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# taz.de -- Umsturz in Syrien: Alle sind auf den Beinen
> Zwischen Euphorie und Chaos nach dem Sturz des Assad-Regimes: Die
> Menschen haben das Gefühl, dass sie ihr Land zurückgewonnen haben.
Bild: Angehörige von Gefangenen nach der Öffnung des berüchtigten Militärge…
In Aleppo fehlte es an Brot, Medikamenten und Diesel zum Heizen. Aleppo war
ein „Ort der dauerhaften humanitären Krise“, erzählt der 36-jährige Anas
al-Rawi. „Nachts kamen Kämpfer und klauten Brot aus den Bäckereien, morgens
gab es für Zivilist*innen nichts mehr zu essen.“
Mit Fassbomben und Bodentruppen hatte das Assad-Regime Aleppo im Jahr 2016
von oppositionellen Kämpfern zurückerobert. Jahrelang wurde Ost-Aleppo vom
Regime bombardiert und ausgehungert. Die Oppositionellen wurden nach Idlib
vertrieben. Die Stadt, die einst für die Gräueltaten des Regimes gegen die
eigene Bevölkerung stand, ist die erste, die befreit wurde.
Anas Al-Rawi ist einer, der die ganze Zeit gegen Ungerechtigkeiten
aufgestanden ist. Er leitet das Zooz-Zentrum in Nordsyrien, ein ziviles
Zentrum, das von vertriebenen Aktivist*innen gegründet wurde. Al-Rawi
sagt, er habe die Rebellenoffensive zwar vorhergesehen, seit ein paar
Monaten habe es Gerüchte gegeben – doch dass es nun [1][so schnell geht mit
dem Sturz des Regimes], damit habe auch er nicht gerechnet. „Ich konnte es
erst gar nicht glauben! So viele Jahre konnte ich nicht nach Aleppo.
Freitagnacht bin ich mit Freunden nach Aleppo gefahren. Wir sind so um 4.30
Uhr morgens angekommen. Am ersten Tag war die Angst in den Augen der
Menschen: Für sie sind da erst mal Fremde in die Stadt gekommen, Kämpfer
und Zivilisten.“
Dann habe es ein paar Kontakte zwischen den Leuten und den Kämpfern
gegeben. „Es gab ein paar Botschaften über Lautsprecher an die christliche
Bevölkerung.“ Die Kämpfer hätten versprochen, alle Minderheiten zu
schützen. „Mit den Luftangriffen des Regimes auf Aleppo, auch auf die
Universität und das Krankenhaus, waren die Leute nochmals ängstlich“,
erzählt al-Rawi. Nach dem endgültigen Sturz des Regimes am Sonntag strömten
die Menschen schließlich auf die Straßen.
In Aleppo sei die Innenstadt voller Menschen. „Alle sind auf den Beinen,
Frauen, Kinder, Paare, es herrscht große Freude.“ Die Bäckereien hätten die
Ansage bekommen, 24 Stunden zu arbeiten, um genügend Brot zu produzieren.
„Auch der Strom funktioniert.“ Das Wichtigste aber sei, sagt al-Rawi: „Ich
habe kaum Waffen in der Stadt gesehen. Ich habe einen gesehen, der eine
Waffe trug, er gehörte der Befreiungsfront unter der HTS an. Ansonsten ist
es verboten, Waffen in die Stadt zu bringen. Das ist total wichtig!“ Die
HTS hat die Rebellenoffensive angeführt und in Idlib über Jahre
regierungsähnliche Strukturen aufgebaut.
In Sweatshirts verkündeten HTS-Mitglieder am Sonntag im staatlichen
Fernsehen: „Mit Gottes Hilfe wurde Damaskus befreit. Das Regime von Tyrann
Baschar al-Assad wurde gestürzt. Alle Gefangenen wurden befreit.“
Rasant verbreiteten sich Videos aus dem Folterknast Sadnaya: Männer
filmten, wie sie die Zellentüren öffnen und den Menschen sagen, dass sie
nach Hause gehen können. Auf den Videos sind auch verängstigte Frauen und
Kinder zu sehen. Und Männer des Zivilschutzes, die graben, um
Insass*innen aus unterirdischen Zellen zu befreien. Alle Gefangenen
seien aus Sadnaya befreit, meldete inzwischen die Vereinigung der Häftlinge
und Vermissten.
