind
Momentaufnahmen des neuen Syriens.
13 Dec 2024
## AUTOREN
Karim El-Gawhary
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