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# taz.de -- Umsturz in Syrien: Zwölf Jahre Starre – und dann plötzlich Leben
> Der Sturz des Assad-Regimes symbolisert für viele Syrer:innen einen
> Wendepunkt. Der deutsch-syrische Doktorand Mounir Zahran erinnert sich an
> Zeiten der Unterdrückung.
Bild: Bashar al-Assad überall: Aleppo Ende 2020
Berlin taz | Meine Freunde und ich wollten Syrien vergessen, um überhaupt
wieder leben zu können, um uns auf unsere eigene Zukunft außerhalb Syriens
konzentrieren zu können. „Ich denke, es wäre das Beste für dich, wenn du
die nächsten zehn oder zwanzig Jahre nicht mehr an Syrien denkst“, sagte
ein Freund erst neulich zu mir. Ich hatte in dem Moment das Gefühl, dass er
dies mehr sich selbst sagte als mir. [1][Ich habe zwölf Jahre darauf
verwendet, zu jenem Punkt zu gelangen, an dem ich endlich loslassen kann].
Ich hatte keine Wahl: Als Syrer wurde man durch den Bürgerkrieg in eine
aussichtslose Starre gezwungen. Nichts deutete auf eine positive Wende hin,
nichts darauf, dass sich doch einmal etwas bewegen könnte. Der Status Quo
war wie in Stein gemeißelt. Es blieb einem nur, sich einzugestehen, dass
das Aufgeben vielleicht gesünder ist.
Ich bin in Deutschland als Sohn syrischer Eltern geboren. Mein Vater kam
einst zum Medizinstudium hierher, später, bei einem Besuch in der Heimat,
lernte er meine Mutter kennen. 2004 als ich zehn war, kehrten wir auf ihren
Wunsch nach Aleppo zurück. Sie hatte sich in Deutschland nie heimisch
fühlen können. Was mich in Syrien erwartete, wirkte auf mich wie eine
andere Welt: Assads Omnipräsenz. Porträts in jedem Klassenraum, Statuen an
jeder Straßenecke, Propagandaplakate, die man irgendwann nicht mehr
hinterfragte, weil sie einem täglich aufgedrängt wurden, bis man sich ihrem
Sog nicht mehr entziehen konnte.
Ein Fußballspiel, an das ich mich bis heute erinnere, macht dieses komische
politische Klima Außenstehenden vielleicht greifbar: Unser Stadtverein in
Aleppo spielte gegen einen Verein aus Saudi-Arabien, als plötzlich, mitten
im Spiel, das Bild des Präsidenten auf der Stadionleinwand aufblitzte,
lächelnd, die Hand gönnerhaft Richtung Menge gestreckt. Zehntausende
sprangen von den Sitzen und bejubelten nicht mehr ihr Team, sondern den
Diktator. Freunde, Bekannte, jeder klatsche euphorisch. Ich aber blieb
sitzen.
[2][Als Neuling in diesem System empfand ich diesen Zwang, diese Anbetung
als demütigend]. Mein Freund rief: „Steh auf! Das ist der Präsident!“ Doch
anstatt mich zu erklären, habe ich einfach nichts gesagt, ich traute mich
nicht, meine Gedanken laut zu äußern Ich saß einfach da, wie gelähmt, mit
diesem seltsamen Gefühl, gemischt aus Abscheu und Angst.
## Der Zwang fühlte sich demütigend an
Das ist nun rund 15 Jahre her, und erst im Rückblick begreife ich, wie
effektiv und vor allem perfide dieses Regime Angst und Propaganda verknüpft
hat. Ich bin sicher, viele der Jubelnden hatten in anderen Momenten genauso
gezögert wie ich, waren bestimmt sitzen geblieben, hatten auch gezweifelt.
Aber irgendwann wird die Furcht um das eigene Leben größer als die Scham,
sich selbst zu verleugnen. Und irgendwann wird diese Selbstleugnung zum
Normalzustand, man gewöhnt sich und man weiß nicht mehr, wer man war, bevor
man sich diesem Regime beugte.
Für viele Syrer öffnete der Arabische Frühling 2011 endlich eine Tür aus
der Selbstverleugnung. Ich weiß noch genau, wie wir gebannt vor dem
Fernseher saßen, als in Ägypten die Proteste anfingen. Wir wussten: Stürzt
Mubarak, dann wird der Funke auf Syrien überspringen. Die Freude über den
dann tatsächlich erfolgten Sturz Mubaraks verknüpften wir unmittelbar mit
der Hoffnung auf einen baldigen Umbruch in Syrien.
In dieser Euphorie schlichen meine damalige Freundin und ich uns im Schutz
der Nacht aus dem Haus, ohne dass unsere Eltern es mitbekamen, und
besprühten eine Mauer in einem Park mit der Parole: „Verschwinde, Assad!“
Doch es kam anders: Statt Befreiung folgte ein dreizehn Jahre währender
Albtraum. Ein Land, das in Trümmern liegt, traumatisiert, zerrissen – und
ganz oben thronte immer noch Assad, der nackte Kaiser.
[3][Im Sommer 2012 verließ ich über den Flughafen Aleppo Syrien in Richtung
Deutschland], und ich konnte in dem Moment nicht ahnen, dass es mein
Abschied für 12 Jahre sein würde. Als vor gut einer Woche Rebellen an den
Grenzen zu Aleppo vorrückten, nahm die Mehrheit der Syrer dies kaum wahr.
Zu tief war die Überzeugung, dass der Status Quo unverrückbar ist, Assads
Schwäche hin oder her.
