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# taz.de -- Machtwechsel in Syrien: Vom Winde verweht
> Syriens Diktator Assad verschwindet kommentar- und spurlos. Die Rebellen
> übernehmen die Macht im ganzen Land. Das alte Regime ist Geschichte.
Bild: Damaskus-Erlebnis: Oppositionelle Kämpfer jubeln am Sonntag in der syris…
BERLIN taz | „Der Tyrann Baschar al-Assad ist geflohen“, verkündete am
Sonntag im Morgengrauen [1][das Militärkommando] der syrischen
Rebellenarmee HTS (Hayat Tahrir al-Sham). [2][Und weiter]: „Nach 50 Jahren
Unterdrückung unter der Baath-Herrschaft, 13 Jahren Verbrechen, Tyrannei
und Vertreibung und einem langen Kampf gegen alle Formen der Besatzung
erklären wir heute, am 8. Dezember 2024, das Ende dieser dunklen Ära und
den Beginn eines neuen Kapitels für Syrien.“
Massaker, Terror, Vertreibung, Hungerblockaden, Giftgas: Dreizehn Jahre
lang hatte das Assad-Regime mit brutalsten Mitteln den im „Arabischen
Frühling“ 2011 millionenfach geäußerten Ruf der syrischen Bevölkerung nach
Freiheit erstickt. Nun fand der Diktator selbst kein einziges Wort für sein
Land, bevor er spurlos verschwand und die Macht den Rebellen überließ, die
zuvor durch das halbe Land marschiert waren. Das Schicksal des 59-jährigen
Gewaltherrschers war am Sonntag eines der großen ungelösten Rätsel dieses
historischen Tages.
Die Rebellenoffensive gegen Assad hatte am Mittwoch, den 27. November
begonnen, mit einer Offensive der HTS aus ihrer Hochburg Idlib in Richtung
Aleppo. Assad flog nach Moskau, um militärischen Beistand zu erbeten –
vergeblich: Russland hatte nichts im Angebot außer Luftangriffe.
Nachdem Aleppo am 30. November kampflos an die Rebellen fiel, soll Assad
heimgekehrt sein, um die Verteidigung des syrischen Kernlands von Damaskus
über Homs bis Latakia an der Mittelmeerküste zu organisieren – ebenfalls
erfolglos: Die Rebellen stießen tief nach Süden vor. Sie eroberten am
vergangenen Donnerstag die Stadt Hama und näherten sich am Freitag der
Stadt Homs. Im Süden des Landes brachen eigene Aufstände aus, die ersten
Aufständischen von dort erreichten am Samstag die südlichen Vororte von
Damaskus.
## Spekulationen um Flugzeugabsturz
Noch immer kam niemand Assad zu Hilfe. Deir ez-Zor am Euphrat fiel an die
vorrückenden kurdischen Kämpfer. Russland rief seine Staatsbürger dazu auf,
Syrien zu verlassen – es hatte Assad offenbar fallengelassen.
Ein Gipfeltreffen am Samstagabend in Katars Hauptstadt Doha besiegelte
Assads Isolation. Bei Gesprächen zwischen den Außenministern Russlands,
Irans und der Türkei und internationalen Diplomaten wurde Berichten zufolge
ein Deal erwogen, wonach Assad nach Moskau ins Exil geht. Über die Details
wurde man sich nicht einig, Assads Vertreter wollten davon sowieso nichts
wissen.
Während im Sheraton-Hotel von Doha verhandelt wurde, fiel in Syrien Homs an
die Rebellen. In Damaskus gab es Berichte, Assad sei unauffindbar, die
Garde um seinen Palast sei abgezogen. Um 4.59 Uhr Ortszeit am frühen
Sonntagmorgen (2.59 Uhr MEZ) hob am Flughafen von Damaskus [3][ein
Militärflugzeug in östlicher Richtung] ab. Sofort machten Meldungen die
Runde, Assad habe Damaskus verlassen. Nach kurzer Zeit drehte das Flugzeug
Richtung Nordwesten ab, dann drehte es erneut und eine halbe Stunde nach
Abflug verlor es rapide an Höhe und verschwand nahe Homs vom Radar.
Stürzte das Flugzeug ab? Wurde es von einer russischen Flugabwehrrakete zu
Boden gebracht? Wurde Assad, den niemand mehr wollte, eliminiert? Oder saß
er gar nicht in der Maschine? Am Sonntagnachmittag erklärte ausgerechnet
die russische Regierung, Assad habe Syrien verlassen. Lebend oder tot?
## Assads Folterknäste öffnen sich
Sicher war nur eines: Das Regime war tot. Immer wieder hatten
Regierungsstellen in Damaskus eine siegreiche Endschlacht in Aussicht
gestellt – erst in Hama, dann in Homs, dann in Damaskus. Aber sobald
irgendwo Rebellen auftauchten, streckten die Regierungstruppen die Waffen.