Es gibt Videos, die zeigen, wie Syrer*innen in Richtung des Gefängnisses
fahren, um ihre Liebsten zu finden. Sadnaya war bekannt als Todeszelle und
„Schlächterhaus“. In einem in sozialen Medien geteilten Video berichten
drei Männer, dass sie am Tag der Befreiung eigentlich hätten hingerichtet
werden sollen. Es heißt, einige Insass*innen hätten nicht mal den Tod
des Vaters von Baschar al-Assad vor rund 25 Jahren mitbekommen und hätten
gedacht, sie seien mit Hilfe von Saddam Hussein befreit worden.
Einer der ältesten Befreiten ist ein ehemaliger Pilot: Ragheed al-Tatari
hatte sich 1982 geweigert, Zivilist*innen beim Massaker in Hama zu
bombardieren. Dafür wurde er unter dem Vater Hafiz al-Assad verhaftet –
nach 43 Jahren ist er am Wochenende freigekommen. Lokale Medien berichten
auch von dem Libanesen Ali Hassan Ali: Er wurde 1985 an einem syrischen
Checkpoint verhaftet, mit 18 Jahren. Seine Familie suchte verzweifelt nach
ihm, nun ist er nach fast 40 Jahren frei. Rund 600 libanesische politische
Gefangene sollen noch in syrischen Gefängnissen sein.
„Syrien gehört uns allen! Die Sonne der Freiheit ist aufgegangen“, freut
sich auch Mohammad Shakerdy. Der 33-Jährige lebt in Atarib, einer
Kleinstadt bei Aleppo, und leitet dort ein ziviles Zentrum. „Mit dem Fall
des Regimes reden wir jetzt mit den Menschen, die hier sind, und versichern
ihnen, dass wir alle Syrer*innen sind. Wir leben alle in einem Land und
wir lassen uns nicht spalten.“
Shakerdy gehört zu denjenigen, die den Gedanken der Revolution verteidigt
haben, auch gegen Extremisten. Die Bevölkerung in Atarib ist immer wieder
gegen die Machthaber auf die Straße gegangen: gegen Assad und gegen
islamistische Milizen. Die Aktivist*innen haben an dem
gemeinschaftlichen Zusammenhalt in der Gesellschaft gearbeitet, trotz
Misstrauen und Furcht vor dem Assad-Regime und bewaffneter
Oppositionsgruppen. Zuerst rebellierten sie gegen das Assad-Regime, danach
gegen radikale Kämpfer des sogenannten IS, die sie mit Hilfe von Kämpfern
der Freien Syrischen Armee (FSA) aus der Stadt gejagt haben, und später
gegen Kämpfer der Al-Nusra-Front, die sich dann außerhalb der Stadt in ein
Quartier zurückgezogen hat. Die Menschen organisierten Proteste gegen
Extremismus. Auch gegen die HTS ging die Bevölkerung auf die Straße.
Das Zentrum bietet jungen Leuten eine Alternative zu Extremismus, nimmt
ihre Sorgen in Gesprächen auf, organisiert Debatten. Durch Kampagnen und
Kooperationen mit der Stadtverwaltung haben sie es geschafft, Waffen aus
der Stadt zu verbannen – und sich damit auch gegen HTS durchgesetzt.