So zynisch es klingen mag, für die meisten war es einfach eine Offensive
von vielen gewesen. Dass ausgerechnet auf diese Offensive der größte
Umbruch der vergangenen fünfzig Jahre folgen könnte – seit dem Putsch der
Baath-Partei im November 1963 – hätte niemand zu träumen gewagt. Nun aber
hofften die Syrer wieder: Bitte, lasst es schnell gehen, nicht im
Schneckentempo! Nach dreizehn Jahren erlernten Wartens ist jede Verzögerung
unerträglich.
## Wir wollen Syrien nicht vergessen
Innerhalb einer einzigen Woche haben wir das Warten verlernt! Wir wollen
nicht mehr warten, wir wollen Syrien nicht vergessen und wir wollen auch
wieder leben. Wie treffend erscheint nun dieser Vers des tunesischen
Nationaldichters Abu al-Qasim asch-Schabbi, der während der Proteste des
Arabischen Frühlings 2011 überall tausendfach rezitiert wurde und danach
lange Zeit in Vergessenheit geriet: „Wenn das Volk zu leben trachtet, dann
wird sich das Schicksal mit ihm verbünden; die Nacht wird verschwinden.“
Bald werde ich erstmals seit zwölf Jahren nach Syrien zurückkehren können.
In diesen Tagen denke ich oft an meine Mutter, die 2012 nur zwei Monate
nach meiner eigenen Rückkehr gezwungen war, aus Sicherheitsgründen mit
meinen Geschwistern nach Deutschland zurückzukehren. Sie starb vor etwa
drei Jahren in der Diaspora und verbrachte ihre letzten Jahre in einer
unwiederbringlichen Vergangenheit. Auch wenn sie letztlich an einer
Krankheit verstarb, ist auch sie für mich ein Opfer des Assad-Regimes.
Natürlich gibt es auch Syrer, die dieser Offensive mit Unbehagen begegnen.
Sie fragen sich berechtigterweise: Was, wenn diese quälende Stabilität, so
schwer zu ertragen sie auch war, nun in blankes Chaos übergeht? Was, wenn
am Ende wieder eine Diktatur entsteht, diesmal in einem islamistischen
Gewand? Auch ich bin nicht frei von solchen Gedanken. Zu oft habe ich
erlebt, wie auf einen politischen Frühling ein endloser, bitterkalter
Winter folgte. Etwa nach dem Arabischen Frühling oder den Protesten im
Libanon 2019, die ich beide vor Ort erlebt habe.
Doch was nützt das Grübeln jetzt? Das Assad-Regime ist gestürzt, so
unwahrscheinlich es jahrelang schien. Ich glaube selbst nicht, was ich hier
schreibe, deshalb wiederhole ich diesen Satz nicht nur, weil er mir gut
tut, sondern auch, weil ich ihn zum ersten Mal frei in der Öffentlichkeit
sagen kann, ohne Angst haben zu müssen, dass meine Verwandten in Syrien für
meine politischen Äußerungen in Sippenhaft genommen werden könnten: Assad
ist gestürzt, der Tyrann ist mit seinen Schergen aus Damaskus geflohen! Was
für unglaubliche Zeiten wir gerade erleben!
## Die Lage ist heute eine andere als 2011
Und was wäre die Alternative gewesen? Weiterhin Assad? Also dieselben
Massengräber im Umland von Damaskus, Aleppo, Hama, Homs und Palmyra?
Dieselbe zerstörte Altstadt von Aleppo, die 600.000 Toten und unzähligen
Gefolterten, die Millionen Geflüchteten, das endlose Ausbluten einer einst
stolzen Gesellschaft. Kein Wiederaufbau, keine Souveränität, keine
Wirtschaft, stattdessen iranische, russische, türkische und libanesische
Milizen, Warlords und Drogenbarone. Was könnte schlimmer sein als Sednaya,
dieses Folterverlies mit seinen Industriekrematorien, in denen Menschen
ohne Spur verschwinden, als hätte es sie nie gegeben? Was könnte schlimmer
sein als die ständige Angst, mit einem falschen Wort, einer falschen Geste
ins Nichts gestoßen zu werden? Was könnte grausamer sein als dieses Regime
der Demütigung, des Verschwindens, der Furcht?
Ich betrachte mich als einen eher nüchternen, bisweilen sogar zynischen
Menschen. Nach all den Jahren, in denen ich versucht habe, Syrien aus
meinem Leben zu verbannen, stehe ich nun vor der Herausforderung, es
vorsichtig wieder anzunehmen. Zwar zögere ich, zu oft gab es
Enttäuschungen.
Doch die Lage ist heute eine andere als 2011. Damals stellten sich viele
meiner christlichen Freunde, aus verständlicher Sorge, hinter Assad. Heute
sind es genau diese Bekannten, die in den sozialen Netzwerken seinen Sturz
bejubeln – ebenso wie die kurdische, drusische und sogar alawitische
Gemeinschaft. Diese neu entstehende Einigkeit fehlte in Afghanistan,
Libyen, im Irak und auch im Syrien des Jahres 2011.
Und ich kann mich deshalb dem Sog dieser Bilder nur schwer entziehen:
Menschen, die Statuen der Assad-Familie vom Sockel reißen, die die
plötzliche Freiheit in vollen Zügen genießen. Sie erzeugen eine Euphorie,
die selbst meine Vorbehalte überlagert. Nach 50 Jahren Schreckensherrschaft
wird man so bald keinen neuen Despoten dulden. Ich bin mir sicher: Die Zeit
der Tyrannen in Syrien ist vorerst vorbei.
10 Dec 2024
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## AUTOREN
Mounir Zahran
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Schwerpunkt Syrien
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