Kaum jemand wollte noch für Assad sein Leben riskieren.
In Damaskus feierten am Sonntag Menschen auf den Straßen den Fall des
Diktators. Tausende sangen auf dem Hauptplatz „Freiheit“, auch in der
Großstadt Homs zerrissen junge Männer Assad-Plakate, während die
Aufständischen in die Luft schossen. Überall fielen die Assad-Denkmäler,
sogar in Assads alawitischer Heimatregion.
Besonders bewegend: die Szenen, in denen sich die Tore von Assads
Folterknästen öffneten und zu Tausenden Häftlinge, die teils seit vier
Jahrzehnten von der Außenwelt isoliert gewesen waren, von bewaffneten
Rebellen abrupt in eine Freiheit hinausbegleitet wurden, von der sie nichts
ahnten und die viele von ihnen offensichtlich überwältigte.
„Nichts auf der Welt ist schlimmer als das, worin wir gelebt haben“,
schreibt ein ehemaliger Gefangener, Abdel Azeem. Er habe im berüchtigten
Gefängnis 235 „die sehr dunkle Seite der Regimebrutalität“ erlebt. „Die
Glücklichkeit ist grenzenlos.“ Man erwarte jetzt eine Übergangsregierung
mit Freiheit und Gleichheit für alle.
In Damaskus eskortierten Aufständische Ghazi al-Jalali, den erst im
September von Assad berufenen Premierminister Syriens, aus seinem Amtssitz
ins Hotel Four Seasons zu Gesprächen mit den neuen Herren. [4][Im
Staatsfernsehen versprach Jalali] daraufhin die „geordnete Machtübergabe“
und grenzte sich klar vom verschwundenen Assad ab: „Ich bin zu Hause, ich
kenne kein anderes Land als meine Heimat“, sagte er. „Das Land gehört nicht
mir, es gehört niemandem, es gehört allen Syrern. Deswegen reichen wir
allen Syrern die Hände.“
## Ausgangssperre in Damaskus
Alle staatliche Gebäude sowie der Flughafen waren da bereits in
Rebellenhand. Die HTS-Kämpfer hatten strikte Anweisungen, öffentliche
Institutionen zu schützen und Privateigentum zu respektieren. Die Anweisung
beeindruckte offenbar nicht alle. Auf Videos ist zu sehen, wie Bewaffnete
und Unbewaffnete von Assads verborgenen Schätzen Besitz nehmen: Sie laufen
im Präsidentenpalast herum, sie bestaunen die roten Rennwagen in der
Tiefgarage, sie tragen volle Säcke aus der Zentralbank, sie verwüsten die
iranische Botschaft.
Nicht HTS spielte in Damaskus die Hauptrolle, sondern die Rebellen aus dem
Süden Syriens: Drusen aus Suwayda und ehemalige, offiziell mit dem Regime
„versöhnte“ Aufständische aus Daraa. HTS-Führer Jolani traf erst am
Sonntagnachmittag in Damaskus ein und seine Bewegung verhängte eine
nächtliche Ausgangssperre.
„Das Gefühl ist unbeschreiblich“, freut sich eine syrische Geflüchtete in
der nordjordanischen Stadt Irbid in einer Nachricht: „Heute können
Syrer*innen den Geschmack der Freiheit spüren, nach 14 Jahren Krieg,
Tot, Zerstörung und Folter. Ein freies Syrien!“ Und sie fügt hinzu:
„Hoffentlich werden wir zurückkehren.“
Auf der syrischen Seite der Grenze, in Suwayda knappe 30 Kilometer
entfernt, sagt ein 37-jähriger Schreiner, Basman Naseef, man wolle
aufhören, in diesem Dauerzustand von Revolution und Wut zu leben. „Wir
wollen eine säkulare, föderale Regierung, die uns die Freiheit bringt, die
wir verdienen. Frei von Terror und Extremismus.“ Nour Radwan, Direktor des
lokalen Nachrichtenportals Suwayda24, schreibt auf Nachfrage: „Ich glaube,
dass der echte Kampf für die Syrer*innen jetzt beginnt, um einen wahren
Staat aufzubauen auf den Grundlagen von Justiz und Gleichheit aller
Bürger*innen. Ich bin vorsichtig optimistisch.“
8 Dec 2024
## LINKS
[1] https://x.com/Levant_24_/status/1865596673369530559
[2] https://x.com/Levant_24_/status/1865598620663226784
[3] https://x.com/TrueSlazac/status/1865587109630754838
[4] https://x.com/telesurenglish/status/1865615874897432778
## AUTOREN
Dominic Johnson
Serena Bilanceri
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