„Wir haben uns mit der HTS arrangiert, solange sie uns ein Leben in Würde
ermöglicht“, sagt Shakerdy. Zuletzt hatten er und sein Team an der Kampagne
„Nein zur Marginalisierung von Atarib“ mitgearbeitet – gemeinsam mit der
Regierungsstruktur Syria Salvation Government (SSG) und der zuständigen
Behörde in der Region. Es ging darum, Dienstleistungen in der Stadt zu
verbessern, erklärt Shakerdy. „Die Treffen waren gut und sie hatten uns
versichert, dass sie die Dienstleistungen verbessern würden.“
Dabei ging es vor allem um die Arbeit des Grundbuchamts, um die Ausbildung
von Lehrkräften und dass Baugenehmigungen wieder erteilt werden – das wurde
nämlich ausgesetzt. Außerdem drängte das zivile Zentrum darauf, dass ein
Postzentrum in der Stadt eröffnet wird. „Natürlich gab es zu Beginn der
Kampagne Verzögerungen bei der Umsetzung, wir haben das vor anderthalb
Jahren schon angeleitet. Aber man hat sich mit uns getroffen und uns
Zusicherungen vom Regierungschef und seinen Verwaltungsangestellten
gegeben.“
Der Umgang mit Problemen und die Offenheit für gesellschaftliche Fragen
habe sich nach den jüngsten Protesten gegen al-Jolani in Idlib verbessert,
sagt Shakerdy. Mit der Vorbereitung der Rebellenoffensive seien weitere
geplante Verbesserungen zurückgestellt worden. „Die politische Lage ist
nach wie vor unklar, das Regime wurde ja gerade erst gestürzt. Jetzt geht
es vor allem darum, die Sicherheit zu erhöhen und die
Regierungsinstitutionen zu sichern, um das Leben der Zivilist*innen
wiederherzustellen und fortzusetzen.“
## Freudenfeiern und Plünderungen
In Damaskus mischen sich Freudenfeiern mit Angst vor Plünderungen. Lokale
Medien berichten von Freude und Chaos. Der sogenannte „Operations
Management Room“ der Rebellenoffensive kümmere sich um die Sicherheit und
habe Männer geschickt, die durch die Stadt patrouillieren und öffentliche
Einrichtungen schützen, berichtet das syrische Alternativmedium
Aljumhuriya. Ahmed Dalati sagte gegenüber dem Online-Magazin, die Kräfte
hätten die Zentralbank und deren Mitarbeitende vor Plünderungen geschützt.
Aus Damaskus kamen am Sonntag Bilder von Menschen, die sich in Assads
Präsidentenpalast umschauen, darunter auch im Fuhrpark mit teuren Autos.
Assad selbst ist nach Russland geflohen – und bekommt dort aus „humanitären
Gründen“ Asyl, meldet der Kreml.
Am Montag trafen sich [2][HTS-Führer Jolani], der SSG-Chef Mohammed
al-Bashir und der scheidende Ex-Premierminister des Assad-Regimes, Mohammed
al-Jalali, in Damaskus. Die Abteilung für Militäroperationen der HTS
veröffentlichte danach die Nachricht, dass SSG-Chef al-Bashir zum
Übergangspremierminister Syriens ernannt werden soll. Er wurde beauftragt,
eine neue Regierung zu bilden, die das Land regieren soll – wer daran
beteiligt sein wird, ist unklar. Es sei nun ein langer Weg für
Bürgerrechte, Würde und Gerechtigkeit, sagt Shakerdy. Eine
Übergangsregierung sehe er positiv, sagt er. Letztendlich brauche es die
Vertretung aller Parteien und Gruppierungen im Parlament gemäß einer
Verfassung, die die Rechte aller Menschen bewahre.
Ob die politischen Strukturen und die Machtübernahme der HTS eine
Übergangslösung bleiben, werde davon abhängen, ob sie den Interessen der
Menschen dienten und nicht einer neuen Machtelite, sagt Shakerdy. Die
Zivilgesellschaft stünde bereit, um gegen jeglichen Machtmissbrauch zu
protestieren.
9 Dec 2024
## LINKS
[1] /Machtwechsel-in-Syrien/!6051434
[2] /Syriens-Rebellenchef-Mohamed-al-Jolani/!6055162
## AUTOREN
Julia Neumann
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